124 Die gedankenlose Beschleunigung
Da geht frau oder man gemütlich nach
Arbeitsschluß, nachdem frau oder man vorschriftsmäßig Headset und
Computer mit dem Desinfektionstüchlein gereinigt hat, oder auch
nicht, und alle ihre oder seine Kugelschreiber, Bleistifte, Zettel,
Notizbücher und anderes nichtverbotenes Zeugs – private Sachen
sind am Arbeitsplatz nämlich verboten – eingesteckt und ihren oder
seinen Rucksack oder Tasche oder Sackerl oder ähnliches aus dem
Spind geholt und eventuell ihre oder seine Jacke oder Mantel vom
Kleiderbügel genommen und angezogen oder über den Arm gelegt oder
was immer hat, da geht nach all dem also frau oder man – wie schon
gesagt – gemütlich zum Ausgang des Großraumbüros - oder besser
gesagt des Callcenters, hat noch ein paar Meter dorthin und dann
steht so ein Idiot an der Tür und hält sie für die Nachkommenden
auf. Jetzt fühlt frau oder man sich genötigt, schneller zu gehen,
um den armen, überhöflichen Türaufhalter nicht zu lange warten zu
lassen und legt die paar Meter beschleunigt zurück, obwohl frau oder
man es nach der Arbeit langsam angehen wollte.
Heute war ich der Typ an der Tür. Nur um das klarzustellen.
Nachdem ich das Handy aufgedreht –
während der Arbeit muß es abgedreht sein; das steht groß an der
Tür – und die Toilette besucht habe, bin auch ich gemütlich die
Stiegen hinuntergegangen und in den Regen hinaus.
Das war gestern. Heute wiederum saß
Comuskra Dengli im Trockenen. Im Untergeschoß eines Einkaufszentrum
und aß billiges Schnitzel mit Erdapfelsalat. An der Wand steht, daß
es Schenkel-geschälten Spargel gibt. Wie geht das? Wie
schenkelgerollte Zigarren? Nur umgekehrt? Nicht ernst nehmen! Nur ein
Scherz mit einem Firmennamen.
Eine Stunde vorher ist er beim großen,
schlanken Mann gesessen, hat geatmet und hat festgestellt, daß er zu
dick ist. Ab jetzt wird er Asket. Das war sein Entschluß. Ab heute.
Er wird alle seine überflüssigen Kilos runterfasten und jeden
Bissen mindestens dreißigmal kauen, wenn es geht hundertmal. Er wird
alle seine schlechten Eigenschaften rausfasten. Nur Reis essen. Das
Gift wird es nur so raustreiben! „Ich werde die ganze Welt
niederfasten!“, denkt er. Jetzt sitzt er beim Kaffee. Er nimmt
einen Schluck. „Ab morgen ist der gestrichen!“ Sogar eine
Thermoskanne für den Kräutertee hat er sich gekauft. Der Kaffee tut
seine Wirkung und das Herz klopft.
In der Garage gegenüber hebt und senkt
ein Elkaweh seinen Arm und wird gleich wegfahren. Irgendwer klatscht.
Es tütet lästig und blinkt aufdringlich. Jetzt fährt er wirklich
weg und hinterläßt einen Geruch. Eine Frau mit weißen Haaren fährt
am Rad vorbei. Sie kann Chinesisch und ich habe sie vor
fünfunddreißig Jahren zum letzten Mal im Makrokosmos gesehen.
Der Mann mit der extrem schräg
aufgesetzten Baskenmütze kommt mir auch bekannt vor. Er hält sein
Rad am Lenker wie ein sanfter Cowboy sein Pferd am Zügel.
Auf jeder Straßenseite geht ein
Fotograf. Der eine dick, der andere normal. Der eine mit glatt
rasiertem Kopf, der andere mit Haaren. Ich glaube, sie wissen nichts
voneinander.
Jetzt kommt ein Elkaweh aus der Garage
mit einer vollen Mulde auf dem Rücken. Ein Mann schiebt sein Rad und
telefoniert, ein anderer geht ohne Rad und hält sein Handy vor sich.
Der betrachtet es konzentriert. Ein kleiner Elkaweh fährt verkehrt in
die Garage. Immer wieder stapfen tapfere Leute vorbei.
Eine zarte Dame schaut mißtrauisch aus
der Tür. Wieder surrt und scheppert es, als würde sich ein Elkaweh
beladen.
Auch ich trage zuviel Ballast am Bauch.
„Friede den Hütten, Krieg den Ballästen!“
Manche Passanten stapfen nicht, sondern
schleichen oder schieben sich vorwärts. Die meisten von rechts nach
links. Jetzt kommt eine männliche Viererbande in Leder mitten auf
der Straße von links nach rechts.
Camillo Zorres sagt. „Nein! Nein!
Nein! Fasten kommt nicht in Frage! Ich will essen, saufen, rauchen,
rülpsen, furzen ….. das volle Programm! Ne! Ne! Ne! Nichts da mit
Verzicht! 'Verzichten ist die schlimmste Art sich gehen zu lassen',“
zitiert er Don Juan. „Nein! Dann bin ich viel zu schwach für die
Welt! Voll in der Welt sein – das ja! Daß einem das Fett von Kinn
tropft und man es mit dem Handrücken abwischt, und die Weiber voll
Lust anschaut und dabei grinst. Und vor Vergnügen kichert und seine
Fülle wälzt. Wer mich sieht, weiß sofort, was los ist. Ich bin
sinnlich und korrupt. Ich bin zu jeder Schandtat bereit, inklusive
Fett und Zucker.“ Das sagt Camillo Zorres.
„Bäh!“, denkt Comuskra Dengli,
„ich will leicht wie eine Feder sein und trotzdem fest und drahtig.
Wie ein gespannter Bogen. Der Pfeil abschußbereit. Ich bin schnell,
beweglich und nicht zu fassen. Die Welt erwischt mich nicht; ich
entwische ihr, wann ich will. Ich lasse mich nur auf Sachen ein, die
ich will. Ich bin ganz schnell weg. Die Markwardstiege laufe ich in
einem durch, ohne zu schnaufen. Mit den lauten Geräuschen habe ich
es nicht so. Die schwerfällige Dame im leopardengemusterten Mantel
ekelt mich an. Wenn ich noch dünner sein werde, dann nicht einmal
das. Ich werde die ganze Welt und ihre Übergriffe wegfasten. Rein
werde ich sein. Unberührt wie eine Jungfrau und keusch.“
„He, he“, sagt Camillo Zorres, „du
redest nur und sagst das beim Kaffee. Du bist ein Schwindler. In
Wirklichkeit hast du Angst vorm Leben. Saure Trauben! Schau mich an,
ich bin super, ich...“
Ein mönchshaft frisierter und mürrisch
dreinschauender älterer Mann geht vorbei. Camillo Zorres hat
Ausschau nach schönen, prallen Weibern gehalten, aber keine gesehen.
Comuskra Dengli lächelt überlegen. Auch wenn er Sex macht ist er
keusch, so ätherisch ist er schon! Abgerechnet wird zum Schluß.
Ich selber sitze im Cafe und schaue dem
fünfundzwanzigsten Lastwagen zu. Und wieder surrt und scheppert es.
Und noch eine Maschine jault wie ein Zahnarztbohrer in Stimmlage
Bass, drüben, in der Garage. Jetzt hört man, daß geschaufelt wird.
Sehen kann ich es nicht.
„Excellence“ steht am Auto, gelb in
Rot auf Gelb. Passt gut zu der frankophonen Umgebung. Die zarte Frau
hält sich zwei Sekunden lang an der Stange an, dann zieht sie
kraftvoll und fährt die Markise aus.
Jetzt bin ich ratlos. Should I Stay Or
Should I Go? Wieder kommt ein Lastwagen und stellt sich her. Auf ihm
steht. „we go – austria“. Also zahlen und gehen wir.
Am Weg hat sich der Dreizehn A zweimal
leise von hinten angeschlichen, ganz knapp. Ich bin darauf aber nicht
eingestiegen. Ich bin ein Pilger, der geht. Schon wieder die Sirenen
der Rettung; mehrfach; das geht hier schon seit Tagen so.
Ich sitze bei meinen Lieblingsbäumen.
Es stinkt wie so oft nach Hundescheiße. Irgendwer räumt sie nicht
weg. Die unbekannten Sträucher blühen in Kolben. Eine Frau raucht
in der Haustür. Müde Männer ziehen an ihr vorbei. Kontaktlos und
ohne Achtung für sich und die Frau.
Ich sitze im Wind, der mich frisch
macht. Kalt ist er und unberechenbar. Heute benutzt die gelbe Macht keine Wächter. Orange Frauen kommen heraus. Die Tauben
mißverstehen mein Sitzen; sie glauben ich füttere sie. Ich schreibe
nur stumm meine Sätze und der Wind spielt mit dem Papier.
Der Mann aus Selzthal geht wieder
vorbei. Er hat mich angeschaut, vielleicht erinnert er sich. Ob er
heute noch schreibt? Früher hat er geschrieben. Ich rede ihn nicht
an.
Eine Frau in Rot schaut keck auf mein
Buch, in das ich die Sätze schreibe. Ist sie nur neugierig oder will
sie korrigieren? Eine Lehrerin in Pension?
Ich werde jetzt langsam aufstehen und
mich vor den Bäumen verbeugen und dann weitergehen.
Die eine Pflanze legt ihre Zweige und
Blätter wie feierlich schmückende Palmwedel an die Wand. Als käme
ein Großer vorbei, auf einem Pferd oder einem Esel; von mir aus im
Auto. Aber dann wird er zu schnell vorbeifahren und die Ehrung nicht
sehen. Und überhaupt hier im Callcenter! Bei der
Callcenteratmosphäre!
©Peter
Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]
<< Startseite