Donnerstag, 30. April 2015

124 Die gedankenlose Beschleunigung


Da geht frau oder man gemütlich nach Arbeitsschluß, nachdem frau oder man vorschriftsmäßig Headset und Computer mit dem Desinfektionstüchlein gereinigt hat, oder auch nicht, und alle ihre oder seine Kugelschreiber, Bleistifte, Zettel, Notizbücher und anderes nichtverbotenes Zeugs – private Sachen sind am Arbeitsplatz nämlich verboten – eingesteckt und ihren oder seinen Rucksack oder Tasche oder Sackerl oder ähnliches aus dem Spind geholt und eventuell ihre oder seine Jacke oder Mantel vom Kleiderbügel genommen und angezogen oder über den Arm gelegt oder was immer hat, da geht nach all dem also frau oder man – wie schon gesagt – gemütlich zum Ausgang des Großraumbüros - oder besser gesagt des Callcenters, hat noch ein paar Meter dorthin und dann steht so ein Idiot an der Tür und hält sie für die Nachkommenden auf. Jetzt fühlt frau oder man sich genötigt, schneller zu gehen, um den armen, überhöflichen Türaufhalter nicht zu lange warten zu lassen und legt die paar Meter beschleunigt zurück, obwohl frau oder man es nach der Arbeit langsam angehen wollte.
Heute war ich der Typ an der Tür. Nur um das klarzustellen.

Nachdem ich das Handy aufgedreht – während der Arbeit muß es abgedreht sein; das steht groß an der Tür – und die Toilette besucht habe, bin auch ich gemütlich die Stiegen hinuntergegangen und in den Regen hinaus.

Das war gestern. Heute wiederum saß Comuskra Dengli im Trockenen. Im Untergeschoß eines Einkaufszentrum und aß billiges Schnitzel mit Erdapfelsalat. An der Wand steht, daß es Schenkel-geschälten Spargel gibt. Wie geht das? Wie schenkelgerollte Zigarren? Nur umgekehrt? Nicht ernst nehmen! Nur ein Scherz mit einem Firmennamen.

Eine Stunde vorher ist er beim großen, schlanken Mann gesessen, hat geatmet und hat festgestellt, daß er zu dick ist. Ab jetzt wird er Asket. Das war sein Entschluß. Ab heute. Er wird alle seine überflüssigen Kilos runterfasten und jeden Bissen mindestens dreißigmal kauen, wenn es geht hundertmal. Er wird alle seine schlechten Eigenschaften rausfasten. Nur Reis essen. Das Gift wird es nur so raustreiben! „Ich werde die ganze Welt niederfasten!“, denkt er. Jetzt sitzt er beim Kaffee. Er nimmt einen Schluck. „Ab morgen ist der gestrichen!“ Sogar eine Thermoskanne für den Kräutertee hat er sich gekauft. Der Kaffee tut seine Wirkung und das Herz klopft.

In der Garage gegenüber hebt und senkt ein Elkaweh seinen Arm und wird gleich wegfahren. Irgendwer klatscht. Es tütet lästig und blinkt aufdringlich. Jetzt fährt er wirklich weg und hinterläßt einen Geruch. Eine Frau mit weißen Haaren fährt am Rad vorbei. Sie kann Chinesisch und ich habe sie vor fünfunddreißig Jahren zum letzten Mal im Makrokosmos gesehen.

Der Mann mit der extrem schräg aufgesetzten Baskenmütze kommt mir auch bekannt vor. Er hält sein Rad am Lenker wie ein sanfter Cowboy sein Pferd am Zügel.

Auf jeder Straßenseite geht ein Fotograf. Der eine dick, der andere normal. Der eine mit glatt rasiertem Kopf, der andere mit Haaren. Ich glaube, sie wissen nichts voneinander.

Jetzt kommt ein Elkaweh aus der Garage mit einer vollen Mulde auf dem Rücken. Ein Mann schiebt sein Rad und telefoniert, ein anderer geht ohne Rad und hält sein Handy vor sich. Der betrachtet es konzentriert. Ein kleiner Elkaweh fährt verkehrt in die Garage. Immer wieder stapfen tapfere Leute vorbei.

Eine zarte Dame schaut mißtrauisch aus der Tür. Wieder surrt und scheppert es, als würde sich ein Elkaweh beladen.

Auch ich trage zuviel Ballast am Bauch. „Friede den Hütten, Krieg den Ballästen!“
Manche Passanten stapfen nicht, sondern schleichen oder schieben sich vorwärts. Die meisten von rechts nach links. Jetzt kommt eine männliche Viererbande in Leder mitten auf der Straße von links nach rechts.

Camillo Zorres sagt. „Nein! Nein! Nein! Fasten kommt nicht in Frage! Ich will essen, saufen, rauchen, rülpsen, furzen ….. das volle Programm! Ne! Ne! Ne! Nichts da mit Verzicht! 'Verzichten ist die schlimmste Art sich gehen zu lassen',“ zitiert er Don Juan. „Nein! Dann bin ich viel zu schwach für die Welt! Voll in der Welt sein – das ja! Daß einem das Fett von Kinn tropft und man es mit dem Handrücken abwischt, und die Weiber voll Lust anschaut und dabei grinst. Und vor Vergnügen kichert und seine Fülle wälzt. Wer mich sieht, weiß sofort, was los ist. Ich bin sinnlich und korrupt. Ich bin zu jeder Schandtat bereit, inklusive Fett und Zucker.“ Das sagt Camillo Zorres.

„Bäh!“, denkt Comuskra Dengli, „ich will leicht wie eine Feder sein und trotzdem fest und drahtig. Wie ein gespannter Bogen. Der Pfeil abschußbereit. Ich bin schnell, beweglich und nicht zu fassen. Die Welt erwischt mich nicht; ich entwische ihr, wann ich will. Ich lasse mich nur auf Sachen ein, die ich will. Ich bin ganz schnell weg. Die Markwardstiege laufe ich in einem durch, ohne zu schnaufen. Mit den lauten Geräuschen habe ich es nicht so. Die schwerfällige Dame im leopardengemusterten Mantel ekelt mich an. Wenn ich noch dünner sein werde, dann nicht einmal das. Ich werde die ganze Welt und ihre Übergriffe wegfasten. Rein werde ich sein. Unberührt wie eine Jungfrau und keusch.“

„He, he“, sagt Camillo Zorres, „du redest nur und sagst das beim Kaffee. Du bist ein Schwindler. In Wirklichkeit hast du Angst vorm Leben. Saure Trauben! Schau mich an, ich bin super, ich...“

Ein mönchshaft frisierter und mürrisch dreinschauender älterer Mann geht vorbei. Camillo Zorres hat Ausschau nach schönen, prallen Weibern gehalten, aber keine gesehen. Comuskra Dengli lächelt überlegen. Auch wenn er Sex macht ist er keusch, so ätherisch ist er schon! Abgerechnet wird zum Schluß.

Ich selber sitze im Cafe und schaue dem fünfundzwanzigsten Lastwagen zu. Und wieder surrt und scheppert es. Und noch eine Maschine jault wie ein Zahnarztbohrer in Stimmlage Bass, drüben, in der Garage. Jetzt hört man, daß geschaufelt wird. Sehen kann ich es nicht.

„Excellence“ steht am Auto, gelb in Rot auf Gelb. Passt gut zu der frankophonen Umgebung. Die zarte Frau hält sich zwei Sekunden lang an der Stange an, dann zieht sie kraftvoll und fährt die Markise aus.
Jetzt bin ich ratlos. Should I Stay Or Should I Go? Wieder kommt ein Lastwagen und stellt sich her. Auf ihm steht. „we go – austria“. Also zahlen und gehen wir.

Am Weg hat sich der Dreizehn A zweimal leise von hinten angeschlichen, ganz knapp. Ich bin darauf aber nicht eingestiegen. Ich bin ein Pilger, der geht. Schon wieder die Sirenen der Rettung; mehrfach; das geht hier schon seit Tagen so.

Ich sitze bei meinen Lieblingsbäumen. Es stinkt wie so oft nach Hundescheiße. Irgendwer räumt sie nicht weg. Die unbekannten Sträucher blühen in Kolben. Eine Frau raucht in der Haustür. Müde Männer ziehen an ihr vorbei. Kontaktlos und ohne Achtung für sich und die Frau.
Ich sitze im Wind, der mich frisch macht. Kalt ist er und unberechenbar. Heute benutzt die gelbe Macht keine Wächter. Orange Frauen kommen heraus. Die Tauben mißverstehen mein Sitzen; sie glauben ich füttere sie. Ich schreibe nur stumm meine Sätze und der Wind spielt mit dem Papier.

Der Mann aus Selzthal geht wieder vorbei. Er hat mich angeschaut, vielleicht erinnert er sich. Ob er heute noch schreibt? Früher hat er geschrieben. Ich rede ihn nicht an.
Eine Frau in Rot schaut keck auf mein Buch, in das ich die Sätze schreibe. Ist sie nur neugierig oder will sie korrigieren? Eine Lehrerin in Pension?
 
Ich werde jetzt langsam aufstehen und mich vor den Bäumen verbeugen und dann weitergehen.

Die eine Pflanze legt ihre Zweige und Blätter wie feierlich schmückende Palmwedel an die Wand. Als käme ein Großer vorbei, auf einem Pferd oder einem Esel; von mir aus im Auto. Aber dann wird er zu schnell vorbeifahren und die Ehrung nicht sehen. Und überhaupt hier im Callcenter! Bei der Callcenteratmosphäre!





©Peter Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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