Samstag, 26. Dezember 2015

257 Tanzen

Jetzt – in diesem Moment – hasse ich mein scheues Dasein in meinem gebremsten Körper. Statt tanzen sitzen. Bedenken über Bedenken. Nichts fließt. Seufzen. Gefangen.

Was ich aus der Umgebung aufnehme ruft nach Tanzen. Es zuckt in mir, mich dem Tanz, der Feier des Lebens, hinzugeben. Aber mein Denken setzt ein und liefert jede Menge Bedenken. Die Musik ist die einer anderen Kultur – ich käme mir aufdringlich vor. Ich gehöre nicht dazu. So blöd ist dieser Einwand nicht! Schließlich kenne ich ja die zur Musik gehörenden Tänze nicht. Und alles wurscht ist es auch nicht. Aber die Bedenken kommen immer.
Was habe ich zu verlieren? Ein unrealistisches Selbstbild. Ich denke an das spanische Video und an König David. Es ist peinlich. Schon lange habe ich meine Seele nicht mehr so sehr im niederdressierten Körper gefangen empfunden. Oder umgekehrt, den Körper im niederdressierten Geist. Trauer und Wut.













©Peter Alois Rumpf    Dezember 2015     peteraloisrumpf@gmail.com


Mittwoch, 23. Dezember 2015

256 Nacht und Tag

Meine Traurigkeit ist ganz groß. Weiter komme ich nicht. Meine Sprache und selbst mein Denken verstummen. Es ist eine Art glückliche Trauer, denn alles ist so, wie es sein muß. Ich meine, auch das, was mich schmerzt, ist so wie es ist. Aber weiter komme ich nicht. Das macht nichts. Ein Gedicht fällt mir ein, aber ich zitiere es nicht. Ich erinnere mich nicht an den vollständigen Text, eigentlich nur an das Bild vom unverbrauchten Leben, das explodiert, und an das Gefühl.
Ich suche nichts. Ich erwarte nichts. Ich lausche nur so, weil mir nichts anderes einfällt. Alles ist voll von berstender Intensität, aber fühle ich sie nicht, ich ahne sie bloß. Ein klein wenig spüre ich sie doch.

Um mich herum ist alles stumm. Der stumme Wecker, der tickt. Das stumme Geräusch in den Ohren, das surrt und summt. Ein stummes, fernes, pulsierendes Raunen – das ist alles, was von der Stadt bleibt. Wenn ich meine Füße bewege, schaben sie stumm am Leintuch. Ja, den Atem kann ich noch hören, auch er sagt nichts, ist traurig. In meiner Brust der lastende Druck der Schwermut. Mein Blick schweift umher, aber nichts fällt ihm in seine Hoch- und Tiefschaubahn. Über alles muß ich lächeln. Ich weiß in etwa, wohin diese Traurigkeit führt, aber ich will ihr nicht nachgehen.


Von der unterirdischen Virgilkapelle über die unterirdische U-Bahn und die verschachtelten unterirdischen Gänge des Karlsplatzes hinauf an die Erdoberfläche, Richtung Süden. Die Sonne steht tief um Mittag und blendet mich. So angenehm fremd schaut die Welt selten aus; ein Windstoß vom Norden treibt Blätter, Papierl und Zigarrettenstummel hinter meinem Rücken hervor und läßt sie in der Sonne glitzern. Im Gehen denke ich: das ist schon beinahe meine kosmische Reise, nur Farben, Glitzern und Licht; gelber als im blaueren Traum; auch die Menschen, die nah vorbeigehen sind ganz fern, wie kosmische Phänomene, um die ich mich nicht kümmern brauche, sie gehen mich nichts an. Eine andere Kraft ist für sie zuständig. Der Windstoß im Rücken läßt mich kurz die Müdigkeit meines Körpers vergessen, das verführerische Gefühl der Erschöpfung, dem ich mich so gern hingeben will. Ich gehe und gehe als wäre es schon mein Marsch in die Unendlichkeit. Ein innerer Jubel, stille Freude kommt auf. Ich sage zur kosmischen Sonne danke, zum Wind, zur Erde über die ich hinweggleite, kurz, dann hält mich wieder die Schwerkraft.













©Peter Alois Rumpf    Dezember 2015     peteraloisrumpf@gmail.com

Samstag, 19. Dezember 2015

255 jämmerlich

Eine große, alte, ewige, bis heute andauernde Frustration kommt von unten herauf; wie Lava aus dem Erdinneren aus meinem Lebenskern, nicht wirklich eruptiv, eher in schwächlichen Ausbrüchen, mehr gereizt als kraftvoll, tröpferl- und bröckerlweise, aber in Wirklichkeit mächtig; wenn es wirklich losgeht könnte sie alles auslöschen, die ganze Oberfläche, die ganze Fassade zum Schmelzen bringen, die ganze Umgebung, die ganze Atmosphäre vergiften und zerstören.

Und was sagt sie? Du hast nicht dein Leben gelebt, sondern die Vorstellung anderer zu erfüllen versucht. Und tust es immer noch. Deine Schuld ist der Gehorsam. Dein „kritisches“ Denken und Sagen bringt dir nichts. Gar nichts.
Ein Jammer ist in mir, den ich nie werde zulassen können, weil er zu groß ist. Ich fühle mich so gelähmt. Wenn es ums Eigene geht bin ich wie gelähmt.
Ein Schiff, das vorm Stapellauf schon untergeht. Oder beim Stapellauf. Oder bald nach dem Stapellauf. Und ich als gelähmter Kapitän stehe da auf dem Schiff und schaue dem Zeitlupenuntergang zu. Gefühlte sechzig Jahre. Manchmal lächle ich verlegen, manchmal raunze ich herum, aber ich tue nichts. Ich habe mich damit abgefunden, daß das Schiff untergeht; ja, ich sehe es selber ein, so ein Schiff muß untergehen; es hat es nicht anders verdient. Wenn der Kapitän nicht führt und nichts tut, muß es untergehen – also wäre es vermessen, gegen das Untergehen anzuarbeiten. Der Kapitän lächelt, er weiß, das ist ein Zirkelschluß, aber es ist zu spät. Alles schon beschlossene Sache.

Der gelähmte Kapitän träumt von einer Fahrt hoch oben im Norden. Es wäre schön, könnte das Schiff dort oben in der Kälte, bei Nordlicht still dahingleiten, einfach auf seinen Untergang zu. Kein Ziel mehr, das es zu erreichen gilt, kein Publikum, niemand schimpft, kritisiert, benotet, lobt, bewertet, schaut zu, in „Einsamkeit und Freiheit“; nein, denkt der gelähmte Kapitän, in Einsamkeit und Gebundenheit; die Freiheit besteht nur darin, daß ich den Untergang akzeptiere.
Die Lähmung scheint abgefallen. Er geht auf seinem Schiff herum, schaut da hin, schaut dort hin; die See ist ungewöhnlich ruhig. Und es ist still. Sehr still und ruhig. Nur die Nordlichter jagen lautlos über den Himmel; den Himmel aus unzähligen Sternen, Galaxien, Welten und die Leere dazwischen, diese unglaublich Leere. Und der Kapitän …

Was soll man von so einem jämmerlichen Text halten? Ein Dokument wofür ist das? Wo ist da der Autor steckengeblieben?

Draußen ist ein grauer, milderer Wintertag, ein Grau, in dem herunten am Boden die Brauntöne dominieren. Ist es mir gelungen, mich so halbwegs passabel durch den Text zu manövrieren? Beziehungsweise durch das, was in den Text verwoben ist? Kann man das durchgehen lassen? Oder muß ich einen Lektor herbeirufen, der mir alles zusammenstreicht? (Eine Lektorin wäre mir allemal lieber, aber hier passt ein Lektor besser.)

Alles Psychologische – weg!
Alles Gejammere – weg!
Ich zitiere: „große, alte, ewige“ - Übertreibung – weg!
„die ganze ...“ Größenwahn – weg!
„deine Schuld der Gehorsam“ - detto hoch drei – weg!
„weil er zu groß ist“ - ha, ha, ha – weg!
„gelähmt, gelähmt, gelähmt, gelähmt, ...“ - Selbstmitleid – weg!
„Schiff“, Schifferl, schiffen, schief – weg!
„Kapitän“ - Selbststilisierung – weg! - na gut, lassen wir es doch; eine gewisse absurde Spannung zwischen „Kapitän“ und „gelähmt“ - von mir aus.

Die nördliche Reise – was mache ich mit der? Lieber Freund, du würdest dich doch anbrunzen und anscheißen, wenn du allein auf einem manovrierunfähigen Schiff im arktischen Meer – selbst bei ruhiger See - …, also von „da hin schauen“, „dort hin schauen“ kann keine Rede sein – weg!
„Einsamkeit und Freiheit“ - au weh! - weg!
Da hilft die auch deine scheinheilige Korrektur „Gebundenheit“ nichts mehr – weg! weg! weg! (Wie ich das hasse, wenn mir der Computer gegen meinen Willen die Groß/Kleinschreibung ändert – was weiß den der Trottel was ich will. Diese Programmierer gehören ausgepeitscht!)

„Der Text ist nicht zu retten!“ - weg!
Ach so, nein. Also: der Text ist nicht zu retten! Rufzeichen!
„Himmel, Stern und Leere“ - klingt wie Himmel, Arsch und Zwirn – weg! Zu primitiv – weg! weg!weg!
„die Nordlichter jagen“ - wen? - weg!
„und der Kapitän“ Punkti, Punkti, Punkti – Strichi, Strichi, Strichi – pseudo-poetisch – weg! weg! weg! Dreimal weg!
„Wo ist der Autor steckengeblieben?“ - gescheiterte Selbstironie – oh Gott! weg!
„halbwegs“ - schon viel zu oft in meinen Texten – weg!
„in den Text verwoben“ - Angeberei, die einen tiefsinnigen Subtext suggeriert, der nicht da ist; angeben mit Wissen (Text – Textilien): platt! flach! weg!

Nochmals von vorn:
„Frustration“ - intellektueller Begriff, hier inhaltsleer – weg!
„tröpferl- und bröckerlweise“ - Heimatkitsch, aber weil Autriazismus – wegen meiner kindischen Anti-Anschluß-Attitüde schaffe ich es nicht, das wegzustreichen.
„schaff' es nicht“ - Ausrede – weg! weg!
„in Wirklichkeit mächtig“ - Selbstüberschätzung – weg!
„zu erfüllen versucht“ - verlogene Selbstdarstellung – weg!
„und tust es noch“ - furchtbar! - weg!
„ich fühle mich wie ...“ brrr! - weg! (Gruß an Bruntomeff.)
Das da auch gleich weg – weg! Hat in einem literarischen Text nichts verloren.
„lächelte ich“ - unglaubwürdig – weg!
„ich sehe ein“ - weg! Du siehst weder etwas, noch ein; höchstens schaust du ein – weg! weg! weg!! - umgangssprachlich, außerhalb Österreichs unverständlich – weg! weg!
„nichts anderes verdient“ - weg!weg!weg!weg!weg!
Sinnlose, pseudo-dramatische Wiederholungen – weg!
„Zirkelschluß“ - Scheißwort, pseudo-philosophische Angeberei – weg!
„zu spät“ - ja, tatsächlich alles zu spät – weg!
„träumt“ - genug davon – weg!
„hoch oben im Norden“ - unreflektierte Floskel – weg!
„die See“ - du bist kein Matrose, schon gar kein Kapitän – weg!: das Meer.
„Und“ als Satzbeginn - weg!
„jämmerlich“ - jämmerliche, intellektuell-kritische Selbstkritik – weg! Es hilft dir nichts, den Text selber jämmerlich zu nennen. Jammerlappen bleibt Jammerlappen, auch wenn er sich selber Jammerlappen nennt; ganz schlimm! weg! weg! weg!
Das zu veröffentlichen – weg!
„kein Ziel mehr“ - richtig! - weg! weg! weg!
„Brauntöne dominieren“ - viel zu intellektuell und verlogen – Pseudoanspielung – weg! Also: da deutest du etwas an – Brauntöne, Bodennähe – das du nicht meinst; legst somit eine falsche Fährte, die die flache Metapher (auch zu aufgeblasen! - weg!) aufmöbeln soll! - weg!
„aufmöbeln“ - umgangssprachlich, noch dazu aus dem vorigen Jahrhundert – weg!
Sei nicht so streng! - „weg!“ - weg!
Pseudogag – weg!
Kaffeeangetriebenes Geschreibe – weg!

„einen Lektor herbeirufen“ - du glaubst, du bist schlau – weg!

Was für ein schöner Nebel draußen („draußen“ - viel zu oft schon verwendet – we...). Und auch wenn das schon oft beschrieben wurde: die kahlen, dunklen Bäume, die in den grauen, feinen, bergenden Nebel ragen; mit der Entfernung werden sie selber immer mehr verschluckt; geschichtslos gegenwärtig in der grauen schönen Präsenz.














©Peter Alois Rumpf    Dezember 2015     peteraloisrumpf@gmail.com


Freitag, 18. Dezember 2015

254 Virgilkapelle

Wir tragen ja alle einen Horizont an Gedanken, Theorien, Vermutungen, Werturteilen, Glaubenssätzen etcetera mit uns herum - oft mit starken Gefühlen verbunden, jene stammen genauso aus frühkindlichen Prägungen wie aus später übernommenen Vorstellungen, ob von Eltern, im Kindergarten, Schulen oder ob sie aus Büchern kommen, oder Sätze sind, die wir von einprägsamen Personen gehört haben oder im Radio oder in unseren Peergroups und so weiter - aus diesem Reservoir schöpfen wir die Elemente, die wir zu unserem ständigen inneren Monolog verspinnen, mit dem wir dann das, was wir erleben, deuten und bewerten. Wichtig ist, daß erst hinter dieser kulturell und sprachlich bestimmten Wirklichkeitswahrnehmung die eigentliche, befreite Wahrnehmung beginnt, an der wir alle Anteil haben und die als angeborenes Potential in uns bereit liegt, um genutzt zu werden. Die Seher bei Castaneda nennen dies das „Wissen ohne Worte“ - das ist das Wissen, das aus unmittelbarer Wahrnehmung von Energie beziehungsweise energetischer Fakten resultiert.

Ich habe mehrere geistige Schulen durchlaufen; christliches Denken gehört genauso dazu wie positivistische, marxistische, psychologisch-freudianische und postfreudianische Durchgangsstadien; eine ordentliche Portion Existentialismus – mehr im Sinne eines Lebensgefühls, als im Sinn einer akademisch-philosophischen Richtung gehört auch dazu; wohl mehr über Literatur und Kunst vermittelt, als über die akademische Ausbildung. Irgendwo geistert auch ein kleiner Darwinist herum, vermutlich sehr früh, noch vorm Christentum in meinen Horizont geraten. Viel später und sehr wenig im Umfang, aber sehr prägend auch die Wissenssoziologie von Berger/Luckmann; sehr massiv die Münchner Rhythmenlehre von Wolfgang Döbereiner mit ihrer strikten anti-esoterischen Haltung und die Lehren des Nagual Don Juan Matus, wie sie Carlos Castaneda überliefert hat. Das alles gehört mehr oder weniger zu meinem kulturellen Gepäck, egal, ob ich mich gründlich mit den Quellen beschäftigt habe oder nur indirekt damit konfrontiert war, durch Ausbildung und Zeitgeist, und egal, ob und wieweit ich das überhaupt richtig verstanden habe oder mir aus irgendwelchen Versatzstücken mein eigenes Süppchen gekocht habe. Dies alles in seiner ganzen Widersprüchlichkeit hat mein Denken und meine Weltsicht geprägt und prägt es immer noch mit wechselnden Prioritäten. So gehöre ich fast überall und nirgends dazu.

Am stärksten hat mein Denken wohl meine Castaneda-Lektüre beeinflußt. Mich hat sehr schnell die Nüchternheit, das strenge Denken, die Vorurteilslosigkeit, die Unkorrumpiertheit – ach, besser einfach die Lauterkeit dieser Seher fasziniert, respektlos gegen alle Ideologisierung und Überhöhung und Anbetung von Denkgebäuden, Seher, die aber gleichzeitig die wunderbarsten und unbeschreiblichsten Taten vollbringen und ihre Wahrnehmung ins Unvorstellbare erweitert haben.
Dabei ist egal, was ich davon richtig verstanden habe und was nicht, wieweit ich damit gekommen bin oder auch nicht – es ist ein wichtiger Teil meines Denkens und meiner Weltsicht geworden, auch wenn es bei den Sehern selbst in erster Linie nicht um Denksysteme geht.

Alle diese Denksysteme haben in mir ihre Spuren hinterlassen und melden sich auch immer wieder zu Wort. Aber auch was die anwesenden inneren Sprecher betrifft, geht es nicht nur um Denkmodelle, sondern auch um emotionale Cluster, emotional gefärbte Figuren, die auch ihren Senf dazugeben. Das sind natürlich die internalisierten Sprecher vornehmlich meiner Kindheit, öfters mit den verschiedenen Denkmustern vermischt. Soweit so klar.

Wenn ich zum Beispiel in einem Buch lese, daß in der Virgilkapelle am Stephansplatz in Wien einer der stärksten Kraftplätze sein soll, so schaut das für mich so aus: Ich habe keine Zweifel, daß es Kraftplätze gibt, also Plätze besonderer Energieströmungen oder Energiezusammenflüsse, die den dort Verweilenden einen Energieschub verpassen können, indem die Energieströme direkt auf die Energiekörper einwirken. Andererseits muß nicht jeder, der von solchen Sachen redet, sich auch wirklich auskennen. Oder er spürt die Energie am Ort tatsächlich, aber zieht falsche oder voreilige Schlüsse daraus oder peppt damit irgendeine private oder kollektive Ideologie auf. Und wenn ich lese, „einer der stärksten Energieplätze der Welt“, dann werde ich mißtrauisch, denn das klingt für mich nach „Überhöhung“ - ich meine, wer kennt schon alle Kraftorte der Welt und hat sie alle bereist und überprüft? Aber ausschließen werde ich es auch nicht, denn was weiß ich schon, was es zwischen Himmel und Erde alles gibt, und mein Mißtrauen war oft kein guter Ratgeber. Also werde ich hingehen.

Ich bin hingegangen und habe mich hingestellt um zu schauen, ob mir irgendetwas auffällt, ob ich irgendetwas merke. Natürlich, da hat man seine Sinne offen und geschärft und ist aufnahmebereit, was bereits mit einer bestimmten vagen oder genaueren Erwartungshaltung zusammenhängt. Ich halte mich in solchen Sachen für nicht sensitiv. Wenn ich hingehe, brauche ich aber trotzdem nichts glauben, ich denke mir, kann sein, das da was ist, oder auch nicht. Wobei ich schon annehme, daß alte Kultstätten an Kraftplätzen errichtet wurden.

Also heute gehe ich hinunter in die Kapelle, bewundere und genieße den Raum; ich mag diese schlichte Wandmalerei, die einfach aus roten Linien besteht; von der aber nur mehr Reste da sind, an viele Stellen ist der Verputz nicht mehr erhalten. Ich stelle mich dort hin, wo ich glaube mich zu erinnern, daß das der stärkste Platz sein soll. Nebenbei gesagt – ich denke, daß es durchaus typisch für mich ist, daß ich vergessen habe, vorher nochmals genau nachzulesen.

Ich stelle mich an diese Ecke, aber es zieht mich in die linke Nische. Ich spüre, ich will da hinein. Ich starre gegen die alte, schrundige Mauer und fühle mich sofort überwältigt; ich glaube, in eine Tiefe zu blicken und glaube, in der Luft flimmernde Vibrationen wahrzunehmen. Aber nur kurz, dann gewinnt meine Skepsis die Oberhand. Man kann ja auch am Klo sitzen und auf die Muster der Fliesen am Boden starren und plötzlich in eine Tiefe gaffen. Das bestätigt und das widerlegt nichts. Die Tätigkeit meines Denkapparats läßt die Empfindungen sich mehr und mehr verflüchtigen. (Das andere Bewußtsein ist sehr scheu, wie ein wildes Tier.) So gehe ich ein wenig herum, probiere verschiedene Stellen aus, schaue mir die anderen Besucher an und vermute gleich, daß auch andere hier nicht bloß einen historischen Bau, sondern einen Kraftort suchen, denn einige stehen still und halten ihre Augen geschlossen. Besonders ein Mann und zwei Frauen fallen mir auf, die auch zusammen zu gehören scheinen. Ich gehe hierhin, ich gehe dorthin – ich kann jetzt nicht mehr sagen, daß ich etwas besonderes bemerke. Auch die drei gehen herum, stellen sich in verschiedene Nischen und so weiter. Dann sehe ich, wie die jüngere der Frauen versucht, etwas in die Zisterne zu träufeln, ich denke an so etwas wie Öl, aber der kleine Behälter scheint leer zu sein. Sie geht wieder weg, kommt wieder zur Zisterne. Ich stehe wieder in „meiner“ Nische, stehe ganz ruhig da, versuche in die innere Stille zu kommen und die Schwingungen zu spüren, wie ich sie bei manchen Tensegrityübungen spüre. Da kommt sie auf mich zu und spricht mich an. Die zweite Frau gesellt sich auch dazu und zeigt mir auf ihrem Audioguide, der offensichtlich auch optisch arbeitet, ein Photo eines nur mehr in ganz kleinen Resten erhaltenen Bildes eines Gesichtes – eigentlich ist nur mehr ein Auge deutlich zu erkennen - und fragt mich, ob ich das Gesicht schon gefunden habe. Da ich heute keinen Audioguide nehmen wollte, wußte ich gar nichts von einem Gesicht und habe es deshalb auch gar nicht gesucht. Das will ich gerade der Dame sagen, als ich es finde - ich stehe unmittelbar davor. Meine Antwort fällt dann so aus: „Nein, ich habe es nicht gefunden - Da ist es!“ und zeige hin. Die Frau scheint verblüfft zu sein, ich grinse innerlich, und die andere Frau sagt: „Gell, du spürst es auch“. Wir wechseln ein paar Worte, ich bin freundlich, innerlich werde ich spröder – ich denke, sie könnten mir magische oder geomantische Fähigkeiten zusprechen und das macht mich unsicher, obwohl ich mir geschmeichelt vorkomme und ich in echt nichts mehr ersehne als das – nämlich solche Energieströme wahrzunehmen. Ich sage zunächst, daß ich nichts spüre, aber so, mit meinem Grinsen, daß die Damen denken können, der tut nur so, er will es bloß nicht zugeben. Bereits völlig vergessen hatte ich meinen ersten Eindruck beim Betreten der Nische. Ich grinse weiter und sage dann, - aus etwas wie Übereinstimmungszwang? - „ja, ich spüre schon etwas“ und komme mir dabei wie ein ziemlicher Schwindler vor. Im Ernst: ich weiß nicht, welche innere Stimme mir das eingesagt hat: der Teil, der diese Vibrationen wahrgenommen haben will oder wahrgenommen hat, oder der Teil, der dieses Gespräch einfach mitspielen will.
Nun, wir wechseln die Plätze und jeder geht wieder separat herum. Dann kommen die Damen wieder zur Zisterne und die Jüngere träufelt jetzt ihr Öl hinein. Darauf kommt sie zu mir und fragt mich, ob ich Rosenöl haben will. Verlegen stottere ich herum, sage ja und frage wohin man das geben kann. Auf die Hand vielleicht, ich halte ihr die rechte Hand hin – wahrscheinlich aus Gewohnheit, weil man die rechte Hand gibt; der Impuls die linke Hand zu nehmen kommt etwas zu spät. Sie träufelt mir Rosenöl auf meine rechte innere Handfläche, ich bedanke mich artig und versuche gleich, etwas davon auf die linke Handfläche zu verteilen.
Ich reibe mir das Öl mit den Daumen in die Handflächen, lächle, aber stehe wieder still und versuche mein Fühlen wieder fortzusetzen. Dann kommt sie wieder auf mich zu, verabschiedet sich, gibt mir die Hand und wünscht mir schöne Weihnachten. Ich ihr auch und alles Gute.

Dann gehen sie weg. Ich bleibe noch ein bißchen, dann gehe auch ich weg.

Der Skeptiker und Spötter in mir sagt: „Was bist du für ein Schaf! Du läßt alles mit dir machen! Die kann dich bei der Hand nehmen und irgendwo hinführen, du gehst brav mit, und wenn sie dich in die Hölle führt.“ Der „Psychologe sagt: „Wie wahr! Du hast kein Selbstgefühl, keine Identität und keine Abwehr. Du kannst nicht nein sagen. Das ist ein schwerer psychischer Defekt!“ Der innere Darwinist meldet sich bei diesere Geschichte nicht zu Wort, aber er würde sagen: "Nicht lebenswert!" „Also besser raushalten“, sagt das gedemütigte „Ich“, „du kannst das nicht durchstehen.“ Der Ängstliche meckert herum, daß ich ja nicht wissen kann, was das wirklich für ein Zeug ist; vielleicht giftig oder bloß sehr billig und allergienauslösend. Und überhaupt – vielleicht sind die von einer esoterischen Sekte, unterwegs auf Seelenfang, die in dir ein geeignetes Opfer für ihre hypnotischen Manöver gefunden haben. Was der innere Freudianer denkt, brauch ich nicht herschreiben, denn das weiß heute jeder. (Obwohl ich behaupte, Freud geistig überwunden zu haben.) Der Rationalist in mir behauptet, ich versuche irgendetwas Zufälliges mit einer herbeisuggerierten Bedeutung aufzuladen. Auch er kann recht haben. Oder unrecht. Der existentialistisch angehauchte Resignierer in mir sagt: „du brauchst nicht mehr erwarten, daß in deinem Leben irgendetwas noch zu irgendetwas führt. Du brauchst nur mehr auf den Tod warten.“ Der innere Komiker glaubt dem Vorredner kein Wort seines coolen, abgeklärten Getues und grinst nur, hebt und senkt die Augenbrauen und zwinkert. Der Kraftplatzgläubige ist sich nicht sicher – ist da was? Oder nicht? War das was? Oder nichts? Der Gehemmte erstarrt und stellt auf Abwehr. Der Einsame, der so gerne mit jemandem vorurteilsfrei über  Himmel, Auferstehung, Himmelfahrt und Erlösung etc. reden möchte,  freut sich über dieses Gespräch, die Segenswünsche und den Händedruck. Und so weiter und so fort. Das geht dann mehrmals im Kreis.


Und jetzt liege ich im Bett, die Katze auf meiner Brust, versuche alles aufzuschreiben und rieche stark nach Rosenöl.

Und was war das jetzt wirklich? Keine Ahnung. Aber das macht nichts.












©Peter Alois Rumpf    Dezember 2015     peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 17. Dezember 2015

253 What The Hell

Um fünf Uhr früh übt jemand Handstand. Ich höre mehrmals die Füße auf dem Boden aufprallen. Das ergibt ein Geräusch wie dumpfes Klopfen. Die Bücher an der Wand verschmelzen unter meinem brillenverschwommenen Blick zu einer einzigen, bunten Paneelplatte. Meine Ohren singen wie nach einem lauten Popkonzert. Die Katze springt auf die geschlossene Durchreiche und hat mich dabei so erschreckt, daß mir mehrere Wellen von Schauder durch den Körper laufen. Warum so eine schreckhafte Kreatur? Jetzt kratzt die Katze am Holztürl, weil sie herein will. Auf der Suche nach Streicheleinheiten. (Um nicht zu sagen, „auf der Suche nach Liebe“.) Auf dem Weg ins Badezimmer geht sie mir nach und streicht um meine Füße. Wie ich zurückkomme, lasse ich die Zimmertür offen.

Das Surren ist ungewöhnlich intensiv und spitzer, schärfer als sonst. Dabei bin ich in meinem Inneren ganz wach. „Hellwach“ wollte ich schreiben, aber dann habe ich an „the hell“ gedacht. Und an einen Helfried, den ich vor dreiunddreißig Jahren als Frauenverführer beneidet habe. Wieder kippe ich nach links und verstumme schriftlich.

What the hell hat der depperte Helfried hier zu suchen! Er wird gestrichen. Zensur!
Bei diesen Erinnerungen muß ich innerlich lachen. Vor dreiunddreißig Jahren war ich dabei, wie er eine Frau angerufen hat, um sie zu einem Tete-a-Tete zu verführen. Ich meine, ich war gerade bei der Frau, als er sie angerufen hat. Sie war damals meine Geliebte und ich mußte  mitanhören, wie er sie anbaggerte – er konnte dabei auf gemeinsame Erlebnisse Bezug nehmen – und wie sie es kaum schaffte, nein zu sagen. Ich war eifersüchtig und neidisch und stumm. Das genügt zu dem Thema. Aus. Ende.

Wieder zurück zum Surren. Jetzt ist es leiser, stumpfer und „langsamer“. Es wird zunehmend von den Morgenalltagsgeräuschen übertönt. Der Tag erwacht und ich bleibe liegen. Was wie eine Niederlage klingt ist ein Vergnügen; ein Sieg der Muße über die Pflicht. Im Moment zumindest.

Jetzt habe ich wirklich Lust aufzustehen und mein Tagewerk zu beginnen.





















©Peter Alois Rumpf Dezember 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

252 Geil

Im Café: Kaffeeduft. Ich – ängstlich wie ich sein will – nehme ihn koffeinfrei. Obwohl ich den auch irgendwie spüre. Willkommen in der Welt der falschen Kaffees und unechten Traditionen. Egal, nicht so schlimm. Ob ich zeitunglesen werde? Noch nicht. Viele ältere Damen in meinem Alter sind hier. Die Jüngeren von ihnen bewegen sich manchmal richtig geil. Sie führen vor der Mehlspeis- und Tortenbudel regelrechte Bauchtänze auf. Sie drehen sich, schwingen die Hüften hin und her, greifen sich mit den Händen an ihre Hintern oder Schenkeln; beugen sich vor und richten sich auf; mit lüsternen Blicken schauen sie auf ihr Objekt der Begierde. Ist Fett und Zucker schon so schwer sündhaft, daß frau sich beim Tortenbestellen geil fühlen muß? Oder darf? Oder will? Oder bilde ich mir das etwa nur ein? Eine Projektion gar? Wer weiß.

Ich esse jetzt am süßen Nußzeugs weiter und neutralisiere es mit ein paar Schluck bitteren Kaffees. Bitte um ein wenig Geduld, bis ich weiterschreiben kann.

Drei junge deutsche Herren in Anzügen sind hereingekommen. Ein Baby höre ich auch. Ich denke, ich werde jetzt zeitunglesen. Der eine hält sich sein Smartphone mitten an die Stirn, als wäre er in  innigem Gebet oder tiefer Meditation versunken. Das dritte Auge aufladen, oder umgekehrt, die Wahrnehmungen des dritten Auges aufs Smartphone. Smrtphone. Aufhören mit den Wortspielen. Ich nehme die Zeitung, dann eine andere. Wie immer, wenn ich länger zeitunglese, wird mir ganz flau. („Flaue Sau“ hat einmal ein Bild von Hannes Priesch geheißen.) Die Zeitung interessiert mich nicht mehr. Zuerst glaube ich, es interessiert mich, was da steht, fange an zu lesen, aber dann wird es mir zu fad. Das sind nicht die Dinge, die mich wirklich beschäftigen. Ja schon, das eine oder andere interessiert mich vielleicht ein wenig. Kurz kann sogar ein Strohfeuer aufflammen. Oder im Sportteil. Selten lese ich einen Artikel zu Ende.

Draußen vor der Glastür ziehen vorweihnachtliche Karawanen vorbei. Mein Blick ist ein Tunnelblick, jedoch architektonisch bestimmt. Ein Vexierspiel aus Wohlfühlen und Unwohlfühlen. Es kippt hin und her. Das Unwohlfühlen wird immer länger. Ich hebe den Kopf um den letzten Schluck aus der Tasse in meinen Schlund zu leeren, da sehe ich, oben an der Wand hängt das Geweih eines jungen Elches. Wirklich ein Elch? Ich kann es nicht glauben. Gibt es so verwachsene Geweihe auch bei einheimischen Hirschen? Keine Ahnung.

Ich gehe lieber. Ich will rostiges Schokoladenwerkzeug kaufen. Einhundertvierzig durch Siebenundzwanzig ist Fünfkommairgendwas.















©Peter Alois Rumpf Dezember 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 16. Dezember 2015

251 Katzenklo

Es ist früher Morgen und noch finster. Ich rüste mich innerlich für den neuen Tag, an dem ich freihabe und viel erledigen werde müssen. Meine Seele ist allerdings noch in Albträumen gefangen. Träume von Gewalt und Rechtlosigkeit. Ich hatte große Angst um meine Töchter. Ich hatte mich geduckt und durchzulavieren versucht. Anscheinend ist nichts Gröberes passiert, aber ich habe ein speiübles Gefühl mich unterworfen zu haben. Mir graust vor mir selber. Dieser Ekel vor mir selber mischt sich mit den optimistischen Erwartungen an den Tag und was ich alles erledigen werde. Noch ist der Ekel stärker. Wie immer nach intensiven Träumen surrt es in meinem Kopf wie verrückt. Ich habe immer noch Angst. Ich hatte im Vorraum draußen das Katzenklo gemacht, das heißt gereinigt, um meine innere Waagschale mit Realität zu beladen; damit die Waagschale für diese Welt schwerer und gewichtiger wird als die für die Traumwelt. Viel hat es nicht geholfen. „Katzenklo, Katzenklo, ja das macht die KatzeN froh. Katzenklo, Katzenklo macht die KatzeN froh.“ (Helge Schneider; der Katzenplural ist von mir) – nein, das kommt gegen den Albtraum auch nicht an. Oder doch? Vielleicht ein paar Gramm mehr für die Realität. Das hätte sich der Helge Schneider sicher nicht träumen lassen, daß er und sein Katzenklo einmal für Realitätssinn stehen, als Gegengewicht zu Traumverlorenheit und Realitätsverlust! Wie halt das Leben so spielt.

Die Bangigkeit hat tatsächlich etwas abgenommen, beziehungsweise hat sich aus der ersten Reihe in die zweite zurückgezogen. Die Elemente der Seele können nicht rausgeworfen, sondern nur hin und her geschoben werden, vom Vordergrund in den Hintergrund zum Beispiel. Angst und Panik werden immer Inventar meiner Seele bleiben. Liebe Angst, liebe Panik! Würden Sie so nett sein und hier hinten Platz nehmen? Sie haben hier einen guten Ausblick aufs Geschehen, aber stehen selbst nicht im Rampenlicht. Hier haben Sie einen viel besseren Überblick als vorne an der Bühne, unmittelbar vorm Drama. Und Sie wissen ja, diese modernen Stücke – da kommt auf einmal so ein Schauspieler herunter und holt Sie auf die Bühne hinauf. Und macht seinen Spaß mit Ihnen. Oder stellen Sie sich vor, der auf der Bühne ist ein Kabarettist! Was dem alles einfallen könnte! – der deutet auf Sie und macht auf Ihre Kosten seine Witze. Nein, das wollen Sie nicht. Davor haben Sie doch Angst. Unser Personal wird Sie diskret und aufmerksam bedienen. Genießen Sie es, sich aus der ersten Reihe in den Hintergrund zurückgezogen zu haben, verschnaufen Sie, erholen Sie sich; hier können Sie sich vortrefflich entspannen! Hier sind Sie aus dem Schneider. Ja, atmen Sie gut durch! Das tut gut!

Jetzt geht ein Zittern durch meinen Körper, ein optimistisches Zittern, weltzugewandt und geduldig. Ich strecke mich und spüre meine Kraft. Aber ich warte noch. Nicht aus Angst und Unsicherheit, sondern um meine Kraft zu sammeln und zu fokussieren, in der Gewißheit, bald bereit zu sein.

Der Geruch von Kaffee gelangt durch die Ritzen und hat mich beinah verwirrt, weil er ein wenig zu stark ist. Aber nur beinah.
Ich habe schon soviel Schwung, daß ich kurz aufstehe und nachschaue – ja, es ist alles in Ordnung, wie ich es vermutet habe. Ein zärtliches Gefühl für die Welt draußen vor meinem Zimmer durchströmt mich. Ich lächle in die langsam munter werdende Stille. Aber ich warte noch. Wie gesagt, nicht aus Angst, sondern auf den richtigen Zeitpunkt. Noch einmal drehe ich das Licht ab und gebe mich der weichen Dunkelheit hin.

Lichtpunkte reihen sich an Lichtpunkte.










©Peter Alois Rumpf Dezember 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 15. Dezember 2015

250 Gold

Heute habe ich im Traum einem germanischen Gott ein Packerl Gold zugeworfen: ich weiß nicht, war es Thor, Odin oder Freyr, oder ein ganz anderer – ich kenne mich bei ihnen nicht so gut aus. Baldur ist es nicht, das weiß ich, und auch nicht der, der an einem Baum gehängt wird, der mit dem Schlapphut. Es war Nacht und neblig, ich stand in einem lichten, parkähnlichen Hain, wenig Bäume, kaum Gebüsch, viele freie Flächen und warf dem Gott das Gold so ein, zwei Meter vor seine Füße hin, schön in Plastik eingeschweißt, damit es nicht dreckig wird.

Es ist ein demütiges, aber wertvolles Geschenk, eine Opfergabe, von mir, einem unterdurchschnittlichen Erdenwandler an ihn, die Gottheit. Es war nicht so, daß ich jetzt besonders Angst vor ihm gehabt hätte, und die Absicht, mich mit ihm gut zu stellen mag vielleicht ein wenig mitgeschwungen sein, aber war nicht der Hauptgrund. Der wirkliche Grund war Verehrung; eine Gabe der Verehrung; hingeworfen, weil ich nicht näher an ihn herantreten wollte. Der Respekt vorm Gott war schon groß. Ich meine, wer, wenn er einem Gott begegnet, geht einfach auf ihn zu und sagt „Servus!“ oder „Hallo!“ und hebt vielleicht noch die Hand in einer legeren Geste? Übrigens, bei mir wäre es eher die linke Hand, denn ich bin Linkshänder. Also, so einen Abstand von zehn, fünfzehn Metern habe ich schon eingehalten, möglicherweise waren es nur acht und den Busch da gleich links vor mir kann ich, wenn es sein muß, als Deckung benutzen.

Also ich werfe dem Gott das Gold so ein, zwei Meter vor seine Füße hin, schön in Plastik eingeschweißt, damit es nicht dreckig wird, aber der merkt es nicht. Sicher, es ist dunkel und neblig, aber warum sieht er es nicht? Er als Gott! Der Gott trägt eine Rüstung mit Helm, wenn ich es mir richtig gemerkt habe, mit zwei Hörnern. Er bückt sich auch, aber das Packerl Gold nimmt er nicht. Will er es nicht nehmen? Oder sieht er es nicht? Ich bin wirklich irritiert. Ist es überhaupt ein Gott? Oder doch nur irgendein germanischer Kämpfer?

Jetzt träume ich die Szene noch einmal, aber das ist wichtig: ich werfe ihm nicht ein zweites Mal Gold zu, sondern ich erlebe die Szene nochmals; also Stopp! Retour! Und wieder Start! Aber diesmal ist es tatsächlich kein Gott, sondern ein germanischer Krieger; ich werfe ihm mein plastikverschweißtes Gold hin und jetzt bin ich der – ja, wie soll ich das sagen, ohne daß es zu blöd daherkommt? - ich bin also – verdammt, fällt mir das schwer, das hinzuschreiben! - also: ich bin jetzt der Gott und prüfe den Helden da. Ich werfe ihm das Packerl hin und der Trottel merkt es nicht. Er bückt sich, sieht es nicht; wie kann man nur so daneben sein? Da bekommt er ein wertvolles Geschenk von oben, einfach nur so vor die Füße geschmissen, braucht vorher keine großen Heldentaten vollbringen, braucht keine schweren Prüfungen bestehen oder jahrzehntelang suchend herumirren, nein, kommt nur einfach so durch den in der Nacht finsteren, aber eigentlich lichten Wald spaziert und – platsch! - ein Sackerl Gold vor seinen Füßen. Moment, Moment! Ein „Platsch“ habe ich eigentlich nicht gehört. Nein, da war kein Geräusch. Egal, jedenfalls landet das Gold – meinetwegen lautlos, aber deutlich vor seinen Füßen und der Dolm merkt es nicht! Wie kann man nur so unaufmerksam und gleichgültig sein! Bückt sich runter, grabbelt da am Boden herum, aber sieht das wertvolle Gold nicht. Wie kann man nur so in seinen Geschichten versunken sein, daß man ein solches Geschenk übersieht? Das hätte ich gleich merken können, wie er über die sanfte Bodenwelle gekommen ist, daß der wie ein Traumwandler unterwegs ist, schaut nur vor sich hin, ohne zu sehen. Oh Gott! So eine Verschwendung! (Also hier, an dieser Stelle, meine ich mich selbst nicht mit „Gott“. Das muß schon klar sein!)

Nun, an dieser Stelle bin ich aufgewacht. Ich hätte gerne gewußt, wie es weitergeht. Habe ich mir das Gold wieder zurückgeholt? Habe ich es liegen lassen, damit es irgendwann, vielleicht erst in Jahrhunderten, ein anderer oder eine andere findet? Es könnte ja sein, daß Frauen aufmerksamer sind. Eventuell.
Und wie geht mein Leben als Gott weiter? Ich meine, das war ja noch nichts, das bißerl Gold hinwerfen. Aber sonst? Wäre ich der Göttervater, mit einer Gattin oder mehreren? Oder überhaupt ein Weiberheld wie Zeus? Oder wie einer der schrecklichen wie, wie … wie heißen sie nur alle! Gut, schrecklich sind sie irgendwie ja alle, mehr oder weniger. Oder wäre ich ein Schönling wie Baldur? Ein Säufer wie Bacchus? Ein Künstler wie Apoll? Oder bloß einer der Halbgötter? Oder ein Gottessohn wie Orpheus, der trauernd und singend herumzieht? Oder gar wie der unheilbringende Loki (Ich habe inzwischen im Lexikon nachgeschaut.) Fragen über Fragen, auf die es keine Antworten gibt.












©Peter Alois Rumpf Dezember 2015 peteraloisrumpf@gmail.com


Montag, 14. Dezember 2015

249 Joch


In einem Kosmos aus Geräuschen, die mich umkreisen. Das Umkreisende kommt aber aus mir! Ein banges Herz. Soeben aus einem Albtraum erwacht ist es ängstlich, ratlos, verwirrt, erschrocken.
Ich fühle die Haut im Gesicht sehr angespannt, und das Surren, als wäre es von außen an meine Ohren installiert, wie bei einem Ochsen das Joch. Ein Joch aus Geräuschen, um mich lenken zu können. Wohin? In den Abgrund. Oder um mich davor zu bewahren? Würde ich ohne Joch auf den Abgrund zugehen? Ach, das weiß ich nicht. Vergiss es.
Das Geräusch eines Motorrades – ich glaube, es kam von innen. Ja sicher, von innen ist es in die Geräuschglocke um meinen Schädel aufgestiegen.

Unter meinem inneren Blick runden sich alle Formen. Jetzt löst sich ein großes Stück aus dem metallenen Fensterrahmen, unabsichtlich, nur weil ich mich angehalten habe. Ich erschrecke darüber und auch meine reale Hand zuckt zurück.

Das ist der Höhepunkt links. Aber von unten kommt ein alter, stumpf gewordener Schmerz. Ich habe keine Lust, auf ihn einzugehen. Eine kleine, unsichtbare Verbitterung schließt meinen Mund, der gar nicht offen war.

Irgendetwas luftiges arbeitet am äußeren Gehörgang herum. Zur Sache! Und wiederhole dich nicht!

So bin ich doch gar nicht! Um meine Hand schimmert kurz eine bläuliche Aura. Ich sehe eigenartige, dünne, zerbrechliche Holzsäulen, während meine Nase juckt. Ganz anders als sonst habe ich den Kugelschreiber in der Hand nicht mehr gespürt.










©Peter Alois Rumpf Dezember 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

248 Tiroler Traum


Mir träumte gestern, ich wäre in einer Tiroler Bezirkshauptstadt – welche ist offen – eingeladen, ein Jahr als Schriftsteller zu leben, auf Kost und Logis der Stadt oder privater Förderer. Ich sagte sofort zu, bekam eine schöne, kleine Wohnung zur Verfügung gestellt, räumte mein Zimmer in Wien, meine Kinder freuten sich, nun jedes ein eigenes Zimmer zu haben.

Ich war komplett frei in dem was ich schreibe; ich konnte bei allen Stadtereignissen dabei sein, aber ohne Auflagen. Einfach dort sein, leben, herumgehen, schreiben, herumschauen, schreiben, schlafen, essen, schreiben … Ich fühlte mich herrlich. Es ergab sich sogar, daß ich – weil man auch in Innsbruck auf mich aufmerksam wurde – eine Kolumne in der Tiroler Tageszeitung schreiben durfte, wenn mir etwas einfiel. Alles ganz frei. Alles geträumt.

Ich stürzte mich begeistert in die Arbeit, ging herum, redete mit Leuten oder schaute ihnen einfach zu, saß in Cafés, horchte den Menschen beim Reden zu. Notierte, schrieb, ging nach Hause, schrieb, machte meine Tensegrityübungen – dafür war in der Wohnung genug Platz – schrieb wieder. Was für ein herrliches Leben! Ich ging oft in die Gasthäuser essen, spazierte viel den Inn, oder welchen Fluß auch immer, entlang, machte Ausflüge in die Umgebung. Alles existentiell gesichert; ein Jahr lang brauchte ich mir keine Sorgen zu machen und nicht zu jobben. Alles geträumt. Wobei es im Traum Winter war. So wie jetzt. Eigentlich habe ich nicht ausführlich geträumt, wie ich herumgehe und schreibe, sondern hatte ein vages Bild vom Ort und der Situation dort und habe mir im Traum gedacht, daß ich es so machen werde. Und so habe ich mir das im Traum ausgemalt, auch, mich auf meinen literarischen Streifzügen mit manchen Leuten ein wenig näher anzufreunden und manchmal lange und intensive Gespräche zu führen und wie es mir gelang, die nötige Distanz zu wahren, um nicht hineingezogen zu werden, sondern Zuschauer, Beobachter, Betrachter zu bleiben.

Und ich werde schreiben und schreiben, dachte ich mir im Traum, jeden Tag ein akzeptables Pensum, dazwischen Phasen des reinen Schreibwahns, wo man alles andere vergißt, dann wieder ruhigere Phasen, mit viel kontemplativem Spazierengehen. Dann hatte ich die Idee – im Traum – Gedichte zu schreiben, und zwar stark ans Tirolerische angelehnt. Sehr gewagt! Ich werde mir markante Wörter und Redewendungen aufschreiben und bei Bedarf mit meinen Gesprächspartnern und Gesprächspartnerinnen besprechen und mich so an die mir fremde Sprache herantasten. In der Regel wird es dabei nicht um Hardcore-Dialekt, sondern um dialektal gefärbte Umgangssprache gehen. Alles im Traum ausgedacht. Meine Distanz zu dieser Sprache wird für meine Gedichte einen spannenden Verfremdungseffekt schaffen, der jedes Wort - wie in ein ungewohntes Licht getaucht - hervorheben wird, sowohl für mich als Schreiber, als auch für den Zuhörer, sei er autochthon oder nicht. Ein Effekt, den ich sehr vorsichtig und feinfühlig einsetzten werde, ohne Holzhammer und ohne demonstratives Getue. Wie gesagt, so habe ich mir das im Traum vorgestellt. Eine Spannung wird auch entstehen zwischen den archaischen Elementen des Dialekts und meiner üblicherweise verwendeten Sprache. Ja, sehr gewagt das Ganze, aber im Traum war ich sehr selbstsicher. Weil ich mir bloß gedacht habe, wie ich es machen werde, habe ich im Traum leider kein einziges Gedicht geschrieben. Wie ein solches Gedicht ausgeschaut hätte, würde mich sehr interessieren. Daß es gelingen wird, war ich mir im Traum aber ganz sicher.

Noch eine seltsame Idee hatte ich – die stand aber in Widerspruch zu meinem Traumstatus als geförderter Schriftsteller: darüber zu schreiben, daß ich eine unsichtbare Förderung bekommen hätte. Also eine Förderung, über die nirgends etwas steht, in keiner Zeitung, in keinem Förderbericht. Über diese Förderung gibt es keinen Briefwechsel, keine Urkunde, keine zuständige Stelle, keinen Bescheid, niemand weiß etwas davon, auch ich, der Geförderte nicht, und die unsichtbare Förderung hinterläßt auch auf meinem Bankkonto keinerlei Spuren. Wirklich komplett unsichtbar, aber eine Förderung.
(Hoffentlich bringe ich damit die Förderinstitutionen nicht auf dumme Gedanken!)

Ja, das war mein Tiroler Traum.











©Peter Alois Rumpf Dezember 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 10. Dezember 2015

247 Minimal Music


Aus einem vergessenen Traum aufgewacht, von Hustenanfällen bis aufs Äußerste gereizt, liege ich wach in der Dunkelheit. Der Wecker, der so gut wie nie läutet, tickt einfach nur. Etwas irritierendes und verstörendes schleicht herum. Vom Gewandhaufen am Sessel, ansonsten fast idyllisch, geht heute fast etwas Bedrohliches aus. Diese Mischung aus Ordnung und Unordnung wirkt heute wirklich nicht anheimelnd. Eine kaum fassbare, aber altvertraute Angst nistet sich ein. Ist es die Angst vorm Leben? Es scheint so. Oder Existenzangst. So genau weiß ich es nicht. Vor lauter Angst kann ich es nicht spüren.

Diese Angst kenne ich aus der Zeit, als ich mein Studium vernachlässigt habe und jede Lebensperspektive verloren hatte. In Panik aufwachen und nicht mehr wissen, wie es weitergehen kann. Eingekrümmt liegen bleiben. Vernebelten, aber trotzdem sehenden Auges das Lebensschiff Richtung Eisberg gleiten lassen ohne einzugreifen. Ohne eingreifen zu können. Gelähmt vor Angst, jede Orientierung verloren.

Oder von noch früher, aus der Schulzeit. Nicht zu verstehen, was da vorgeht; ich meine weniger das Wissen, das gelehrt wird, sondern mehr die Abläufe. Ich komme einfach nicht mit. Warum schaffe ich es nach der Schule nicht rechtzeitig zum Autobus? (Warum habe ich in der Garderobe die anderen sich vordrängen lassen?) Was ist an mir so falsch?

Und heute? Es ist keine offene Panik, lediglich ein Gefühl von … jedenfalls ist es gleich unter der Oberfläche. Ich habe daran gedacht, daß mich dieser Husten schon mehrere Wochen quält und ich bei keinem Arzt durchgekommen bin, das ordentlich untersuchen zu lassen. Ist es die Angst der Machtlosigkeit? Das könnte hinkommen. Ich fühle mich im Moment auch sehr verletzlich, darum gehe ich auch nicht aus dem Zimmer, während rundherum das Leben erwacht. Kündigt sich irgendetwas mit meinem Herzen an? Fühlt es sich beim Husten nicht an, als wäre Wasser in der Lunge? Kann man so etwas überhaupt fühlen? Ah! Das ist doch sicher nur Einbildung! Du bläst dein Ego mit hypochondrischem Schmarrn auf. Das wirkt nur lächerlich!

Mit von der Lesebrille verschwommenem Blick schaue ich auf das Bücherregal und es ist das Blau, das mir ins Auge fällt. Diese verschiedenen, schönen Blaus! Vor allem die halbe Guardini-Gesamtausgabe. Darin habe ich schon lange nicht mehr gelesen. Der Reichtum, den ich hier habe, ungenützt. Unter meinem Blick scheinen sich die Wände leicht zu bewegen, als würde das Zimmer zu atmen versuchen. Ich schaue ein wenig über den Brillenrand. Die scharfen Konturen gefallen mir heute besser als die verschwommenen.

Das Surren in den Ohren, ansonsten konstant wie minimal music, hält kurz an und setzt dann wieder ein. Ich habe den Eindruck, es fange zu pulsieren an. Das ist ungewöhnlich. Bis jetzt ist mir soetwas noch nie aufgefallen.

Jetzt lächle ich ein wenig. Entschuldigend. Tut mir leid, liebes Leben, daß da nicht Rechtes geworden ist. Ich zucke mit den Achseln. Das Surren unterbricht sich kurz und Erinnerungen, die ich nicht einordnen kann, bedrängen mich. Wann habe ich das gesagt? Wo? Zu wem? Ist das wirklich passiert? Habe ich es nur geträumt, gelesen, phantasiert? Wer sagt das? Was? Was war das? Und wo? Wo soll das gewesen sein?









©Peter Alois Rumpf Dezember 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 9. Dezember 2015

246 Erstaunlich nüchterne Beschreibung eines Morgens


Bei einer Tensegrityübung zur Inneren Stille liegt man am Rücken und hält die Hände – die Finger gespreizt zwischen unterstem Rippenknochen und Hüftknochen – seitlich auf den Bauch gelegt, während in der Gegend des Nabels ein Briefbeschwerer – irgendwelche Körner in Leder – aufliegt. Solange die Spannung in Händen und Fingern anhält, empfinde ich den „magischen“ Briefbeschwerer, auf dem auf der einen Seite „Tensegrity“, auf der anderen „Silence“ steht, als leicht in der Schwebe gehalten; gebe ich die Spannung in den Händen auf, fühle ich ihn regelrecht in mich hineinsinken. Ich freue mich auf diesen Moment, denn dann habe ich meine morgendliche Übung abgeschlossen und falle meistens in einen leichten Schlaf, wo ich mehrmals zwischen Traum und Wirklichkeit hin und her pendle, dort in einer Zone, in der ich mich gerne aufhalte. Mein Bewußtsein sinkt nach unten und schießt dann wieder hoch. Manchmal erlebe ich dieses Hinuntersinken wie einen freien Fall in die Tiefe, und es ist der Schock darüber, der mich wieder aufwachen läßt, oder ich komme mir vor wie in einem Lift, der schnell hinunter und dann wieder heraufsaust. Oder ich erlebe etwas, das ich als einen Stromstoß empfinde, den ich ganz unten erhalte und der mich hochschnellen läßt. Oder heute, da erlebte ich es wie das lautlose Geräusch eines umstürzenden Stapels von irgendwas. Ich höre das Krachen des umstürzenden Stapels, etwas wie ein großer Holzstoß, nicht, aber ich fühle es, und schon bin ich wieder wach und heroben. Hören tu ich nur ein starkes Surren in den Ohren, umso stärker, je mehr ich meine Aufmerksamkeit darauf richte; je konzentrierter ich hinhöre, desto mehr wird das Geräusch aus dem Hintergrund in den Vordergrund geholt und komplexer und beinahe wie eine eigene Erlebniswelt, in der man sich wieder verlieren kann.

Ich spiele mit der Auflösung der traditionellen Wahrnehmung und ich finde das immer wieder interessant und spannend. Die Bilder, die dabei auftauchen, sind zwar nicht so wichtig, ich beschreibe sie jedoch trotzdem gern. Sie sind, wie in allen Träumen, lediglich Kostüme aus der Mottenkiste des Vertrauten, mit denen das ängstliche alltägliche Bewußtsein seine Erfahrungen des Nicht-Alltäglichen verkleiden will. Was anderes hat das Alltagsbewußtsein nicht gelernt.
Diese Bilder mögen zwar einiges über einen selber, den eigenen Status in der und über die gesellschaftlich konstruierte Welt aussagen – schließlich stammen sie ja aus dem kollektiven und persönlichen Theaterfundus – aber entscheidend sind sie nicht. Entscheidend wäre die Wahrnehmung ohne alle Kostümierung und Requisiten, das Wahrnehmen der reinen fließenden Energie.

Ich sehe gerade, weil ich auf das Bücherregal schaue: das kirchenlateinische Wörterbuch hat am Buchrücken elf glitzernde Stellen. Elf!










©Peter Alois Rumpf Dezember 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 7. Dezember 2015

245 Wintermorgen


Ich habe gelesen und als mir die Augen zufallen das Buch beiseite gelegt und sitzliege jetzt im Bett; drei Pölster im Rücken versinke ich immer wieder in Schlaf, um kurz darauf von etwas wie einem Stromstoß aufgeweckt zu werden. Die Stromstöße gefallen mir. Ich denke mir aus, daß sie von einer geheimnisvollen Macht kommen, die mir Energie schenkt. Gelänge es mir, dabei nicht wach zu werden, nicht in dieser Welt hochzufahren, sondern im Traum zu erwachen – die Reise ginge los. Die überwältigende Reise über Welten, durch endlose, leere Räume aus Licht und Farbe, vielleicht auch aus Tönen, aus Sphärenmusik. Dort zieht es mich hin. Wo man die Menschen und somit sich selber vergessen kann, nur wahrnehmen, aufnehmen, schauen, staunen.

Gut, ich halte es hier im Bett auch aus, in Erwartung eines kräftigen Frühstücks, das ich mir gleich bereiten werde. Ich spüre meinen Körper mit seiner Lust auf Welt und lächle vorsorglich und vorbeugend über sein zu erwartendes Herumirren.

Die kurzen, düsteren, kalten Tage des Winters sind schon eine gute Zeit.







©Peter Alois Rumpf Dezember 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Sonntag, 6. Dezember 2015

244 Weinen


Ich bin so aufgewachsen, daß man als Bub nicht weint. Das geht nicht! Nur habe ich es nicht geschafft. Es kam schon öfters vor, daß ich als Kind weinend nach Hause kam, zum Beispiel weil ich einen Streit mit anderen Kindern verloren hatte, und meine Mutter, die das Geschehen vom Küchenfenster aus beobachtet hatte, mich mit der Rute erwartete und auf mich eindrosch, manchmal die Rute verkehrt haltend, so – wie es einmal oder zweimal passiert ist - , daß der kompakt verknotete Griff mein Gesicht und ein Auge verletzte. (Beim Arzt mußte ich dann sagen, daß ich mit dem Schlitten in ein Gebüsch geraten bin. "In ein Gebüsch geraten" – auch eine schöne Umschreibung!)
Meine Mutter selber war sentimental – wie eigentlich die meisten Gewalttäter – und hat zu Weihnachten regelmäßig geheult.

Darin bin ich ihr sehr ähnlich – nur mit einem äußerst zwiegespaltenen Verhältnis zu meiner Heulerei (wie ja zu erwarten ist). So habe ich mein Weinen, vor allem in der Öffentlichkeit, aber auch sonst, immer zu unterdrücken versucht; zuerst wegen „ein Bub weint nicht!“ und dann wegen... ja wegen was?
Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, daß es einen Unterschied zwischen echten Gefühlen und Sentimentalität gibt. Und so kommt mir bei jeder Tränenaufwallung sofort die Frage: echt oder verlogen? Ich habe ja oft als Ministrant zu Allerheiligen/ Allerseelen - die Totengedenktage, die auch vor dem Kriegerdenkmal mit Kameradschaftsbund und Soldaten der Aigner Kaserne zelebriert wurden – die alten Kriegsteilnehmer, von denen nicht alle, aber doch einige alte Nazi waren, bei „ich hat einen Kameraden“ heulen gesehen; ein Lied, das auch mir die Tränen in die Augen treibt, zum letztenmal beim Begräbnis meines Vaters. Dieses Nazierbe hat eben zur Folge, daß ich – und da bin ich ein typischer Vertreter einer ganzen Generation – jeder meiner Gefühlsaufwallung gegenüber mißtrauisch bin. Auch solchen der Begeisterung – man denke nur an die leuchtenden Augen der Hitlerzujubler auf vielen Photos aus dieser Zeit. Jede Aufbruchsstimmung, jedes Gefühl von „ja, das mach ich! Das wird toll!", oder jedes freudige Angehen und Anpacken von etwas ruft sofort Mißtrauen und (Selbst)Zweifel hervor; der Impuls wird sofort gebremst, um ihn untersuchen zu können. Das gilt auch für den Impuls zu weinen. Das ist der Fluch, der vor allem auf den Söhnen der Nazigeneration lastet, den eigenen Impulsen ständig mißtrauen zu müssen, denn wenn man seinen spontanen Impulsen nachgibt, kommt nur Mord und Totschlag, Vergewaltigung und Grausamkeit heraus, und wenn man dem Impuls zu weinen nachgibt, dann nur Sentimentalität und verlogene, unechte Gefühle. („Ich hatt' einen Kameraden, einen bessern findest du nit..“ - klar, weil der auch für mich untergegangen ist; weil er gefallen ist, habe ich überlebt. Ein klassisches Menschenopfer also.)

Heute sehe ich deutlicher, daß sich hinter den „unechten Gefühlen“ - so verdreht und desorientiert sie auch daherkommen mögen – tief unten doch echte Gefühle verborgen sind, die man nicht wagt, so wie sie sind, zuzulassen, darum können sie nur verdreht, sozusagen maskiert, herauskommen. Aber man kann darauf vertrauen, daß hinter all dem, im tiefsten Kern, eine echtes unverfälschtes Empfinden steckt; man muß nur bereit sein, sich vom Gefühl in die eigene Tiefe, die zunächst wie ein Abgrund ausschauen mag, hinunterführen zu lassen. Dies ist mir seit meiner Begegnung mit der „gewaltfreien Kommunikation“ von Marshall Rosenberg bewußt geworden (von ihm und Jesper Juul habe ich auch die Redewendung „das Leben bereichern“, die ich später im Text verwenden werde).

Nebenbei gesagt – weil mir das erst jetzt, heute, am 6. Dezember 2015 auffällt: als Kind habe ich mich sehr zusammenzureißen versucht, das Verbot zu weinen einzuhalten; mir ist aber nie der Widerspruch aufgefallen, daß ich diejenigen, die mir das Weinen verboten haben, selber weinen gesehen habe. Bei der Mutter mag das noch durch die Vorstellung, was eine Frau darf und ein Mann nicht, verstellt gewesen sein, aber sonst...

Und heute? Neulich habe ich mir im Internet den „Drummer Boy“ in einer Version der A-capella-Gruppe Pentatonix angehört; ein Lied, das mir schon in meiner Kindheit sehr nahe gegangen ist. Und bei der Textstelle „I'm a poor boy and I have no gift to bring“ ging es schon los. (Mich dazu zu bekennen fällt mir sehr schwer, man kann es an der leicht ironisch- abwertenden Formulierung erkennen: „dann ist es schon losgegangen“ - das drückt immer noch Hilflosigkeit gegenüber und Distanzierung von meinen Gefühlen aus.) Aber das verstehe ich. Das ist mein Lebensgefühl von Kindheit an: daß ich nichts habe, das ich verschenken kann, das nichts von und an mir wertvoll genug ist. Ich habe nichts, ich kann nichts. Dahinter steht natürlich die Verletzung meiner Kindheit, als kleines Kind mit all seiner Liebe und Bereitschaft zur Hingabe nicht angenommen worden zu sein. „Du bist zu nichts zu gebrauchen“ war der am häufigsten gehörte Satz. Sie haben nicht empfunden (oder empfinden können), daß ich ihr Leben bereichere. Es steckt klarerweise viel Schmerz darinnen.
Also das ist ein einfaches Muster. Und natürlich weine ich, wenn der arme Trommlerbube ohne jede Gabe vor dem Gottessohn – was immer das bedeuten mag - steht und erstens auf die Idee kommt, einfach zu trommeln – also aus dem, was er gerade hat, etwas zu machen und zweitens Kind und Mutter ihn anlächeln.

Was gibt es noch? Früher, als meine Kinder noch klein waren, habe ich ihnen zu Weihnachten immer Peter Roseggers Geschichte vom Mooswaberl vorgelesen. Das ist die wahre Geschichte einer verwirrten, obdachlosen Frau, die damals in den Wäldern in Roseggers Heimat gehaust hat, durch den Tod ihres Mannes aus der Bahn geworfen, und die zu den Leuten betteln gekommen ist. Roseggers Mutter hat ihr immer etwas zu essen gegeben, sie hat sich mit so etwas wie einen Segen bedankt. Der Roseggervater war ihr nicht wirklich gut gesonnen, er hat gefunden, daß sie noch jung und stark genug wäre, zu arbeiten. Bettelverbot für seinen Hof hat er keines ausgesprochen, er hat sie schon widerwillig geduldet.
Bei einem Christmettenbesuch geht der kleine Roseggerbub verloren, versucht dann, den Weg nach Hause alleine zu finden – wir reden da von einem Weg, der, wenn ich mich richtig erinnere, drei Stunden lang ist – verirrt sich im Finstern, irrt stundenlang herum, wird schon verzweifelt gesucht und nicht gefunden, und gerät an den Abgrund zu einer tiefen Schlucht, bricht vor Erschöpfung zusammen und wird im letzten Moment vorm Absturz oder Erfrierungstod vom Mosswaberl gerettet und nach Hause getragen. Sie legt den Buben nur vor die Tür und klopft an und verschwindet wieder. Es kommt aber schon heraus, daß es das Mooswaberl war und am Christtag geht der Roseggervater nach der Messe zu ihr, bedankt sich und sagt ihr, daß sie auf seinem Hof immer Kost und Quartier finden wird. Das ist die Stelle, an der ich immer heulen muß: Daß der sein Herz hat erweichen lassen und danach gehandelt hat. Er hat für das Mooswaberl eine Kammer ausgeräumt und einen Ofen hineingestellt und wann immer sie wollte, konnte sie dort wohnen und mit den Hausleuten mitessen.

Meine Kinder mußten schon immer lachen, weil mir an dieser Stelle immer die Stimme gebrochen ist und ich vor lauter Weinen nicht weiterlesen konnte. Ich glaube, sie haben schon gewartet, wann die Stelle kommt, wo der Papa wieder weint.

Überhaupt, bei Musik und Lesen, bei Filmen und so weiter kommt es immer wieder vor, daß mir die Tränen in die Augen steigen. Gestern zum Beispiel im Porgy & Bess bei einem Konzert von Salesny/Bayer/Frosch/Heginger mit Kompositionen von Harry Pepl; das ist dann allerdings bloß ein kurzes Aufwallen und bleibt komplett unauffällig.

Oder vor einigen Jahren bin ich auf dem Weg in die Arbeit – Telefonieren für die Meinungsforschung – über die Augartenbrücke gegangen, so verzweifelt über meine Erfolgslosigkeit, daß mir die Tränen heruntergeronnen sind. Die habe ich nicht mehr zurückzuhalten versucht. Da kommt natürlich (oder unnatürlich?) sofort mein Mißtrauen und fragt mich, ob ich jetzt nicht einfach den Spieß umgedreht habe und damit anzugeben versuche? Auf sensibler Mann und so? Und mit dem Weinen kokettiere? Das gilt auch für jetzt und das Schreiben dieses Textes. Ja, wie ist das wirklich?

Und wenn wir schon dabei sind: bei deinen Kindern, den eigenen und den Stiefkindern, hast du ihnen das Gefühl gegeben, daß sie dein Leben bereichern? Ich fürchte, nicht allzu oft.














©Peter Alois Rumpf Dezember 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 3. Dezember 2015

243 Kleine Bemerkung über Lesen


Wie ist das, wenn man im Bett liegt, liest, das Buch weglegt, vor sich hinträumt, dann herumschaut? Irgendetwas namenloses, undefinierbares steigt in einem hoch. Namenlos und undefinierbar, aber nicht unbekannt. Draußen, vorm Zimmer, ist deine Familie und lebt, aber das Hochsteigende ist nah, das draußen ist … nun, fern wäre falsch, … es ist einfach draußen.

Das, was da aufsteigt, hat mit dem zu tun, was du gerade gelesen hast. Aber auch mit dir. Als wärst du mit etwas großem, allumfassenden verbunden worden. Ich muß an meine Jugend denken, wenn ich zum Beispiel mit einer neuen Platte zu einem Freund gegangen bin, da, hör dir das an, das ist toll! Ein Gefühl, am Puls der Zeit zu sein. Aber auch das ist falsch, denn es geht nicht um die Zeit, sondern um das Zeitlose in der Zeit, das sich immer wieder in der Zeit zeigt. Oder sollte ich sagen, das, das außerhalb der Zeit ist und hereinfließt? Okey, damit höre ich jetzt auf, da gehe ich nicht weiter. Aber ein Gefühl einer inneren Erregung, von etwas Intensivem, das mich mich tatsächlich jugendlich fühlen läßt, ist es schon.

Aber allmählich, wirklich ganz langsam, ebnet es sich wieder ein. Ich merke, daß ich hungrig bin, und mir fällt wieder der kleine Streit ein. Ich fühle mich nicht wirklich im Unrecht, aber gut machen will ich es schon. Aber wie? Vielleicht kann ich die Großzügigkeit und das Aufrechtsein, die im Aufsteigendem mitgeschwungen sind, mitnehmen, wenn ich jetzt aufstehe und dann die Stiege hinuntergehen werde.















©Peter Alois Rumpf Dezember 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

242 Kleine Bemerkungen über eine Feder


In der ersten Volksschulklasse mußten wir im Religionsunterricht die Seele zeichnen; ich glaube mit ein paar schwarzen Flecken als Symbol für unsere Sünden. Aber das ist hier nicht der springende Punkt, sondern, daß alle die Seele als Herz dargestellt haben, ich aber als einziger als Feder. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, sie als Herz darzustellen; das war kein Überlegen, soll ich sie so oder so darstellen, sondern für mich war ganz selbstverständlich die Seele wie eine Feder und ich war irritiert, als ich merkte, das ist für die anderen nicht so. Und als mich die Religionslehrerin fragte, was ich da gezeichnet habe – offensichtlich war meine Zeichnung nicht sogleich als Feder erkennbar, vor allem, weil ich die Konturen als Wellenlinie zu schwer gezeichnet und zu stark betont hatte – es war eine Feder, wo der Kiel nicht in der Mitte, sondern an einem der Ränder lag – ach, ich kann's jetzt nicht herzeichnen. Also ich erschrak damals, dachte, ich hätte etwas falsch gemacht und wollte gleich zu radieren beginnen, aber die Religionslehrerin sagte gleich, nein! nein! so kann man sich die Seele auch vorstellen, leicht wie eine Feder, wenn sie rein ist; das ist sehr interessant, was du dir da ausgedacht hast!
Ich weiß selber nicht, woher ich das hatte, es war für mich selbstverständlich, auf Herz – wie gesagt – wäre ich nie gekommen.

Eingefallen ist mir das heute, als ich an einem Werbeplakat für ein Hospiz, also für ein Sterbehaus, vorbeigegangen bin, an dem eine Feder abgebildet war mit dem Satz: die Leichtigkeit des Seins.

Ehrlich gesagt, ich war froh; ja, es ist mir wie eine Bestätigung meiner Kindheitsidee vorgekommen, weil ich doch vermutete, die Feder am Plakat soll die Seele darstellen, die nach dem Tod, von der Last des irdischen Daseins befreit, aufschweben kann.
Ich habe sogar sinniert, ob es irgendwelche, von mir aus untergründige Kanäle geben könnte, über die meine Kindheitszeichnung es in veränderter Form bis hierher auf dieses Plakat geschafft haben könnte. Das ist natürlich irrational und ich schmunzle darüber – aber schließlich will man ja im Leben etwas Sinnvolles beigetragen haben. Abgesehen davon, daß ich diese Seele-Feder-Assoziation auch irgendwo her gehabt haben werde, oder ist die in mir einfach aufgestiegen? Wie gesagt, ich schmunzle über meinen heimlichen Größenwahn und zeige ihn auch gar nicht so gerne her.

Trotzdem, für mich ist heute noch die Seele nicht das Gleiche wie das Herz. Herz ist für mich stärker mit der Welt, dem Körper, dem Ich verbunden, um nicht zu sagen Teil davon. Bei Seele denke ich an etwas abstrakteres, etwas, das losgelöster ist, das auch davongehen und verreisen kann, und leicht ist; nicht komplett abgetrennt - außer im Tod - aber sehr beweglich, nicht aufs Irdische fixiert. Ein herzhaftes Essen ist etwas anderes als eine seelenvolles Klavierspiel, eine herzliche Begrüßung etwas anderes als eine Seelenfreund, ein banges Herz etwas anderes als eine seelische Erschütterung.

Ja, ja, ich hatte schon recht, damals, in der ersten Klasse. Und außerdem: ich hoffe, daß ich irrational bin.









©Peter Alois Rumpf Dezember 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 1. Dezember 2015

241 Wind oder kleine Ergänzungen zur Scham


Der Wind heult schon den zweiten Tag ums Haus; er reißt und rüttelt an Türen und Fenstern und was sonst noch angreifbar ist. Ich spüre ihn im Zimmer, selbst im Bett zieht es über mich. Ruckelnd und zuckelnd reißt er an allem herum, was beweglich ist. Oder was nicht beweglich ist, aber beweglich sein sollte. Zumindest aus seiner Sicht. Sucht er jemanden, oder tobt er in blinder Wut? Sein Heulen und Drücken schafft große Unruhe in der ansonsten tiefen, stillen Nacht. Am Rande meines Gesichtsfeldes blinkt etwas, wenn ich hinschaue ist es weg. Die Jalousie bewegt sich in der Zugluft. Die inneren Sirenen surren und singen besonders hoch, besonders schrill, besonders intensiv.

Ich schaue auf die Zimmerlampe, aber sie bewegt sich nicht; auch sonst nichts im Zimmer. Nur der Traumanalysezettel und das Blatt mit el hombre que corre sind vom Bücherstapel zu Boden geflattert, aber vom Wind verweht, den ich selber erzeugt habe, mit Hilfe der Bettdecke, unabsichtlich.

Neben dem ständigen, stärker oder schwächer werdenden Burren erzeugt der Wind auch ein flacheres, wischendes Geräusch, das plötzlich auftaucht und gleich wieder verschwindet. Ich lausche jetzt intensiv zum Wind hin, aber er hat seine Intensität heruntergefahren. Jetzt ist es sogar still. Kurz. Dann kommt wieder ein schwaches Burren und Blasen auf, zuerst gleichmäßig schwach, dann in kurzen, starken Stößen, begleitet von einem jaulenden Aufheulen. Worüber jammert der Wind? Wieso heult er auf? Als wäre er eine unerlöste Kraft, in irgendeine fremde Gestalt gebannt, aus der er sich befreien will. An den Händen spüre ich den Wind, im Gesicht, am Kopf, und wenn ich aufstehe deutlich an den Füßen und Knöcheln.
Aber jetzt stehe ich nicht auf; ich werde mich flach hinlegen, zum Schlafen.


Was passiert mit Menschen, die in Scham leben? Sie leben in einem Universum, das hauptsächlich aus ihren eigenen Gedanken, Bildern und Projektionen besteht; sie merken sich keine Namen und können Menschen nur schlecht beschreiben. Zumindest die, die in ihrer Gegenwart sind. Die Gespenster der Vergangenheit dagegen sind sehr „lebendig“. Aber auch sie können sie schwer beschreiben, weil sie für sie zu groß sind. Sie können sie nicht fassen. Die sind wie übermächtige Götzen für sie; sie sind noch erschrocken, starren sie mit weit aufgerissenen Augen an und sind wie gelähmt.

Eigentlich können sie auch Bäume, Wälder, Straßen, Felder, Wiesen, Berge, Seen, Bäche, Flüße, Wege, Steige, Steine, Felsen, Wind und Wetter und so weiter nur schlecht beschreiben; alles gerät ihnen zu Facetten des eigenen Dramas; alles wird von den Gefühlen aus der eigenen Dunstglocke, in der sie gefangen sind, überzogen; alles wird zur Staffage der eigenen Projektionen; ein gallertiges Universum, in dem sie leben, umgeben von einer zähen Masse aus Vergangenheit. So merken sie nicht oder kaum, wenn ihnen Menschen (und Ereignisse und Dinge) anders begegnen als es ihre Gespenster tun; das spielt sich bestenfalls am Rande ihres Wahrnehmungsfeldes ab, wie ein Flimmern in den Augenwinkeln etwa.

Ja, so ähnlich ist es. Die Kraft, die das wegblasen soll, muß stark sein.








©Peter Alois Rumpf Dezember 2015 peteraloisrumpf@gmail.com