Sonntag, 6. Dezember 2015

244 Weinen


Ich bin so aufgewachsen, daß man als Bub nicht weint. Das geht nicht! Nur habe ich es nicht geschafft. Es kam schon öfters vor, daß ich als Kind weinend nach Hause kam, zum Beispiel weil ich einen Streit mit anderen Kindern verloren hatte, und meine Mutter, die das Geschehen vom Küchenfenster aus beobachtet hatte, mich mit der Rute erwartete und auf mich eindrosch, manchmal die Rute verkehrt haltend, so – wie es einmal oder zweimal passiert ist - , daß der kompakt verknotete Griff mein Gesicht und ein Auge verletzte. (Beim Arzt mußte ich dann sagen, daß ich mit dem Schlitten in ein Gebüsch geraten bin. "In ein Gebüsch geraten" – auch eine schöne Umschreibung!)
Meine Mutter selber war sentimental – wie eigentlich die meisten Gewalttäter – und hat zu Weihnachten regelmäßig geheult.

Darin bin ich ihr sehr ähnlich – nur mit einem äußerst zwiegespaltenen Verhältnis zu meiner Heulerei (wie ja zu erwarten ist). So habe ich mein Weinen, vor allem in der Öffentlichkeit, aber auch sonst, immer zu unterdrücken versucht; zuerst wegen „ein Bub weint nicht!“ und dann wegen... ja wegen was?
Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, daß es einen Unterschied zwischen echten Gefühlen und Sentimentalität gibt. Und so kommt mir bei jeder Tränenaufwallung sofort die Frage: echt oder verlogen? Ich habe ja oft als Ministrant zu Allerheiligen/ Allerseelen - die Totengedenktage, die auch vor dem Kriegerdenkmal mit Kameradschaftsbund und Soldaten der Aigner Kaserne zelebriert wurden – die alten Kriegsteilnehmer, von denen nicht alle, aber doch einige alte Nazi waren, bei „ich hat einen Kameraden“ heulen gesehen; ein Lied, das auch mir die Tränen in die Augen treibt, zum letztenmal beim Begräbnis meines Vaters. Dieses Nazierbe hat eben zur Folge, daß ich – und da bin ich ein typischer Vertreter einer ganzen Generation – jeder meiner Gefühlsaufwallung gegenüber mißtrauisch bin. Auch solchen der Begeisterung – man denke nur an die leuchtenden Augen der Hitlerzujubler auf vielen Photos aus dieser Zeit. Jede Aufbruchsstimmung, jedes Gefühl von „ja, das mach ich! Das wird toll!", oder jedes freudige Angehen und Anpacken von etwas ruft sofort Mißtrauen und (Selbst)Zweifel hervor; der Impuls wird sofort gebremst, um ihn untersuchen zu können. Das gilt auch für den Impuls zu weinen. Das ist der Fluch, der vor allem auf den Söhnen der Nazigeneration lastet, den eigenen Impulsen ständig mißtrauen zu müssen, denn wenn man seinen spontanen Impulsen nachgibt, kommt nur Mord und Totschlag, Vergewaltigung und Grausamkeit heraus, und wenn man dem Impuls zu weinen nachgibt, dann nur Sentimentalität und verlogene, unechte Gefühle. („Ich hatt' einen Kameraden, einen bessern findest du nit..“ - klar, weil der auch für mich untergegangen ist; weil er gefallen ist, habe ich überlebt. Ein klassisches Menschenopfer also.)

Heute sehe ich deutlicher, daß sich hinter den „unechten Gefühlen“ - so verdreht und desorientiert sie auch daherkommen mögen – tief unten doch echte Gefühle verborgen sind, die man nicht wagt, so wie sie sind, zuzulassen, darum können sie nur verdreht, sozusagen maskiert, herauskommen. Aber man kann darauf vertrauen, daß hinter all dem, im tiefsten Kern, eine echtes unverfälschtes Empfinden steckt; man muß nur bereit sein, sich vom Gefühl in die eigene Tiefe, die zunächst wie ein Abgrund ausschauen mag, hinunterführen zu lassen. Dies ist mir seit meiner Begegnung mit der „gewaltfreien Kommunikation“ von Marshall Rosenberg bewußt geworden (von ihm und Jesper Juul habe ich auch die Redewendung „das Leben bereichern“, die ich später im Text verwenden werde).

Nebenbei gesagt – weil mir das erst jetzt, heute, am 6. Dezember 2015 auffällt: als Kind habe ich mich sehr zusammenzureißen versucht, das Verbot zu weinen einzuhalten; mir ist aber nie der Widerspruch aufgefallen, daß ich diejenigen, die mir das Weinen verboten haben, selber weinen gesehen habe. Bei der Mutter mag das noch durch die Vorstellung, was eine Frau darf und ein Mann nicht, verstellt gewesen sein, aber sonst...

Und heute? Neulich habe ich mir im Internet den „Drummer Boy“ in einer Version der A-capella-Gruppe Pentatonix angehört; ein Lied, das mir schon in meiner Kindheit sehr nahe gegangen ist. Und bei der Textstelle „I'm a poor boy and I have no gift to bring“ ging es schon los. (Mich dazu zu bekennen fällt mir sehr schwer, man kann es an der leicht ironisch- abwertenden Formulierung erkennen: „dann ist es schon losgegangen“ - das drückt immer noch Hilflosigkeit gegenüber und Distanzierung von meinen Gefühlen aus.) Aber das verstehe ich. Das ist mein Lebensgefühl von Kindheit an: daß ich nichts habe, das ich verschenken kann, das nichts von und an mir wertvoll genug ist. Ich habe nichts, ich kann nichts. Dahinter steht natürlich die Verletzung meiner Kindheit, als kleines Kind mit all seiner Liebe und Bereitschaft zur Hingabe nicht angenommen worden zu sein. „Du bist zu nichts zu gebrauchen“ war der am häufigsten gehörte Satz. Sie haben nicht empfunden (oder empfinden können), daß ich ihr Leben bereichere. Es steckt klarerweise viel Schmerz darinnen.
Also das ist ein einfaches Muster. Und natürlich weine ich, wenn der arme Trommlerbube ohne jede Gabe vor dem Gottessohn – was immer das bedeuten mag - steht und erstens auf die Idee kommt, einfach zu trommeln – also aus dem, was er gerade hat, etwas zu machen und zweitens Kind und Mutter ihn anlächeln.

Was gibt es noch? Früher, als meine Kinder noch klein waren, habe ich ihnen zu Weihnachten immer Peter Roseggers Geschichte vom Mooswaberl vorgelesen. Das ist die wahre Geschichte einer verwirrten, obdachlosen Frau, die damals in den Wäldern in Roseggers Heimat gehaust hat, durch den Tod ihres Mannes aus der Bahn geworfen, und die zu den Leuten betteln gekommen ist. Roseggers Mutter hat ihr immer etwas zu essen gegeben, sie hat sich mit so etwas wie einen Segen bedankt. Der Roseggervater war ihr nicht wirklich gut gesonnen, er hat gefunden, daß sie noch jung und stark genug wäre, zu arbeiten. Bettelverbot für seinen Hof hat er keines ausgesprochen, er hat sie schon widerwillig geduldet.
Bei einem Christmettenbesuch geht der kleine Roseggerbub verloren, versucht dann, den Weg nach Hause alleine zu finden – wir reden da von einem Weg, der, wenn ich mich richtig erinnere, drei Stunden lang ist – verirrt sich im Finstern, irrt stundenlang herum, wird schon verzweifelt gesucht und nicht gefunden, und gerät an den Abgrund zu einer tiefen Schlucht, bricht vor Erschöpfung zusammen und wird im letzten Moment vorm Absturz oder Erfrierungstod vom Mosswaberl gerettet und nach Hause getragen. Sie legt den Buben nur vor die Tür und klopft an und verschwindet wieder. Es kommt aber schon heraus, daß es das Mooswaberl war und am Christtag geht der Roseggervater nach der Messe zu ihr, bedankt sich und sagt ihr, daß sie auf seinem Hof immer Kost und Quartier finden wird. Das ist die Stelle, an der ich immer heulen muß: Daß der sein Herz hat erweichen lassen und danach gehandelt hat. Er hat für das Mooswaberl eine Kammer ausgeräumt und einen Ofen hineingestellt und wann immer sie wollte, konnte sie dort wohnen und mit den Hausleuten mitessen.

Meine Kinder mußten schon immer lachen, weil mir an dieser Stelle immer die Stimme gebrochen ist und ich vor lauter Weinen nicht weiterlesen konnte. Ich glaube, sie haben schon gewartet, wann die Stelle kommt, wo der Papa wieder weint.

Überhaupt, bei Musik und Lesen, bei Filmen und so weiter kommt es immer wieder vor, daß mir die Tränen in die Augen steigen. Gestern zum Beispiel im Porgy & Bess bei einem Konzert von Salesny/Bayer/Frosch/Heginger mit Kompositionen von Harry Pepl; das ist dann allerdings bloß ein kurzes Aufwallen und bleibt komplett unauffällig.

Oder vor einigen Jahren bin ich auf dem Weg in die Arbeit – Telefonieren für die Meinungsforschung – über die Augartenbrücke gegangen, so verzweifelt über meine Erfolgslosigkeit, daß mir die Tränen heruntergeronnen sind. Die habe ich nicht mehr zurückzuhalten versucht. Da kommt natürlich (oder unnatürlich?) sofort mein Mißtrauen und fragt mich, ob ich jetzt nicht einfach den Spieß umgedreht habe und damit anzugeben versuche? Auf sensibler Mann und so? Und mit dem Weinen kokettiere? Das gilt auch für jetzt und das Schreiben dieses Textes. Ja, wie ist das wirklich?

Und wenn wir schon dabei sind: bei deinen Kindern, den eigenen und den Stiefkindern, hast du ihnen das Gefühl gegeben, daß sie dein Leben bereichern? Ich fürchte, nicht allzu oft.














©Peter Alois Rumpf Dezember 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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