244 Weinen
Ich bin so aufgewachsen, daß man als
Bub nicht weint. Das geht nicht! Nur habe ich es nicht geschafft. Es
kam schon öfters vor, daß ich als Kind weinend nach Hause kam, zum
Beispiel weil ich einen Streit mit anderen Kindern verloren hatte,
und meine Mutter, die das Geschehen vom Küchenfenster aus beobachtet
hatte, mich mit der Rute erwartete und auf mich eindrosch, manchmal
die Rute verkehrt haltend, so – wie es einmal oder zweimal passiert
ist - , daß der kompakt verknotete Griff mein Gesicht und ein Auge
verletzte. (Beim Arzt mußte ich dann sagen, daß ich mit dem
Schlitten in ein Gebüsch geraten bin. "In ein Gebüsch geraten" –
auch eine schöne Umschreibung!)
Meine Mutter selber war sentimental –
wie eigentlich die meisten Gewalttäter – und hat zu Weihnachten
regelmäßig geheult.
Darin bin ich ihr sehr ähnlich – nur
mit einem äußerst zwiegespaltenen Verhältnis zu meiner Heulerei
(wie ja zu erwarten ist). So habe ich mein Weinen, vor allem in der
Öffentlichkeit, aber auch sonst, immer zu unterdrücken versucht;
zuerst wegen „ein Bub weint nicht!“ und dann wegen... ja wegen
was?
Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, daß
es einen Unterschied zwischen echten Gefühlen und Sentimentalität
gibt. Und so kommt mir bei jeder Tränenaufwallung sofort die Frage:
echt oder verlogen? Ich habe ja oft als Ministrant zu Allerheiligen/
Allerseelen - die Totengedenktage, die auch vor dem Kriegerdenkmal
mit Kameradschaftsbund und Soldaten der Aigner Kaserne zelebriert
wurden – die alten Kriegsteilnehmer, von denen nicht alle, aber
doch einige alte Nazi waren, bei „ich hat einen Kameraden“ heulen
gesehen; ein Lied, das auch mir die Tränen in die Augen treibt, zum
letztenmal beim Begräbnis meines Vaters. Dieses Nazierbe hat eben
zur Folge, daß ich – und da bin ich ein typischer Vertreter einer
ganzen Generation – jeder meiner Gefühlsaufwallung gegenüber
mißtrauisch bin. Auch solchen der Begeisterung – man denke nur an
die leuchtenden Augen der Hitlerzujubler auf vielen Photos aus dieser
Zeit. Jede Aufbruchsstimmung, jedes Gefühl von „ja, das mach ich!
Das wird toll!", oder jedes freudige Angehen und Anpacken von etwas
ruft sofort Mißtrauen und (Selbst)Zweifel hervor; der Impuls wird
sofort gebremst, um ihn untersuchen zu können. Das gilt auch für
den Impuls zu weinen. Das ist der Fluch, der vor allem auf den Söhnen
der Nazigeneration lastet, den eigenen Impulsen ständig mißtrauen
zu müssen, denn wenn man seinen spontanen Impulsen nachgibt, kommt
nur Mord und Totschlag, Vergewaltigung und Grausamkeit heraus, und
wenn man dem Impuls zu weinen nachgibt, dann nur Sentimentalität und
verlogene, unechte Gefühle. („Ich hatt' einen Kameraden, einen
bessern findest du nit..“ - klar, weil der auch für mich
untergegangen ist; weil er gefallen ist, habe ich überlebt. Ein
klassisches Menschenopfer also.)
Heute sehe ich deutlicher, daß sich
hinter den „unechten Gefühlen“ - so verdreht und desorientiert
sie auch daherkommen mögen – tief unten doch echte Gefühle
verborgen sind, die man nicht wagt, so wie sie sind, zuzulassen,
darum können sie nur verdreht, sozusagen maskiert, herauskommen.
Aber man kann darauf vertrauen, daß hinter all dem, im tiefsten
Kern, eine echtes unverfälschtes Empfinden steckt; man muß nur
bereit sein, sich vom Gefühl in die eigene Tiefe, die zunächst wie
ein Abgrund ausschauen mag, hinunterführen zu lassen. Dies ist mir
seit meiner Begegnung mit der „gewaltfreien Kommunikation“ von
Marshall Rosenberg bewußt geworden (von ihm und Jesper Juul habe ich auch die
Redewendung „das Leben bereichern“, die ich später im Text
verwenden werde).
Nebenbei gesagt – weil mir das erst
jetzt, heute, am 6. Dezember 2015 auffällt: als Kind habe ich mich
sehr zusammenzureißen versucht, das Verbot zu weinen einzuhalten;
mir ist aber nie der Widerspruch aufgefallen, daß ich diejenigen,
die mir das Weinen verboten haben, selber weinen gesehen habe. Bei
der Mutter mag das noch durch die Vorstellung, was eine Frau darf und
ein Mann nicht, verstellt gewesen sein, aber sonst...
Und heute? Neulich habe ich mir im
Internet den „Drummer Boy“ in einer Version der A-capella-Gruppe
Pentatonix angehört; ein Lied, das mir schon in meiner Kindheit sehr
nahe gegangen ist. Und bei der Textstelle „I'm a poor boy and I
have no gift to bring“ ging es schon los. (Mich dazu zu bekennen
fällt mir sehr schwer, man kann es an der leicht ironisch-
abwertenden Formulierung erkennen: „dann ist es schon losgegangen“
- das drückt immer noch Hilflosigkeit gegenüber und Distanzierung
von meinen Gefühlen aus.) Aber das verstehe ich. Das ist mein
Lebensgefühl von Kindheit an: daß ich nichts habe, das ich
verschenken kann, das nichts von und an mir wertvoll genug ist. Ich
habe nichts, ich kann nichts. Dahinter steht natürlich die
Verletzung meiner Kindheit, als kleines Kind mit all seiner Liebe und
Bereitschaft zur Hingabe nicht angenommen worden zu sein. „Du bist
zu nichts zu gebrauchen“ war der am häufigsten gehörte Satz. Sie
haben nicht empfunden (oder empfinden können), daß ich ihr Leben
bereichere. Es steckt klarerweise viel Schmerz darinnen.
Also das ist ein einfaches Muster. Und
natürlich weine ich, wenn der arme Trommlerbube ohne jede Gabe vor
dem Gottessohn – was immer das bedeuten mag - steht und erstens auf
die Idee kommt, einfach zu trommeln – also aus dem, was er gerade
hat, etwas zu machen und zweitens Kind und Mutter ihn anlächeln.
Was gibt es noch? Früher, als meine
Kinder noch klein waren, habe ich ihnen zu Weihnachten immer Peter
Roseggers Geschichte vom Mooswaberl vorgelesen. Das ist die wahre
Geschichte einer verwirrten, obdachlosen Frau, die damals in den
Wäldern in Roseggers Heimat gehaust hat, durch den Tod ihres Mannes
aus der Bahn geworfen, und die zu den Leuten betteln gekommen ist.
Roseggers Mutter hat ihr immer etwas zu essen gegeben, sie hat sich
mit so etwas wie einen Segen bedankt. Der Roseggervater war ihr nicht
wirklich gut gesonnen, er hat gefunden, daß sie noch jung und stark
genug wäre, zu arbeiten. Bettelverbot für seinen Hof hat er keines
ausgesprochen, er hat sie schon widerwillig geduldet.
Bei einem Christmettenbesuch geht der
kleine Roseggerbub verloren, versucht dann, den Weg nach Hause
alleine zu finden – wir reden da von einem Weg, der, wenn ich mich richtig erinnere, drei Stunden
lang ist – verirrt sich im Finstern, irrt stundenlang herum, wird
schon verzweifelt gesucht und nicht gefunden, und gerät an den
Abgrund zu einer tiefen Schlucht, bricht vor Erschöpfung zusammen
und wird im letzten Moment vorm Absturz oder Erfrierungstod vom
Mosswaberl gerettet und nach Hause getragen. Sie legt den Buben nur
vor die Tür und klopft an und verschwindet wieder. Es kommt aber
schon heraus, daß es das Mooswaberl war und am Christtag geht der
Roseggervater nach der Messe zu ihr, bedankt sich und sagt ihr, daß
sie auf seinem Hof immer Kost und Quartier finden wird. Das ist die
Stelle, an der ich immer heulen muß: Daß der sein Herz hat
erweichen lassen und danach gehandelt hat. Er hat für das Mooswaberl
eine Kammer ausgeräumt und einen Ofen hineingestellt und wann immer
sie wollte, konnte sie dort wohnen und mit den Hausleuten mitessen.
Meine Kinder mußten schon immer
lachen, weil mir an dieser Stelle immer die Stimme gebrochen ist und
ich vor lauter Weinen nicht weiterlesen konnte. Ich glaube, sie haben
schon gewartet, wann die Stelle kommt, wo der Papa wieder weint.
Überhaupt, bei Musik und Lesen, bei
Filmen und so weiter kommt es immer wieder vor, daß mir die Tränen
in die Augen steigen. Gestern zum Beispiel im Porgy & Bess bei
einem Konzert von Salesny/Bayer/Frosch/Heginger mit Kompositionen von
Harry Pepl; das ist dann allerdings bloß ein kurzes Aufwallen und
bleibt komplett unauffällig.
Oder vor einigen Jahren bin ich auf dem
Weg in die Arbeit – Telefonieren für die Meinungsforschung –
über die Augartenbrücke gegangen, so verzweifelt über meine
Erfolgslosigkeit, daß mir die Tränen heruntergeronnen sind. Die
habe ich nicht mehr zurückzuhalten versucht. Da kommt natürlich
(oder unnatürlich?) sofort mein Mißtrauen und fragt mich, ob ich
jetzt nicht einfach den Spieß umgedreht habe und damit anzugeben
versuche? Auf sensibler Mann und so? Und mit dem Weinen kokettiere?
Das gilt auch für jetzt und das Schreiben dieses Textes. Ja, wie ist
das wirklich?
Und wenn wir schon dabei sind: bei
deinen Kindern, den eigenen und den Stiefkindern, hast du ihnen das
Gefühl gegeben, daß sie dein Leben bereichern? Ich fürchte, nicht
allzu oft.
©Peter
Alois Rumpf Dezember 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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