240 Der Fluch der Scham
Die Innenseiten der äußeren
Fensterflügel sind nicht beschlagen, aber es strömt frische, kalte
Luft herein, die schon nach Schnee riecht. Das innere Bild einer
Landschaft, die unter einer Schneedecke ruht. Absolut still. Fast
absolut still. Die kalte Luft beginnt, meinen Hustenreiz in der Brust
anzustacheln, aber ich kann ihn unterdrücken und – nein, doch
nicht, zu spät. Ich huste wieder.
[Ich
muß mich opfern. Ich bin es nicht wert, mich nicht zu opfern. Ich
muß nur etwas finden, wofür es sich lohnt.]
[Peter, solche Sätze
hinschreiben und veröffentlichen ist nicht erlaubt. Hast du denn
überhaupt keine Selbstachtung mehr? Muß du dich so in deinem
Selbstmitleid gehen lassen? Oder was ist das? Welches Programm spulst
du da ab? Wer spricht da eigentlich zu mir? Und wer hat vorher
gesprochen? Wer hat das programmiert?]
[Deine Halbschlafgedanken, dein
innerer Monolog in Ehren, aber das geht nicht! Respekt dafür, dein
inneres Gerede ungeschminkt darzustellen zu versuchen, aber das ist
zu viel! Worum soll es da gehen?]
Vielleicht über den Fluch der Scham.
Wenn ich von Scham spreche, meine ich
die existentielle Scham. Die Scham darüber, daß es einen gibt,
obwohl man nicht gut genug ist.
Diese Scham macht stumm. Fragt dich
wer, wie es dir geht, sagst du: „gut“.
Diese Scham macht unsicher, weil du
dich nicht traust, auf dein Empfinden zu achten, denn alles, was du
bist und mit dir zu tun hat, ist nichts wert. Du spürst gar nicht
mehr, was du empfindest. Du fühlst dich permanent unter Druck, von
jedem, der in deine Nähe kommt. Es zerreißt dich, weil du allen
Ansprüchen gerecht werden willst und die eigenen gar nicht kennst.
Du kannst nicht grüßen, wenn der
andere nicht seine Bereitschaft, deinen Gruß entgegenzunehmen,
signalisiert, weil du glaubst, du bist nicht würdig, einen anderen
von dich aus anzusprechen. (Ein Untertan darf einen König, eine
Königin nicht von sich aus ansprechen.) Deswegen vermeidest du es auch, den Namen deines Gegenüber in den Mund zu nehmen und hältst deinen Blick gesenkt.
Die Vorstellungen und Definitionen anderer Menschen über dich sind stärker als alles, was du zur Verfügung hast.
Die Vorstellungen und Definitionen anderer Menschen über dich sind stärker als alles, was du zur Verfügung hast.
Die Scham hat viele Auswirkungen. Unter
anderem, daß man gelähmt ist und sich nicht als vollwertiges
Mitglied der Gesellschaft fühlt, nicht artikulieren kann, nicht um
Hilfe rufen. Dazu gehört auch die Tendenz, der Relativierung,
Herabsetzung, Unwichtigerklärung eigener Ansprüche, Leiden,
Bedürfnisse etcetera sofort, oft schon vorauseilend, zuzustimmen. So
habe ich mich - schon ein Volksschulkind - zweimal angebrunzt, weil
ich nicht sagen konnte, wie dringend ich auf die Toilette mußte. Zum
Beispiel allein mit meinem Onkel im Auto; ich sage, ich muß aufs
Klo; er – das geht jetzt nicht – und damit war die Sache
erledigt. Auch als er zwei Stunden lang keine Anstalten machte,
stehenzubleiben, habe ich es nicht gewagt, ein zweites oder drittesmal
zu insistieren; und als ich es nicht mehr zurückhalten konnte –
tja...
Auch anderen Autoritäten gegenüber
(und das sind fast alle, selber zählt man ja nicht), meistens
bereits auf die Atmosphäre reagierend, bevor noch etwas gesagt ist.
Zum Beispiel beim Arzt; auch heute noch. Man sagt, daß man da etwas
spürt oder einem komisch vorkommt, und wenn der Arzt darauf nicht
eingeht – fertig. Aus. Manches wage ich gar nicht anzusprechen,
weil es wahrscheinlich zu unwichtig ist. Und bei jedem Krankenstand
bekommt man es mit Schuldgefühlen zu tun. Und weil man als
aufgeklärter Mensch so nicht denkt, aber als Beschämter genau so
fühlt, ist das oft nicht im Vordergrund, sondern wirkt, gleich unter
der Oberfläche der offiziellen Statements als permanentes
Hintergrundrauschen.
Man macht auch keine Anzeige bei der
Polizei. In eigener Sache schon gar nicht - die Sache ist sicher zu
dünn - bei den Angelegenheiten anderer auch eher nicht.
Einmal – damals wohnte ich in einer
Bruchbude im Erdgeschoß – sah ich beim Lüften in der Nacht, da
machen sich welche bei der Bank da vorne an der Ecke zu schaffen.
Zuerst war ich mir unsicher, ob ich das Geschehen dort richtig
interpretiere – ich verstehe ja nichts von der Welt – als es
schon sehr deutlich war, daß die Männer die Schließfächer für
Geschäftsleute, die da nach Bankschluß ihre Tageslosungen deponiert
haben, ausräumen, hatte ich schon die Idee, die Polizei anzurufen.
Wenn die das aber merken und beim Fenster einsteigen? Und die
Polizei, wenn ich sie rufe, was macht sie dann? Wird sie mich
schützen? Werden sie mir glauben? Mich für einen Spinner halten?
Was denken die über meine heruntergekommene Wohnung? Werden sie mich
verdächtigen? Werden sie ihre Spielchen mit mir spielen? Über mich
herfallen? Sind das nicht auch alles so Teufelsgrubenburschen?
(Nummer 88 „Die Pachernegg-Szene“, hier, in der Schublade.)
Schließlich habe ich die Polizei nicht
angerufen. Die nachträglichen ideologischen Rechtfertigungen dafür
– was gehen mich Hungerleider die Banken und Geschäftsleute an –
waren natürlich nur vorgeschoben. Ich habe mich einfach nicht
wertvoll und selbstverständlich genug gefühlt, die Polizei rufen zu
dürfen. So einfach ist das.
Der
Fall des jungen Mannes, der jahrelang wegen eines Mordes, den er
nicht begangen hatte, unschuldig im Gefängnis saß, weil er dem
Druck der Polizei, ein Geständnis abzulegen, nicht standhalten
konnte – Oh wie gut ich ihn verstehe! Ich bin ja nichts. Und ich
könnte es ja getan
haben, in mir ist genug Dreck und Wut.
Solche Erlebnisse
wirken natürlich bestärkend auf dieses desaströse Selbstbild
zurück, denn was kann man schon von einem Zehnjährigen halten, der
sich in die Hose macht, weil er es nicht schafft, zum Onkel zu sagen:
„Bitte stehenbleiben! Ich muß jetzt pinkeln! Dringend!“? Oder von
einem erwachsenen Mann, der sich abschasseln läßt, sich nicht
behaupten, sich nicht durchsetzen kann? Nichts. Das Versagen ist
einem auf die Stirn geschrieben und wenn es wirklich jemand
übersieht, dann macht man ihn darauf aufmerksam.
In manche Sachen
rutscht man einfach so rein. Zum Beispiel, daß man, wenn man
studiert und den Antrag stellt, ein Stipendium bekommen kann, oder
wenn ein ordentlicher Arbeitsvertrag ausläuft, Arbeitslosengeld. Das
Kriterium dafür war nicht man selber als Person, sondern die
ausgefüllten Zettel. Und man ist sich der Wut und des Hasses der
Steuerzahler durchaus bewußt. Man fühlt sich schuldig und unwürdig.
Das ist beschämend. Ich erinnere mich genau, noch Jahre nach Bezug des
Arbeitslosengeldes wurde mir flau im Magen, wenn ich zufällig am
Arbeitsamt vorbeigekommen bin; nicht, weil ich dort so schlecht
behandelt worden wäre, sondern vor Scham. Egal was ich auf
intellektueller Ebene darüber geredet, welch Rechtfertigungen ich
mir zurecht gelegt hatte, das Gefühl war Scham.
Den ganzen Tag und
die ganze Nacht tue ich schon an diesem Text herum und ich merke, ich
bin in Gefahr, ein wenig in Verzweiflung zu fallen. Aber keine Sorge!
Ich habe mein ganzes Leben nichts anderes gemacht, als dieser
Verzweiflung standzuhalten, oder, wenn ich nachgegeben und in sie
gefallen bin, mich wieder heraus zu kämpfen. Allerdings ist mir so
kaum noch Energie für etwas anderes übrig geblieben. Aber ich bin
gut geübt darin.
Der springende
Punkt ist allerdings ganz woanders: das alles sind nämlich bloß
Gedanken. Nichts als internalisierte Dialoge, die einmal mit mir so
geführt wurden. Und so sehr diese Worte auch Fleisch geworden sein
mögen, das heißt, so sehr diese zum Selbstbild gewordenen Urteile
und Definitionen sich in meinem Leben, bis in meine
Lebensentscheidungen hinein, bis in die Körperhaltung, die
Bewegungen, Muskelaufbau, in meinem Körper und seinen Organen, in
jeder Faser, jeder Zelle abgelagert, bis in meinen Blick verwirklicht
haben, so sehr sie also Fleisch und Blut, Gestalt und Leben geworden
sind: in jedem Menschen gibt es einen Kern, der nicht verletzt werden
kann und der nicht verletzt ist. Den erreichen und die Sache ist
erledigt, zu dem vorstoßen und der Spuk ist vorbei und eine neue
Gestalt, ein neuer Mensch, ein neues Leben kann wachsen.
Es ist
jetzt Vieruhrdreißig In der Früh. Ich war schon eingeschlafen, aber
nach einer Stunde hat mich etwas im Schlaf aufgeschreckt; kein
Geräusch, kein Licht, nichts. Ich spürte jedoch etwas, das mir in
den Rücken fallen, mich von hinten angreifen will, eine unsichtbare,
unhörbare Macht; sie ist gerade noch vor der Zimmertür stehen
geblieben und lauert dort. Ich erwachte voller Angst, drehte mich
zur Tür um. Nichts. Eine Präsenz von etwas, das nichts ist. Das
Nichts hat versucht, mich zu attackieren? Ist der rasende Punkt schon
so nah?
Ich habe gelesen
und geschrieben. Gelesen und geschrieben. Draußen, vorm
Atelierfenster strahlte kurz Orion in seiner schönen Gestalt. Jetzt
bin ich erschöpft und müde. Die Gegenstände, die ich anschaue,
verschwimmen schon. Ich hoffe auf den Schlaf.
©Peter
Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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