Sonntag, 29. November 2015

240 Der Fluch der Scham


Die Innenseiten der äußeren Fensterflügel sind nicht beschlagen, aber es strömt frische, kalte Luft herein, die schon nach Schnee riecht. Das innere Bild einer Landschaft, die unter einer Schneedecke ruht. Absolut still. Fast absolut still. Die kalte Luft beginnt, meinen Hustenreiz in der Brust anzustacheln, aber ich kann ihn unterdrücken und – nein, doch nicht, zu spät. Ich huste wieder.

[Ich muß mich opfern. Ich bin es nicht wert, mich nicht zu opfern. Ich muß nur etwas finden, wofür es sich lohnt.] [Peter, solche Sätze hinschreiben und veröffentlichen ist nicht erlaubt. Hast du denn überhaupt keine Selbstachtung mehr? Muß du dich so in deinem Selbstmitleid gehen lassen? Oder was ist das? Welches Programm spulst du da ab? Wer spricht da eigentlich zu mir? Und wer hat vorher gesprochen? Wer hat das programmiert?] [Deine Halbschlafgedanken, dein innerer Monolog in Ehren, aber das geht nicht! Respekt dafür, dein inneres Gerede ungeschminkt darzustellen zu versuchen, aber das ist zu viel! Worum soll es da gehen?] Vielleicht über den Fluch der Scham.

Wenn ich von Scham spreche, meine ich die existentielle Scham. Die Scham darüber, daß es einen gibt, obwohl man nicht gut genug ist.

Diese Scham macht stumm. Fragt dich wer, wie es dir geht, sagst du: „gut“.
Diese Scham macht unsicher, weil du dich nicht traust, auf dein Empfinden zu achten, denn alles, was du bist und mit dir zu tun hat, ist nichts wert. Du spürst gar nicht mehr, was du empfindest. Du fühlst dich permanent unter Druck, von jedem, der in deine Nähe kommt. Es zerreißt dich, weil du allen Ansprüchen gerecht werden willst und die eigenen gar nicht kennst.

Du kannst nicht grüßen, wenn der andere nicht seine Bereitschaft, deinen Gruß entgegenzunehmen, signalisiert, weil du glaubst, du bist nicht würdig, einen anderen von dich aus anzusprechen. (Ein Untertan darf einen König, eine Königin nicht von sich aus ansprechen.) Deswegen vermeidest du es auch, den Namen deines Gegenüber in den Mund zu nehmen und hältst deinen Blick gesenkt.
Die Vorstellungen und Definitionen anderer Menschen über dich sind stärker als alles, was du zur Verfügung hast.

Die Scham hat viele Auswirkungen. Unter anderem, daß man gelähmt ist und sich nicht als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft fühlt, nicht artikulieren kann, nicht um Hilfe rufen. Dazu gehört auch die Tendenz, der Relativierung, Herabsetzung, Unwichtigerklärung eigener Ansprüche, Leiden, Bedürfnisse etcetera sofort, oft schon vorauseilend, zuzustimmen. So habe ich mich - schon ein Volksschulkind - zweimal angebrunzt, weil ich nicht sagen konnte, wie dringend ich auf die Toilette mußte. Zum Beispiel allein mit meinem Onkel im Auto; ich sage, ich muß aufs Klo; er – das geht jetzt nicht – und damit war die Sache erledigt. Auch als er zwei Stunden lang keine Anstalten machte, stehenzubleiben, habe ich es nicht gewagt, ein zweites oder drittesmal zu insistieren; und als ich es nicht mehr zurückhalten konnte – tja...

Auch anderen Autoritäten gegenüber (und das sind fast alle, selber zählt man ja nicht), meistens bereits auf die Atmosphäre reagierend, bevor noch etwas gesagt ist. Zum Beispiel beim Arzt; auch heute noch. Man sagt, daß man da etwas spürt oder einem komisch vorkommt, und wenn der Arzt darauf nicht eingeht – fertig. Aus. Manches wage ich gar nicht anzusprechen, weil es wahrscheinlich zu unwichtig ist. Und bei jedem Krankenstand bekommt man es mit Schuldgefühlen zu tun. Und weil man als aufgeklärter Mensch so nicht denkt, aber als Beschämter genau so fühlt, ist das oft nicht im Vordergrund, sondern wirkt, gleich unter der Oberfläche der offiziellen Statements als permanentes Hintergrundrauschen.

Man macht auch keine Anzeige bei der Polizei. In eigener Sache schon gar nicht - die Sache ist sicher zu dünn - bei den Angelegenheiten anderer auch eher nicht.
Einmal – damals wohnte ich in einer Bruchbude im Erdgeschoß – sah ich beim Lüften in der Nacht, da machen sich welche bei der Bank da vorne an der Ecke zu schaffen. Zuerst war ich mir unsicher, ob ich das Geschehen dort richtig interpretiere – ich verstehe ja nichts von der Welt – als es schon sehr deutlich war, daß die Männer die Schließfächer für Geschäftsleute, die da nach Bankschluß ihre Tageslosungen deponiert haben, ausräumen, hatte ich schon die Idee, die Polizei anzurufen. Wenn die das aber merken und beim Fenster einsteigen? Und die Polizei, wenn ich sie rufe, was macht sie dann? Wird sie mich schützen? Werden sie mir glauben? Mich für einen Spinner halten? Was denken die über meine heruntergekommene Wohnung? Werden sie mich verdächtigen? Werden sie ihre Spielchen mit mir spielen? Über mich herfallen? Sind das nicht auch alles so Teufelsgrubenburschen? (Nummer 88 „Die Pachernegg-Szene“, hier, in der Schublade.) Schließlich habe ich die Polizei nicht angerufen. Die nachträglichen ideologischen Rechtfertigungen dafür – was gehen mich Hungerleider die Banken und Geschäftsleute an – waren natürlich nur vorgeschoben. Ich habe mich einfach nicht wertvoll und selbstverständlich genug gefühlt, die Polizei rufen zu dürfen. So einfach ist das.
Der Fall des jungen Mannes, der jahrelang wegen eines Mordes, den er nicht begangen hatte, unschuldig im Gefängnis saß, weil er dem Druck der Polizei, ein Geständnis abzulegen, nicht standhalten konnte – Oh wie gut ich ihn verstehe! Ich bin ja nichts. Und ich könnte es ja getan haben, in mir ist genug Dreck und Wut.

Solche Erlebnisse wirken natürlich bestärkend auf dieses desaströse Selbstbild zurück, denn was kann man schon von einem Zehnjährigen halten, der sich in die Hose macht, weil er es nicht schafft, zum Onkel zu sagen: „Bitte stehenbleiben! Ich muß jetzt pinkeln! Dringend!“? Oder von einem erwachsenen Mann, der sich abschasseln läßt, sich nicht behaupten, sich nicht durchsetzen kann? Nichts. Das Versagen ist einem auf die Stirn geschrieben und wenn es wirklich jemand übersieht, dann macht man ihn darauf aufmerksam.

In manche Sachen rutscht man einfach so rein. Zum Beispiel, daß man, wenn man studiert und den Antrag stellt, ein Stipendium bekommen kann, oder wenn ein ordentlicher Arbeitsvertrag ausläuft, Arbeitslosengeld. Das Kriterium dafür war nicht man selber als Person, sondern die ausgefüllten Zettel. Und man ist sich der Wut und des Hasses der Steuerzahler durchaus bewußt. Man fühlt sich schuldig und unwürdig. Das ist beschämend. Ich erinnere mich genau, noch Jahre nach Bezug des Arbeitslosengeldes wurde mir flau im Magen, wenn ich zufällig am Arbeitsamt vorbeigekommen bin; nicht, weil ich dort so schlecht behandelt worden wäre, sondern vor Scham. Egal was ich auf intellektueller Ebene darüber geredet, welch Rechtfertigungen ich mir zurecht gelegt hatte, das Gefühl war Scham.

Den ganzen Tag und die ganze Nacht tue ich schon an diesem Text herum und ich merke, ich bin in Gefahr, ein wenig in Verzweiflung zu fallen. Aber keine Sorge! Ich habe mein ganzes Leben nichts anderes gemacht, als dieser Verzweiflung standzuhalten, oder, wenn ich nachgegeben und in sie gefallen bin, mich wieder heraus zu kämpfen. Allerdings ist mir so kaum noch Energie für etwas anderes übrig geblieben. Aber ich bin gut geübt darin.

Der springende Punkt ist allerdings ganz woanders: das alles sind nämlich bloß Gedanken. Nichts als internalisierte Dialoge, die einmal mit mir so geführt wurden. Und so sehr diese Worte auch Fleisch geworden sein mögen, das heißt, so sehr diese zum Selbstbild gewordenen Urteile und Definitionen sich in meinem Leben, bis in meine Lebensentscheidungen hinein, bis in die Körperhaltung, die Bewegungen, Muskelaufbau, in meinem Körper und seinen Organen, in jeder Faser, jeder Zelle abgelagert, bis in meinen Blick verwirklicht haben, so sehr sie also Fleisch und Blut, Gestalt und Leben geworden sind: in jedem Menschen gibt es einen Kern, der nicht verletzt werden kann und der nicht verletzt ist. Den erreichen und die Sache ist erledigt, zu dem vorstoßen und der Spuk ist vorbei und eine neue Gestalt, ein neuer Mensch, ein neues Leben kann wachsen.

Es ist jetzt Vieruhrdreißig In der Früh. Ich war schon eingeschlafen, aber nach einer Stunde hat mich etwas im Schlaf aufgeschreckt; kein Geräusch, kein Licht, nichts. Ich spürte jedoch etwas, das mir in den Rücken fallen, mich von hinten angreifen will, eine unsichtbare, unhörbare Macht; sie ist gerade noch vor der Zimmertür stehen geblieben und lauert dort. Ich erwachte voller Angst, drehte mich zur Tür um. Nichts. Eine Präsenz von etwas, das nichts ist. Das Nichts hat versucht, mich zu attackieren? Ist der rasende Punkt schon so nah?

Ich habe gelesen und geschrieben. Gelesen und geschrieben. Draußen, vorm Atelierfenster strahlte kurz Orion in seiner schönen Gestalt. Jetzt bin ich erschöpft und müde. Die Gegenstände, die ich anschaue, verschwimmen schon. Ich hoffe auf den Schlaf.



















©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com


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