234 Meine „Heldentat“
Bevor ich meine „Heldentat“
erzähle, muß ich noch vorausschicken, daß ich in meiner Kindheit
alle Raufereien und Kämpfe verloren habe. Ich war den Sticheleien,
Aggressionen, Übergriffen, Hierarchiekämpfen hilflos ausgeliefert;
ich konnte mich nicht wehren, ich konnte nicht gewinnen. Das galt
auch jüngeren gegenüber, was in diesen Jahren besonders peinlich
ist. Nur einmal war ich dann so in Wut, daß ich den Kerl zu Boden
riß, mich auf ihn draufsetzte und gerade auf ihn einzuschlagen
begann, als sich hinter mir unser Wohnzimmerfenster öffnete, meine
Mutter herausschaute und rief: „Ja, hau ihn nur! Hau ihn!“ Dabei
zappelte sie sie aufge- und erregt und es war offensichtlich, daß
sie sich an meinem sich abzuzeichnenden Sieg begeilen wollte. Das ist
keine Übertreibung – ich beschreibe nur nüchtern, klar und
deutlich, was sich da abspielte. Sofort brach ich den Kampf ab und
stieg vom Gegner herunter und ging weg.
Denn das ist klar, diese
„Prinzessin“ wollte ich weder bei diesem noch bei irgendeinem anderen Kampf gewinnen, auf
keinen Fall! Darum ist es mir nicht gegangen, das war mein
Kampf; mein Sieg sollte mir Platz
und Respekt in dieser Welt verschaffen; ich
sollte damit Terrain gewinnen. Es ging nicht darum, die auf mich
projizierten Größenwahnvorstellungen meiner frustrierten,
aufgekratzten Mutter zu befriedigen, noch dazu, weil das zu ihrer
Strategie gehörte, mich gegen meinen Vater zu stellen. Ich sollte
für sie den ungeliebten Mann besiegen, damit sie mich, den Stellvertreter (Peter) für den Eigentlichen, dann an seine
Stelle als ihren Partner installieren kann. Meine bedingungslose
Unterwerfung unter den Vater, den schwachen König, gehörte dann zu
den folgenschweren Auswirkungen dieser Konstellation, weil ich ihn
als Schutz vor den Avancen meiner Mutter brauchte, auch um den Preis
der Selbstaufgabe. Da hat der Döbereiner, von dem ich diese Analyse gelernt habe, schon recht, daß sich die
ganzen archaischen und griechischen Tragödien heutzutage in zivilisatorischer
Verkleidung noch genauso und in voller Grausamkeit abspielen.
Aber
genug zu diesem unappetitlichen Thema. Meine in der Kindheit daraus
erlernte Strategie war dann eben, entweder alle Kämpfe zu vermeiden, oder, wenn das nicht ging, gleich „ich gebe auf!“ zu signalisieren
und mich dem Gegner von vornherein zu unterwerfen, die Überlegenheit
des anderen – zumindest nach außen hin – anzuerkennen, egal, was
ich von dem Burschen wirklich hielt. Im Inneren nämlich, in
Gedanken, da konnte ich natürlich denken, „das ist ein Trottel“
oder „ist der primitiv!“ - meistens erst hinterher, nachdem der
Schock nachgelassen hat. Oder was ich auch immer für Verurteilungen
brauchte, um nicht auch seelisch völlig unterzugehen, sondern
wenigstens innerlich, im Geheimen, eine wenn auch bloß ausgedachte
Überlegenheit zu wahren.
Später,
als Jugendlicher, hielt ich im Grunde diese erlernte Strategie bei,
sie war schon angewachsen und das Ganze gehörte schon zu meinem
Habitus. Im Gymnasium und vor allem in meiner Grazer Studentenzeit
lernte ich die intellektuelle Variante solcher Kämpfe kennen. Da
traute ich mich manchmal auch ein wenig zu sticheln – ironisch
natürlich, mit einem Grinsen, das dem anderen signalisierte: ich
stelle deine Überlegenheit eh nicht ernsthaft in Frage, ich spiele
nur ein bißchen herum. (Auch da hat Döbereiner recht: das
Intellektuelle – im Gegensatz zum Geistigen – als
steckengebliebene Aggression; in ihrer Wirkung destruktiv, ob nach
innen oder außen)
Nur
zur Illustration über meine Stand damals in dieser herrlichen Welt: als
junger Student nahmen mich Freunde zu einem Volksfest in der
Oststeiermark mit. Ich hatte bei ihnen damals den Spitznamen
„Oberförster“, weil ich zwar lange Haare und Bart trug, aber
gegen jeden Trend des Zeitgeistes auch ein Trachtenjöpperl, für mich auch eine Reminiszenz an den Maoanzug. Und als dort auf diesem Fest
irgendein Eingeborener zu mir etwas sagte, das mich provozieren
sollte, wenn ich mich richtig erinnere, auf meinen Spitznamen
bezogen, den er gehört haben mußte, antwortete ich, schon halbwegs
betrunken, im jovialen Tonfall, unernst, mit versöhnlichem Lächeln,
durch die Trunkenheit fröhlich und natürlich ironisch: „ach! So
schnell haut den Oberförster auch nichts um!“ und – prack! -
hatte ich einen Faustschlag im Gesicht und bin benommen am Boden
gelegen, sodaß ich nicht mehr alleine aufstehen konnte. Die Freunde
hatten dann alle Hände voll zu tun, den Typen davon abzuhalten, auf
mich weiter einzudreschen. Was sich bei ihm zeigte, war natürlich
der Hass auf die „Studenten und Gstudierten“, im Kern eigentlich ein Hass auf das Geistige und auf alles, was danach "riecht", ein Hass, wie er in unserem
Volk stark verwurzelt ist und sich zum Beispiel auch im
Nationalsozialismus – als kleiner Hinweis: auch mein Vater und
Brüder meiner Mutter waren bei der SS – gewalttätig, vor allem
gegen Juden und jüdische oder nichtjüdische Kulturschaffende, Religiöse und andere Bahn
gebrochen hat und heute noch genauso da ist und auf seine Chance
wartet, endlich wieder offen ausbrechen zu dürfen.
Natürlich
war es von mir eine Anmaßung, mich selbst als „Oberförster“ zu
bezeichnen und das Trachtenjöpperl – noch dazu im Kontext mit Mao
– zu tragen und eigentlich überhaupt dort auf einem Volksfest zu
sein, wo ich doch gar nicht zum Volk gehöre, sondern fremd in dieser
Welt bin. Aber was dieser Primitive nicht verstehen wollte war, daß
ich mich damit in erster Linie über mich selber lustig machte. Gut,
jetzt bin ich wieder in meine Arroganz gerutscht. Egal! Genug davon
und von Vorgeschichten und Abschweifungen. Zurück zu meiner
„Heldentat“.
Das
spielte sich ein paar Jahre später in meiner Grazer Studentenzeit
ab. Ich jobbte nebenbei als Nachtwächter und hatte bei der Duropack
in Kalsdorf etwas außerhalb von Graz am Wochenende Tagdienst. Nach
Dienstschluß fuhr ich mit einem typischen Pendlerzug nach Graz. Der
war ziemlich voll besetzt. Ich fand meinen Platz und ich tat das, was
ich im Zug am liebsten mache: ich schaute aus der beengenden
Verstelltheit des irdischen, dualen Raumes in innerer Flucht zum
Fenster hinaus, die vorbeiziehende Landschaft und ihren Himmel zu
betrachten. Die Fahrgäste habe ich nur kurz registriert, wie man es
halt so macht, um potentielle Bedrohungen aufzuspüren. Aufgefallen
sind mir dabei zwei primitiv wirkende, betrunkene Burschen, die sich
zu zwei jungen Mädchen – auch nicht gerade hübsch – setzten,
die sie offensichtlich nicht kannten, und die sie nun begannen, wie
man so schön sagt – anzubaggern. Ich kümmerte mich nicht darum
und schaute weiter sehnsuchtsvoll und mit innerer Anteilnahme die
Gegend im Abendlicht betrachtend aus dem Fenster.
Doch
was sich dort bei den vier abspielte, begann immer mehr zu kippen.
Anfänglich war es noch etwas, das ich als ein typisches
Unterschichtsgeflirte abhakte – auftrumpfende, angeberische und
verbalaggressive Ansagen der Burschen und – tja! - mitspielendes,
vielleicht auch zeitgewinnendes Gekicher der Mädchen. So, daß ich
den Eindruck hatte, die Mädchen spielen da voll mit und es gefällt
ihnen eh. Aber jetzt fingen die betrunkenen Helden an, die Mädchen
körperlich zu bedrängen, anzugrapschen und ihr „Recht“ auf die
Weiber einzufordern. Und es war unübersehbar, daß die Mädchen
Angst hatten. Ich schaute nicht mehr zum Fenster hinaus, sondern mit
möglichst gleichgültigem und abwesendem Gesicht auf die Szene,
innerlich schon mit aufsteigender Angst. Aggressivität macht mir
immer Angst; es braucht nur wer im Raum schreien und ich zucke
zusammen.
Dann
schaute ich mich im Waggon um. Die ganze Angestellten- und
Arbeiterklasse war vertreten, wohl auch einige Schüler und
Schülerinnen. Jedenfalls waren auch ein paar kräftige Männer
darunter, die wie bodenständige Arbeiter oder Handwerker wirkten,
aber alle schauten weg und taten so, als würden sie das nicht
mitbekommen. Diese ganzen Typen, die sonst immer schnell mit „Denen
gehört doch...“ oder „wenn ich was zu sagen hätte, ich würde
denen...“ zur Hand, oder richtiger gesagt, zu Maul sind, nein, von
denen kam kein Muckser. Alle feig. Ich denke noch – muß
ausgerechnet ich, der – volkstümlich gesehen - Loser und Versager,
den Mädchen helfen?
Meine
Angst war groß, mein Herz klopfte wie wild, aber schließlich konnte
ich nicht anders: ich stehe auf, setze mir die Maske der Gelassenheit
auf, unterdrücke mit aller Kraft mein Zittern und gehe zu den
Burschen. Die Mädchen versuchten die ganze Zeit schon in Panik zu
fliehen, aber die Typen hatten ihnen mit ihrer breiten körperlichen
Präsenz den Fluchtweg abgeschnitten und beschimpften sie aggressiv,
während sie sie weiter abzugrapschen versuchten. Ich klopfte dem
einen, der mir näher stand, auf die Schulter und sagte: „Ach
geht’s! Laßt's die Dirndln doch in Ruh!“ Er antwortet irgendwas
wie „diese blöden Weiber – zuerst tun sie so und dann wollen sie
doch nicht!“ Ich sagte. „Ja, da hast du recht! Aber laßt's die
blöden Weiber laufen! Denen nachzurennen habt's
ihr doch nicht nötig! Solche Burschen wie ihr!"
Dadurch,
daß ich den einen ablenken konnte, gelang jetzt den Mädchen die
Flucht, der andere, mit dem ich nicht im Gespräch stand, ließ sich nicht abhalten, die Mädchen durch den Zug zu verfolgen. Der
Typ, der bei mir stand, sagte: „Bist leicht a Hascher?“ Ich wußte
damals noch gar nicht, daß im Sprachgebrauch des Volkes „Hascher“
Student bedeutete, sondern glaubte, er meine einfach nur
Haschischraucher – schließlich trug ich ja lange Haare – und
antwortete: „Ja, ein wenig“, obwohl ich damals noch gar keinen
Haschischrausch erlebt hatte. Ich wechselte mit ihm noch ein paar
Worte über die „blöden Weiber“ - selber war ich auch noch
jungfräulich - oder doch nicht mehr? - jedenfalls bei Frauen nicht
erfolgreich – als der andere von seiner Jagd zurückkam und
ersterem berichtete: „Scheiße, sie sind mir entwischt!“ Ich
sagte auch zu ihm etwas wie „laßt sie doch! Ihr habt's das nicht
notwendig!“ und irgendwie beruhigte sich die Situation und sie
setzten sich wieder hin und widmeten sich ihren Getränken und auch
ich ging auf meinen Platz zurück.
Die
Situation mag sich beruhigt haben, aber ich noch nicht. Mir
schlotterten die Knie, am ganzen Körper zitterte ich vor Angst,
bemüht, es nach außen zu verbergen. Wenn die mein Manöver
durchschauen! Von wegen „Burschen wie ihr!“ - in Wirklichkeit
hielt ich sie für primitive Trotteln. Und von wegen „Ihr habt das
nicht notwendig!“ - au weh! Hoffentlich dämmert es ihnen in ihren
Rauschhirnen nicht, bevor ich in Graz aussteigen kann!
Irgendwann
nach bangen Minuten erreichen wir endlich Graz, Endstation, alle
steigen aus, auch die Burschen, ich grüße sie noch mit einer
jovialen Geste, und wie es so ist, die beiden Mädchen laufen mir
noch über den Weg oder ich ihnen. Jedenfalls funkeln sie mich böse
an, weil sie noch gehört hatten, daß ich von „blöden Weibern“
gefaselt habe. Mein Gott! Diese dummen und primitiven Gänse! Jetzt
sind sie deswegen beleidigt! Habt denn ihr Dummis nicht kapiert, daß
ich den Typen einen Ausweg anbieten mußte, daß sie ohne gröberen
Gesichtsverlust von ihrem Eroberungsfeldzug ohne Beute zurückkehren
können, um ihre Aggressionen und ihre Gewalttätigkeit
herunterzuschrauben? Und daß das ein genialer Schachzug von mir war,
ihnen „ach, die Weiber sind eh nicht gut genug für uns“
anzubieten? Und daß das schließlich zum Erfolg geführt hat? Hä?!
Und daß - verdammt noch mal! - ich ihnen meinen Arsch hingehalten
habe, damit ihr blöden Weiber davonlaufen könnt?! Ach!
©Peter
Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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