Freitag, 20. November 2015

234 Meine „Heldentat“


Bevor ich meine „Heldentat“ erzähle, muß ich noch vorausschicken, daß ich in meiner Kindheit alle Raufereien und Kämpfe verloren habe. Ich war den Sticheleien, Aggressionen, Übergriffen, Hierarchiekämpfen hilflos ausgeliefert; ich konnte mich nicht wehren, ich konnte nicht gewinnen. Das galt auch jüngeren gegenüber, was in diesen Jahren besonders peinlich ist. Nur einmal war ich dann so in Wut, daß ich den Kerl zu Boden riß, mich auf ihn draufsetzte und gerade auf ihn einzuschlagen begann, als sich hinter mir unser Wohnzimmerfenster öffnete, meine Mutter herausschaute und rief: „Ja, hau ihn nur! Hau ihn!“ Dabei zappelte sie sie aufge- und erregt und es war offensichtlich, daß sie sich an meinem sich abzuzeichnenden Sieg begeilen wollte. Das ist keine Übertreibung – ich beschreibe nur nüchtern, klar und deutlich, was sich da abspielte. Sofort brach ich den Kampf ab und stieg vom Gegner herunter und ging weg.

Denn das ist klar, diese „Prinzessin“ wollte ich weder bei diesem noch bei irgendeinem anderen Kampf gewinnen, auf keinen Fall! Darum ist es mir nicht gegangen, das war mein Kampf; mein Sieg sollte mir Platz und Respekt in dieser Welt verschaffen; ich sollte damit Terrain gewinnen. Es ging nicht darum, die auf mich projizierten Größenwahnvorstellungen meiner frustrierten, aufgekratzten Mutter zu befriedigen, noch dazu, weil das zu ihrer Strategie gehörte, mich gegen meinen Vater zu stellen. Ich sollte für sie den ungeliebten Mann besiegen, damit sie mich, den Stellvertreter (Peter) für den Eigentlichen, dann an seine Stelle als ihren Partner installieren kann. Meine bedingungslose Unterwerfung unter den Vater, den schwachen König, gehörte dann zu den folgenschweren Auswirkungen dieser Konstellation, weil ich ihn als Schutz vor den Avancen meiner Mutter brauchte, auch um den Preis der Selbstaufgabe. Da hat der Döbereiner, von dem ich diese Analyse gelernt habe, schon recht, daß sich die ganzen archaischen und griechischen Tragödien heutzutage in zivilisatorischer Verkleidung noch genauso und in voller Grausamkeit abspielen.

Aber genug zu diesem unappetitlichen Thema. Meine in der Kindheit daraus erlernte Strategie war dann eben, entweder alle Kämpfe zu vermeiden, oder, wenn das nicht ging, gleich „ich gebe auf!“ zu signalisieren und mich dem Gegner von vornherein zu unterwerfen, die Überlegenheit des anderen – zumindest nach außen hin – anzuerkennen, egal, was ich von dem Burschen wirklich hielt. Im Inneren nämlich, in Gedanken, da konnte ich natürlich denken, „das ist ein Trottel“ oder „ist der primitiv!“ - meistens erst hinterher, nachdem der Schock nachgelassen hat. Oder was ich auch immer für Verurteilungen brauchte, um nicht auch seelisch völlig unterzugehen, sondern wenigstens innerlich, im Geheimen, eine wenn auch bloß ausgedachte Überlegenheit zu wahren.

Später, als Jugendlicher, hielt ich im Grunde diese erlernte Strategie bei, sie war schon angewachsen und das Ganze gehörte schon zu meinem Habitus. Im Gymnasium und vor allem in meiner Grazer Studentenzeit lernte ich die intellektuelle Variante solcher Kämpfe kennen. Da traute ich mich manchmal auch ein wenig zu sticheln – ironisch natürlich, mit einem Grinsen, das dem anderen signalisierte: ich stelle deine Überlegenheit eh nicht ernsthaft in Frage, ich spiele nur ein bißchen herum. (Auch da hat Döbereiner recht: das Intellektuelle – im Gegensatz zum Geistigen – als steckengebliebene Aggression; in ihrer Wirkung destruktiv, ob nach innen oder außen)

Nur zur Illustration über meine Stand damals in dieser herrlichen Welt: als junger Student nahmen mich Freunde zu einem Volksfest in der Oststeiermark mit. Ich hatte bei ihnen damals den Spitznamen „Oberförster“, weil ich zwar lange Haare und Bart trug, aber gegen jeden Trend des Zeitgeistes auch ein Trachtenjöpperl, für mich auch eine Reminiszenz an den Maoanzug. Und als dort auf diesem Fest irgendein Eingeborener zu mir etwas sagte, das mich provozieren sollte, wenn ich mich richtig erinnere, auf meinen Spitznamen bezogen, den er gehört haben mußte, antwortete ich, schon halbwegs betrunken, im jovialen Tonfall, unernst, mit versöhnlichem Lächeln, durch die Trunkenheit fröhlich und natürlich ironisch: „ach! So schnell haut den Oberförster auch nichts um!“ und – prack! - hatte ich einen Faustschlag im Gesicht und bin benommen am Boden gelegen, sodaß ich nicht mehr alleine aufstehen konnte. Die Freunde hatten dann alle Hände voll zu tun, den Typen davon abzuhalten, auf mich weiter einzudreschen. Was sich bei ihm zeigte, war natürlich der Hass auf die „Studenten und Gstudierten“, im Kern eigentlich ein Hass auf das Geistige und auf alles, was danach "riecht", ein Hass, wie er in unserem Volk stark verwurzelt ist und sich zum Beispiel auch im Nationalsozialismus – als kleiner Hinweis: auch mein Vater und Brüder meiner Mutter waren bei der SS – gewalttätig, vor allem gegen Juden und jüdische oder nichtjüdische Kulturschaffende, Religiöse und andere Bahn gebrochen hat und heute noch genauso da ist und auf seine Chance wartet, endlich wieder offen ausbrechen zu dürfen.
Natürlich war es von mir eine Anmaßung, mich selbst als „Oberförster“ zu bezeichnen und das Trachtenjöpperl – noch dazu im Kontext mit Mao – zu tragen und eigentlich überhaupt dort auf einem Volksfest zu sein, wo ich doch gar nicht zum Volk gehöre, sondern fremd in dieser Welt bin. Aber was dieser Primitive nicht verstehen wollte war, daß ich mich damit in erster Linie über mich selber lustig machte. Gut, jetzt bin ich wieder in meine Arroganz gerutscht. Egal! Genug davon und von Vorgeschichten und Abschweifungen. Zurück zu meiner „Heldentat“.

Das spielte sich ein paar Jahre später in meiner Grazer Studentenzeit ab. Ich jobbte nebenbei als Nachtwächter und hatte bei der Duropack in Kalsdorf etwas außerhalb von Graz am Wochenende Tagdienst. Nach Dienstschluß fuhr ich mit einem typischen Pendlerzug nach Graz. Der war ziemlich voll besetzt. Ich fand meinen Platz und ich tat das, was ich im Zug am liebsten mache: ich schaute aus der beengenden Verstelltheit des irdischen, dualen Raumes in innerer Flucht zum Fenster hinaus, die vorbeiziehende Landschaft und ihren Himmel zu betrachten. Die Fahrgäste habe ich nur kurz registriert, wie man es halt so macht, um potentielle Bedrohungen aufzuspüren. Aufgefallen sind mir dabei zwei primitiv wirkende, betrunkene Burschen, die sich zu zwei jungen Mädchen – auch nicht gerade hübsch – setzten, die sie offensichtlich nicht kannten, und die sie nun begannen, wie man so schön sagt – anzubaggern. Ich kümmerte mich nicht darum und schaute weiter sehnsuchtsvoll und mit innerer Anteilnahme die Gegend im Abendlicht betrachtend aus dem Fenster.

Doch was sich dort bei den vier abspielte, begann immer mehr zu kippen. Anfänglich war es noch etwas, das ich als ein typisches Unterschichtsgeflirte abhakte – auftrumpfende, angeberische und verbalaggressive Ansagen der Burschen und – tja! - mitspielendes, vielleicht auch zeitgewinnendes Gekicher der Mädchen. So, daß ich den Eindruck hatte, die Mädchen spielen da voll mit und es gefällt ihnen eh. Aber jetzt fingen die betrunkenen Helden an, die Mädchen körperlich zu bedrängen, anzugrapschen und ihr „Recht“ auf die Weiber einzufordern. Und es war unübersehbar, daß die Mädchen Angst hatten. Ich schaute nicht mehr zum Fenster hinaus, sondern mit möglichst gleichgültigem und abwesendem Gesicht auf die Szene, innerlich schon mit aufsteigender Angst. Aggressivität macht mir immer Angst; es braucht nur wer im Raum schreien und ich zucke zusammen.

Dann schaute ich mich im Waggon um. Die ganze Angestellten- und Arbeiterklasse war vertreten, wohl auch einige Schüler und Schülerinnen. Jedenfalls waren auch ein paar kräftige Männer darunter, die wie bodenständige Arbeiter oder Handwerker wirkten, aber alle schauten weg und taten so, als würden sie das nicht mitbekommen. Diese ganzen Typen, die sonst immer schnell mit „Denen gehört doch...“ oder „wenn ich was zu sagen hätte, ich würde denen...“ zur Hand, oder richtiger gesagt, zu Maul sind, nein, von denen kam kein Muckser. Alle feig. Ich denke noch – muß ausgerechnet ich, der – volkstümlich gesehen - Loser und Versager, den Mädchen helfen?

Meine Angst war groß, mein Herz klopfte wie wild, aber schließlich konnte ich nicht anders: ich stehe auf, setze mir die Maske der Gelassenheit auf, unterdrücke mit aller Kraft mein Zittern und gehe zu den Burschen. Die Mädchen versuchten die ganze Zeit schon in Panik zu fliehen, aber die Typen hatten ihnen mit ihrer breiten körperlichen Präsenz den Fluchtweg abgeschnitten und beschimpften sie aggressiv, während sie sie weiter abzugrapschen versuchten. Ich klopfte dem einen, der mir näher stand, auf die Schulter und sagte: „Ach geht’s! Laßt's die Dirndln doch in Ruh!“ Er antwortet irgendwas wie „diese blöden Weiber – zuerst tun sie so und dann wollen sie doch nicht!“ Ich sagte. „Ja, da hast du recht! Aber laßt's die blöden Weiber laufen! Denen nachzurennen habt's ihr doch nicht nötig! Solche Burschen wie ihr!"

Dadurch, daß ich den einen ablenken konnte, gelang jetzt den Mädchen die Flucht, der andere, mit dem ich nicht im Gespräch stand, ließ sich nicht abhalten, die Mädchen durch den Zug zu verfolgen. Der Typ, der bei mir stand, sagte: „Bist leicht a Hascher?“ Ich wußte damals noch gar nicht, daß im Sprachgebrauch des Volkes „Hascher“ Student bedeutete, sondern glaubte, er meine einfach nur Haschischraucher – schließlich trug ich ja lange Haare – und antwortete: „Ja, ein wenig“, obwohl ich damals noch gar keinen Haschischrausch erlebt hatte. Ich wechselte mit ihm noch ein paar Worte über die „blöden Weiber“ - selber war ich auch noch jungfräulich - oder doch nicht mehr? - jedenfalls bei Frauen nicht erfolgreich – als der andere von seiner Jagd zurückkam und ersterem berichtete: „Scheiße, sie sind mir entwischt!“ Ich sagte auch zu ihm etwas wie „laßt sie doch! Ihr habt's das nicht notwendig!“ und irgendwie beruhigte sich die Situation und sie setzten sich wieder hin und widmeten sich ihren Getränken und auch ich ging auf meinen Platz zurück.

Die Situation mag sich beruhigt haben, aber ich noch nicht. Mir schlotterten die Knie, am ganzen Körper zitterte ich vor Angst, bemüht, es nach außen zu verbergen. Wenn die mein Manöver durchschauen! Von wegen „Burschen wie ihr!“ - in Wirklichkeit hielt ich sie für primitive Trotteln. Und von wegen „Ihr habt das nicht notwendig!“ - au weh! Hoffentlich dämmert es ihnen in ihren Rauschhirnen nicht, bevor ich in Graz aussteigen kann!

Irgendwann nach bangen Minuten erreichen wir endlich Graz, Endstation, alle steigen aus, auch die Burschen, ich grüße sie noch mit einer jovialen Geste, und wie es so ist, die beiden Mädchen laufen mir noch über den Weg oder ich ihnen. Jedenfalls funkeln sie mich böse an, weil sie noch gehört hatten, daß ich von „blöden Weibern“ gefaselt habe. Mein Gott! Diese dummen und primitiven Gänse! Jetzt sind sie deswegen beleidigt! Habt denn ihr Dummis nicht kapiert, daß ich den Typen einen Ausweg anbieten mußte, daß sie ohne gröberen Gesichtsverlust von ihrem Eroberungsfeldzug ohne Beute zurückkehren können, um ihre Aggressionen und ihre Gewalttätigkeit herunterzuschrauben? Und daß das ein genialer Schachzug von mir war, ihnen „ach, die Weiber sind eh nicht gut genug für uns“ anzubieten? Und daß das schließlich zum Erfolg geführt hat? Hä?! Und daß - verdammt noch mal! - ich ihnen meinen Arsch hingehalten habe, damit ihr blöden Weiber davonlaufen könnt?!      Ach!













©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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