232 Schreiben
Heute ist es so, daß mir nichts zu
schreiben einfallen wird. Es ist schon spät, die beste Zeit zum
morgendlichen Schreiben habe ich längst verpasst und am Gang draußen
wird irgendetwas gearbeitet – gebohrt, gehämmert, was weiß ich.
Unten spielen fröhlich und laut die Tageskinder. Es ist nach zehn
und ich bin hungrig, aber ich will nicht hinuntergehen zum
Frühstücken, weil bald die Magistratsabteilung elf zur Kontrolle
kommen wird; denen will ich nicht unbedingt begegnen. Bei allen
Kontrollen der Obrigkeit fühle ich mich von vornherein als zu
schlecht, minderwertig, als jemand, der den Ansprüchen nie gerecht
wird, auch wenn es gar nicht um mich geht, wie jetzt. Mir ist soetwas
äußerst unangenehm.
Der Wind draußen ist so stark, daß er
bei geschlossenem Fenster die Jalousie bewegt und ich ihn hier im
Zimmer auf der Haut spüren kann. Er burrt vor sich her und irgendwo
rumpelt etwas, das der Wind mit seinem Rütteln in Bewegung oder
Schwingung versetzt hat.
Ich stelle mir die Kontrollen immer
männlich vor, aber hier wird es eine freundliche Dame sein und sie
ist unten gerade hereingekommen, wie ich höre.
Ein Kind unten rasselt und scheppert
mit etwas. Auf einmal jedoch ist es ganz still; einen kurzen Moment
verstummt der Wind, niemand redet, keines der Kinder ist zu hören.
Dann fangen die Geräusche wieder an, aber nicht plötzlich, sondern
ganz allmählich; als müßten sie sich aus der Stille heraus wieder
neu erfinden, beginnen sie zunächst sporadisch, leise und steigern
sich in einer sanft ansteigenden Lärmkurve auf ihr vorheriges
Niveau.
Wenn ich schreibe, komme ich ins
Gleichgewicht. Das ganze Unglück meines Lebens wird durch Schreiben
erträglich und ich werde mit meinem Schicksal versöhnt. Wenn ich
unrund bin, rundet es mich ab. Wenn ich zerstreut bin, sammelt es
mich. Wenn ich in den Schreibfluß komme, lebe ich. Fast hätte ich
hingeschrieben: nur wenn ich
in den Schreibfluß komme, lebe ich. Aber irgendeine Instanz in mir
streicht das „nur“ durch. Eine Zensurinstanz, die meint, dieses
„nur“ wäre dem Leben, meiner Frau, meinen Kindern gegenüber
unfair und ungerecht. (Und das stimmt! Ich brauche mich zum Beispiel
nur an die Intensität und Trance erinnern, die ich bei der Geburt
der Kinder erlebt habe. Meine innere Zensurbehörde hat recht!)
Vielleicht
habe ich es beim Schreiben mit einer Art Selbstvergewisserung zu tun.
Ich bin ja wie ein „Blatt im Wind“, von allem und jedem
herumgeblasen, ohne innere Stabilität; je nachdem, mit wem ich
gerade gesprochen habe, je nachdem, was ich gerade gelesen habe,
denke ich so oder ganz anders. Ich gebe jedem und allen recht. Ich
fühle keinen Kern in mir. Nur Schichten wie bei einer Zwiebel,
möglicherweise innen verfault. Obwohl, das kann nicht sein! Aber ich
fühle den gesunden Kern nicht.
Wie
auch immer, beim Schreiben gewinne ich Kontur, so daß ich es mit mir
aushalten kann. Und ich kann das alles, auch das Auflösende,
beschreiben. Oder ein
anderes Beispiel: so unangenehm es mir ist, daß ich vor der
Kontrolle unten Angst habe, und ich mich ihr nicht als freier,
aufrechter Bürger, der weiß, was er ist und daß er in Ordnung ist,
stellen und entgegentreten kann, und so sehr das in mir den Film mit
dem Titel „Versager“ ablaufen läßt mit all den Gefühlen an
Scham, Verzagtheit, Trauer, Wut – dennoch kann ich es beschreiben.
Und dann bekommt alles – ich weiß auch nicht so recht, warum –
einen Sinn. Daß es nur gesagt ist. Daß es nur beschrieben ist, im
Gefäß des kollektiven Gedächtnisses abgelegt, als winziges
Teilchen, wie unbedeutend es auch sein mag, in irgendein höheres
Bewußtsein gehoben.
Und
ich habe jetzt eine Aufgabe; ich kann aus dem Zimmer gehen, das
Geschriebene in den Computer tippen – wobei ich noch meistens bloß
kleine Veränderungen am Text vornehmen kann – immer noch in einem
Zustand der Schreibtrance – und es dann auf meiner Schublade
veröffentlichen.
Schreibtrance
deshalb, weil ich vorher nie weiß, was ich schreiben werde; meistens
fange ich an und glaube, ich weiß nichts zu schreiben. Aber auch
wenn ich eine Schreibidee habe, wundere ich mich immer, wohin mich
das führt und was alles aus mir herausfließt, vieles, von dem ich
gar nicht wußte, das es in mir ist; das gilt sowohl für Inhalte als
auch für Formulierungen. Mir kommt schon vor, beim Schreiben komme
ich immer wieder mit etwas in Kontakt, das größer ist als ich. Wenn
das wirklich so ist, dann ist alles gut.
©Peter
Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]
<< Startseite