Mittwoch, 18. November 2015

232 Schreiben


Heute ist es so, daß mir nichts zu schreiben einfallen wird. Es ist schon spät, die beste Zeit zum morgendlichen Schreiben habe ich längst verpasst und am Gang draußen wird irgendetwas gearbeitet – gebohrt, gehämmert, was weiß ich. Unten spielen fröhlich und laut die Tageskinder. Es ist nach zehn und ich bin hungrig, aber ich will nicht hinuntergehen zum Frühstücken, weil bald die Magistratsabteilung elf zur Kontrolle kommen wird; denen will ich nicht unbedingt begegnen. Bei allen Kontrollen der Obrigkeit fühle ich mich von vornherein als zu schlecht, minderwertig, als jemand, der den Ansprüchen nie gerecht wird, auch wenn es gar nicht um mich geht, wie jetzt. Mir ist soetwas äußerst unangenehm.

Der Wind draußen ist so stark, daß er bei geschlossenem Fenster die Jalousie bewegt und ich ihn hier im Zimmer auf der Haut spüren kann. Er burrt vor sich her und irgendwo rumpelt etwas, das der Wind mit seinem Rütteln in Bewegung oder Schwingung versetzt hat.

Ich stelle mir die Kontrollen immer männlich vor, aber hier wird es eine freundliche Dame sein und sie ist unten gerade hereingekommen, wie ich höre.

Ein Kind unten rasselt und scheppert mit etwas. Auf einmal jedoch ist es ganz still; einen kurzen Moment verstummt der Wind, niemand redet, keines der Kinder ist zu hören. Dann fangen die Geräusche wieder an, aber nicht plötzlich, sondern ganz allmählich; als müßten sie sich aus der Stille heraus wieder neu erfinden, beginnen sie zunächst sporadisch, leise und steigern sich in einer sanft ansteigenden Lärmkurve auf ihr vorheriges Niveau.

Wenn ich schreibe, komme ich ins Gleichgewicht. Das ganze Unglück meines Lebens wird durch Schreiben erträglich und ich werde mit meinem Schicksal versöhnt. Wenn ich unrund bin, rundet es mich ab. Wenn ich zerstreut bin, sammelt es mich. Wenn ich in den Schreibfluß komme, lebe ich. Fast hätte ich hingeschrieben: nur wenn ich in den Schreibfluß komme, lebe ich. Aber irgendeine Instanz in mir streicht das „nur“ durch. Eine Zensurinstanz, die meint, dieses „nur“ wäre dem Leben, meiner Frau, meinen Kindern gegenüber unfair und ungerecht. (Und das stimmt! Ich brauche mich zum Beispiel nur an die Intensität und Trance erinnern, die ich bei der Geburt der Kinder erlebt habe. Meine innere Zensurbehörde hat recht!)

Vielleicht habe ich es beim Schreiben mit einer Art Selbstvergewisserung zu tun. Ich bin ja wie ein „Blatt im Wind“, von allem und jedem herumgeblasen, ohne innere Stabilität; je nachdem, mit wem ich gerade gesprochen habe, je nachdem, was ich gerade gelesen habe, denke ich so oder ganz anders. Ich gebe jedem und allen recht. Ich fühle keinen Kern in mir. Nur Schichten wie bei einer Zwiebel, möglicherweise innen verfault. Obwohl, das kann nicht sein! Aber ich fühle den gesunden Kern nicht.
Wie auch immer, beim Schreiben gewinne ich Kontur, so daß ich es mit mir aushalten kann. Und ich kann das alles, auch das Auflösende, beschreiben. Oder ein anderes Beispiel: so unangenehm es mir ist, daß ich vor der Kontrolle unten Angst habe, und ich mich ihr nicht als freier, aufrechter Bürger, der weiß, was er ist und daß er in Ordnung ist, stellen und entgegentreten kann, und so sehr das in mir den Film mit dem Titel „Versager“ ablaufen läßt mit all den Gefühlen an Scham, Verzagtheit, Trauer, Wut – dennoch kann ich es beschreiben. Und dann bekommt alles – ich weiß auch nicht so recht, warum – einen Sinn. Daß es nur gesagt ist. Daß es nur beschrieben ist, im Gefäß des kollektiven Gedächtnisses abgelegt, als winziges Teilchen, wie unbedeutend es auch sein mag, in irgendein höheres Bewußtsein gehoben.

Und ich habe jetzt eine Aufgabe; ich kann aus dem Zimmer gehen, das Geschriebene in den Computer tippen – wobei ich noch meistens bloß kleine Veränderungen am Text vornehmen kann – immer noch in einem Zustand der Schreibtrance – und es dann auf meiner Schublade veröffentlichen.

Schreibtrance deshalb, weil ich vorher nie weiß, was ich schreiben werde; meistens fange ich an und glaube, ich weiß nichts zu schreiben. Aber auch wenn ich eine Schreibidee habe, wundere ich mich immer, wohin mich das führt und was alles aus mir herausfließt, vieles, von dem ich gar nicht wußte, das es in mir ist; das gilt sowohl für Inhalte als auch für Formulierungen. Mir kommt schon vor, beim Schreiben komme ich immer wieder mit etwas in Kontakt, das größer ist als ich. Wenn das wirklich so ist, dann ist alles gut.













©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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