227 Aufplatzende Erinnerung
Tag reiht sich an Tag. Ich mache Pläne
für diesen heutigen, aber ein Hustenanfall folgt auf den anderen.
Mir fallen wieder die Augen zu. Ich habe diese Nacht schlecht
geschlafen. Den Weg ins Badezimmer findet nur mein Geist, und der
verrennt sich, denn wie er sich nach rechts zur Badezimmertür dreht,
befindet sich dort nur ein Fenster.
Vergeblich versuche ich auf dem
imaginären karierten Papier ein Quadrat zu zeichnen, mit dem ich
etwas zeigen will. (Fast wie die Architekten es machen. Alle
Architekten, die ich kenne, zeichnen, wenn sie etwas erklären
wollen.)
Ich fertige eine Zeichnung an, nach
vorne gebeugt und konzentriert, aber als ich die Augen aufmache, ist
sie nicht da. Ich habe gerade drüben in der Traumwelt wichtiges
Schreibwerkzeug zerlegt um es zu reinigen, dann aber wollen die den
Tisch wegtragen, darum habe ich schnell alle diesen filigranen Teile
in meine hohle rechte Hand geschoben, aber jetzt, hier, wohin damit?
Ich werde das Zeug auf mein Notizbuch leeren.
Drüben habe ich irgendein Projekt
laufen. Aber welches? Ein Seniorenkalender? Das große Blatt vor mir
ist vollgezeichnet mit Entwürfen und Plänen, und voller
Farbflecken. Schlage ich aber die Augen auf, habe ich nur mehr mein
Notizbuch vor mir. Mit schwarzer Schrift, die ich kaum entziffern
kann - zum Beispiel kann ich nicht mehr entziffern, was statt dem
„nach vorne gebeugt“ dort steht – und mit ein paar
Kugelschreiberpunkten und Strichen, wenn mir beim Einschlafen meine
rechte Hand, die den Kugelschreiber hält, aufs Papier gefallen ist
oder sonstwie beim Erschlaffen verrutscht.
Auch mein Notizbuch schaut drüben
anders aus. Und wieder und wieder fallen mir die Augen zu.
Ich wollte drüben gerade meine Mutter
benoten, auf einer Skala von eins, schlecht, bis zehn, gut, aber
irgendwie hat es nicht geklappt. Ich glaube, ich wollte ihr einen
Punkt geben. Hier herüben schäme ich mich – trotz allem – ein
wenig dafür und denke, ich bin undankbar. Mein kaputter
Kugelschreiber – drüben - schmiert fürchterlich. Ich will
aufschreiben, wie das drüben funktioniert, aber als ich die Augen
aufmache, steht nichts da.
Drüben habe ich ein kurzes Interview gegeben; es ist um
Schriftsteller gegangen, deren Schreiben von Karl
Ove Knausgård inspiriert ist. Ich habe gesagt, daß ich ohne
Knausgård nicht zu schreiben begonnen
hätte. Hier sage ich: vermutlich auch nicht, solange Vater, Mutter
und Döbereiner noch gelebt haben. Erst als sie tot waren, war der
Weg frei.
Jetzt fällt mir eine Szene ein, die
ich komplett vergessen hatte. Ich muß so um die zwanzig gewesen
sein, meine Mutter und mein Vater haben mir schwere Vorwürfe
gemacht, irgendetwas Grundsätzliches, Existenzielles, genauer
erinnere ich mich nicht mehr, und ich habe ihnen geantwortet, in
größter Verzweiflung, weinend, daß ich schreibe, und daß es Leute
gibt, die mit Literatur zu tun haben, die meine Texte nicht schlecht
finden. Ich wollte damit sagen: an mir ist nicht alles falsch. Und
meine Mutter darauf: aber das weiß ich ja nicht! Trotzdem war ich
beschämt, ich konnte mich nicht ausreichend verteidigen.
Schade, jetzt ist die drübere Welt
weg. Diese Erinnerung hat mich ganz munter gemacht. Ich wußte gar
nicht mehr, daß ich dem Schreiben und der Schriftstellerei schon
einmal so nahe war. Diese Szene und auch die Leute, die meine Texte
gut und vielversprechend fanden, hatte ich total vergessen.
Jetzt surrt es wieder ganz aufgeregt.
Die Sirenen loben und locken mich in höchsten Tönen in die
Traumwelt, aber leider bin ich ganz wach.
Und trotzdem, wenn es denn ein Werk
ist, mein Werk wird bescheiden sein.
©Peter
Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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