Montag, 9. November 2015

227 Aufplatzende Erinnerung


Tag reiht sich an Tag. Ich mache Pläne für diesen heutigen, aber ein Hustenanfall folgt auf den anderen. Mir fallen wieder die Augen zu. Ich habe diese Nacht schlecht geschlafen. Den Weg ins Badezimmer findet nur mein Geist, und der verrennt sich, denn wie er sich nach rechts zur Badezimmertür dreht, befindet sich dort nur ein Fenster.

Vergeblich versuche ich auf dem imaginären karierten Papier ein Quadrat zu zeichnen, mit dem ich etwas zeigen will. (Fast wie die Architekten es machen. Alle Architekten, die ich kenne, zeichnen, wenn sie etwas erklären wollen.)

Ich fertige eine Zeichnung an, nach vorne gebeugt und konzentriert, aber als ich die Augen aufmache, ist sie nicht da. Ich habe gerade drüben in der Traumwelt wichtiges Schreibwerkzeug zerlegt um es zu reinigen, dann aber wollen die den Tisch wegtragen, darum habe ich schnell alle diesen filigranen Teile in meine hohle rechte Hand geschoben, aber jetzt, hier, wohin damit? Ich werde das Zeug auf mein Notizbuch leeren.

Drüben habe ich irgendein Projekt laufen. Aber welches? Ein Seniorenkalender? Das große Blatt vor mir ist vollgezeichnet mit Entwürfen und Plänen, und voller Farbflecken. Schlage ich aber die Augen auf, habe ich nur mehr mein Notizbuch vor mir. Mit schwarzer Schrift, die ich kaum entziffern kann - zum Beispiel kann ich nicht mehr entziffern, was statt dem „nach vorne gebeugt“ dort steht – und mit ein paar Kugelschreiberpunkten und Strichen, wenn mir beim Einschlafen meine rechte Hand, die den Kugelschreiber hält, aufs Papier gefallen ist oder sonstwie beim Erschlaffen verrutscht.

Auch mein Notizbuch schaut drüben anders aus. Und wieder und wieder fallen mir die Augen zu.

Ich wollte drüben gerade meine Mutter benoten, auf einer Skala von eins, schlecht, bis zehn, gut, aber irgendwie hat es nicht geklappt. Ich glaube, ich wollte ihr einen Punkt geben. Hier herüben schäme ich mich – trotz allem – ein wenig dafür und denke, ich bin undankbar. Mein kaputter Kugelschreiber – drüben - schmiert fürchterlich. Ich will aufschreiben, wie das drüben funktioniert, aber als ich die Augen aufmache, steht nichts da.

Drüben habe ich ein kurzes Interview gegeben; es ist um Schriftsteller gegangen, deren Schreiben von Karl Ove Knausgård inspiriert ist. Ich habe gesagt, daß ich ohne Knausgård nicht zu schreiben begonnen hätte. Hier sage ich: vermutlich auch nicht, solange Vater, Mutter und Döbereiner noch gelebt haben. Erst als sie tot waren, war der Weg frei.

Jetzt fällt mir eine Szene ein, die ich komplett vergessen hatte. Ich muß so um die zwanzig gewesen sein, meine Mutter und mein Vater haben mir schwere Vorwürfe gemacht, irgendetwas Grundsätzliches, Existenzielles, genauer erinnere ich mich nicht mehr, und ich habe ihnen geantwortet, in größter Verzweiflung, weinend, daß ich schreibe, und daß es Leute gibt, die mit Literatur zu tun haben, die meine Texte nicht schlecht finden. Ich wollte damit sagen: an mir ist nicht alles falsch. Und meine Mutter darauf: aber das weiß ich ja nicht! Trotzdem war ich beschämt, ich konnte mich nicht ausreichend verteidigen.

Schade, jetzt ist die drübere Welt weg. Diese Erinnerung hat mich ganz munter gemacht. Ich wußte gar nicht mehr, daß ich dem Schreiben und der Schriftstellerei schon einmal so nahe war. Diese Szene und auch die Leute, die meine Texte gut und vielversprechend fanden, hatte ich total vergessen.

Jetzt surrt es wieder ganz aufgeregt. Die Sirenen loben und locken mich in höchsten Tönen in die Traumwelt, aber leider bin ich ganz wach.

Und trotzdem, wenn es denn ein Werk ist, mein Werk wird bescheiden sein.








©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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