Sonntag, 1. November 2015

221 Ich mag das


Die Schatten des Gartens führen im Wohnzimmer des Hauses einen irren Tanz auf. Die Schatten von draußen, von den Blättern, Zweigen und Ästen. Ums Haus herum bläst der Wind; herinnen ist es windstill und sonnenlichtbefleckt. „Nichts Neues unter der Sonne.“ Auch an den trüben Stellen der Fensterscheiben glänzt das Sonnenlicht. Eine einzelne Wespe fliegt summend herum. Ist es für sie nicht schon ein bißchen spät? Hat sie sich in die warme Stube gerettet?

Nun gehen wir durch die nachmittäglichen Weingärten. Eine immense Ausdehnung an flirrendem grünlich-gelben Gold zieht sich vom Wald oben die Leiten herunter, bis nach unten zu den vielen Häusern, die in unzähligen Gärten verstreut beisammen liegen. Was für ein Glanz in diesen sonnenbeschienenen sanft gewellten Hängen!

Der Blick geht frei und ausschweifend über die Landschaft, der Weg schneidet den Hang in der Mitte der Länge nach durch. Eine einzelne Krähe auf einem alten, alleinstehenden Baum am Wegrand grüßt mich; vielleicht warnt sie auch die in den Weingärten versteckten Genossen; ich jedenfalls grüße mit einer leichten Verbeugung zurück.

Nach einiger Zeit erreichen wir Häuser und biegen in einen Steig ein, der rechts durch ein Wäldchen steil auf die richtig bewaldete Hügelkuppe führt, hinter der wieder ein kleiner Berg ansteigt. Wir gehen aber nicht weiter hinauf, sondern durch den Wald zum Ausgangspunkt unseres Spazierganges zurück.

Hier ist es dunkler, und es sind vor allem die gelben Blätter, die – nie zu viele auf einmal – von den Bäumen zum Boden heruntertänzeln, die in diesem Wald leuchten, und wenn sie durch das Sonnenlicht schweben regelrecht blinken.

Inzwischen ist es schon Nacht und ich bin woanders. Die Sterne sind schon längst erschienen. Ich brauche ein wenig, bis ich mich - auf dem Balkon des Zimmers des gottseidank tourismustechnisch nicht hochgezwirbelten Hotels - am Himmel zurecht gefunden habe, denn ein leichter Dunst liegt wie ein leichter, durchsichtiger Schleier vor allem am Horizont, in Erdnähe, und ich muß länger hinschauen, bis ich die schwächeren Sterne durchschimmern sehe. Schwächer müssen sie gar nicht sein, vielleicht nur weiter entfernt. (Wie ich?) Oder älter, beinah schon verglüht. Oder noch gar nicht zur vollen Entfaltung gelangt; ihr Glühen baut sich erst auf.

Ich seufze. Ich mag das, wenn ich mitten in der Nacht unbedingt etwas schreiben will, obwohl ich schon zu müde bin, weil dann die Rationalitätsinquisition nachläßt. Darum schreibe ich das jetzt auch her:

Eigentlich bin ich der totale Christustyp. Nein, nein; ich meine das nicht ironisch; auch will ich nicht den guten Mann aus Nazareth verarschen. Nein. Ich liege nur gerne am Rücken im Bett; die Füße übereinandergeschlagen, wie Christus am Kreuz; die Hände habe ich dabei nicht ausgebreitet, sondern beim Schlüsselbein sozusagen eingehängt, oder am Brustbein kreuzförmig, ixförmig übereinandergelegt, in der Nähe des Herzens. Um es zu schützen? Abzuschirmen? Ängstlich zu halten?

Das Händeausbreiten würde ich mir wirklich erst für den letzten Moment am Kreuz aufheben. Ich würde dann rufen (denke ich mir): „Ich liebe euch! Die Liebe ist stärker als der Hass!“
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ würde ich nicht rufen brauchen, denn soviel Gottvertrauen hatte ich nie, daß ich mich von ihm verlassen fühlen könnte.

In meiner späten Kindheit und frühen Jugend hatte ich unzählige, hunderte Zeichnungen von Christus am Kreuz produziert, seine Gestalt meistens leptosom in die Länge gezogen, was mir immer edler vorgekommen ist als meine Neigung zu manisch-depressiven Symptomen und zu einer gewissen Dicklichkeit.

„Eigentlich“ habe ich geschrieben; „eigentlich“, das heißt von meiner innersten Anlage her.
„Eigentlich“ - das heißt aber auch: ich bin es in dieser Wirklichkeit nicht. In Wirklichkeit bin ich nicht stark, nicht mutig, nicht fromm –fromm  im besten Sinn dieses Wortes – sondern ich bin hinterlistig und kleinlich, unflexibel, auf den eigenen Vorteil bedacht – auch wenn ich den immer gleich verspiele und nicht halten kann – und feige.

Ich bin nicht mit zwölf Jahren einfach dort geblieben, wo es mich hingezogen hat, habe nicht meinen Eltern zu verstehen gegeben, daß sie mich mit ihren Ansprüchen und Erwartungen gern haben können und nicht, daß ich dorthin gehöre, wo meine Berufung ist. Ich habe nicht den Gehorsam verweigert. Es war mich nicht egal, daß sie sich dann angeschissen hätten vor Angst und vor allem die Mutter am Rande des Herzinfarktes gezappelt und luftgeschnappt hätte.

Ich habe als Erwachsener nie zu meiner Mutter gesagt „Weib, was habe ich mit dir zu schaffen!“ (Nur einmal als Betrunkener, aber das gilt nicht, weil es dann nicht wirkt und man damit kein Terrain gewinnt.) Und g'scheit übersetzt heißt das: Laß mich mit deinen Ansprüchen in Ruhe! Ich habe also nie die Nabelschnur durchschnitten.

Ich kann nicht heilen, weil ich nicht die Kraft und den Mut und die Rücksichtslosigkeit aufgebracht habe, den Menschen auf den Grund zu schauen und damit mir selber auch nicht. Oder umgekehrt.
Ich gehe falsche Kompromisse ein, bin voller Angst, Haß und Neid, mit starkem Hang zu Süchten aller Art. Zum Beispiel trinke ich – zeitweise – zu viel Kaffee. Viel zu viel, wie auch heute wieder.

Ich gaffe den Weibern hinterher und fürchte mich vor Menschen, besonders Jugendlichen und auch vor Kindern. Vor Autoritäten – hinter deren Rücken ich ständig herumgemault habe – knicke ich ein, wenn ich mich nicht schon vorher in vorauseilendem Gehorsam unterworfen habe. Und – eingekrümmt in meine Ängste – schaue ich kaum über meinen Tellerrand hinaus.

Ich bin unsicher und nicht entschieden, leutescheu und nicht gelassen. Von Lauterkeit und Losgelöstheit kann keine Rede sein. Und wie gesagt – ich habe kaum soetwas wie Gottvertrauen. Was manchmal so aussschauen könnte ist in Wirklichkeit Schwäche, Mangel an Form und Mangel an Gestaltungswillen.

Und – ja genau! - ich bin nicht keusch. „Keusch“ - von Lateinisch conscius, eingeweiht, bewußt. Nicht bewußt, nicht aufgeweckt; ich bin verschlafen wie ein dummes Schaf (wenn es so etwas überhaupt gibt).

Ja – und genau! - ich bin kein Hirte. Ich übernehme nicht gern Verantwortung, nicht für mich und schon gar nicht für andere. Das wäre mir unangenehm und peinlich und stresst mich enorm!

Es fehlt auch an innerer Konzentration und Ausdauer. Und ich habe mein Leben nie rekapituliert; nie Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug, mit Ausdauer und Geduld, meine energetische Verstrickung in meine Geschichte und die Welt gelöst, die fremde Energie rausgeschmissen und meine eigene, verlorene wieder zurückgeholt.

Ich habe nie allein in der Wüste oder Wildnis gefastet. Ich bin kaum in der Lage, irgendetwas zu beschreiben, zu sagen oder beim Namen zu nennen, ohne mein Ich dazuzupicken.
Nein, nein, nein; in Wirklichkeit bin ich es nicht. In Wirklichkeit bin ich ein „Gefäß mit Sprung“ (C.C.)

Draußen geht jetzt langsam über dem Prater die Sonne auf. Ich sehe sie nicht, denn das Fenster geht Richtung Nordwesten, aber das Rot und Gelb ihrer ersten Strahlen kann ich an den herbstlichen Bäumen leuchten sehen. Und eine Nebelkrähe schaut vom Baum gegenüber zum Fenster herein; durch den schmalen Spalt, den die nur ein wenig auseinandergeschobenen Vorhänge freigeben. Das ist derselbe Spalt, durch den ich hinausschaue aus meiner schreibverliebten Innenwelt auf diese helle, stille, morgenlichte, späte Außenwelt draußen, die Krähe mit gefalteten Händen grüßend.

















©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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