Samstag, 17. Oktober 2015

211 Schweres Wasser


Ich bin dagesessen, und habe wie so oft, wie immer, durch das Fenster auf die Bäume geschaut, auf den Herbst, inmitten des fröhlichen Geplauders und Gelächters, zufrieden, ganz zufrieden. Allmählich merke ich, eine unglaubliche Schwere hat sich auf mich gelegt, hat meine Seele hinuntergedrückt, nicht eigentlich feindlich, nicht so sehr von außen, sondern so, als hätte sich meine Seele mit irgendwas vollgesogen, mit irgendeinem schweren Wasser, und ist abgesunken. Der Zustand ist von trauriger Schönheit und hat auch etwas mit Tiefe zu tun. Hinter allem, was ich sehe, ahne ich viel mehr, viel, viel mehr, als wir es erschauen.

Später bin ich durch die beinahe leere U-Bahn-Station gegangen, mitten am Tag, Schottenring, von der Uvier über die Uzwei zum Ausgang Herminengasse. Wie ich das liebe, durch leere Hallen und Gänge zu gehen! Menschenleer, wie mich das mit einem trauernden Glück erfüllt! So kann ich mir mein Leben gut vorstellen; allein unendliche Räume zu durchwandern. Wie im Traum. Meine Brust weitet sich, ich richte mich von selber auf, ich brauche mich nicht mehr ducken. Endlich, endlich! Ich atme durch. Ein stilles, feierliches, schweres Glück weitet sich in mir aus und umhüllt mich endlich. „Völlig losgelöst“ gehe und gehe ich. Oder schwebe, fliege. Egal. Umgeben von Herrlichkeit. Ja. So kann ich leben!

Wenn Menschen auftauchen, vor denen ich mich fürchte – und das sind viele, fast alle, und fast alle sind Männer – überschwemmen mich Wellen von Wut und mein Energiekörper schlägt zu, an den Zuckungen meines Gesichtes zu erkennen.
„Nein! Nein! Geht weg! Laßt mich in Ruhe! Ich will nichts von euch! Geht weg! Ich nehme euch nichts! Laßt mich einfach nur weitergehen. Ich fürchte mich vor euch, ich will mich nicht mehr zusammenreißen und nicht mehr verstellen, geht weg! Wenn ihr mir zu nahe kommt, töte ich euch, auch wenn ich dabei zu Grunde gehe. Geht weg!“

Ich habe es überstanden, ich bin wieder auf der Straße, kein Gedränge mehr, nichts ist passiert.

Jetzt sitze ich daheim auf der Couch. Ich habe die Kerze angezündet, die am Ofen steht, unter dem Bild vom Hafen, unter dem zuerst mein Vater und dann meiner Mutter gestorben ist. Ich sollte die Wäsche aufhängen, aber ich mag nicht. Ich sitze in der Stille da und erhole mich. Ich habe nicht mehr viel Erholungsguthaben. Ich glaube, bald ist es aufgebraucht.

Jetzt scheint die Sonne herein, beleuchtet freundlich die Körbe neben dem Ofen, und eine Stelle dahinter an der Wand. Jetzt verblaßt alles schon wieder. Im Hof rumort jemand mit irgendwelchen Sachen herum, verschiebt etwas, zieht etwas, stellt etwas ab. Ich will es nicht wissen. Ich will nur hier sitzen und die Lichtflecken und Schatten betrachten. Sonst will ich gar nichts. Jetzt, im Moment.

Schatten und Licht ändern sich ständig – so schöne Lichtspiele und Schattenspiele an der Wand! Toller als jedes Kino, ergreifender als jede Oper, als jedes Drama...

Eine kleine, dreieckige Fläche, in der sich Schatten der Bäume draußen bewegen, manchmal, wenn der sanfte Wind in Laune ist; so schöne, mehrfache Konturen; schärfer, wenn die Sonne durchkommt, verschwommener, wenn eine Wolke sie verhüllt. Das ganze Weltendrama spielt sich hier ab; hier, an diesem kleinen Stück Wand neben dem Ofen. Der Wind, wo mag er herkommen? Vom Golf von Mexiko? Aus Grönland? Island? Vom Mittelmeer? - er zeichnet hier seine vergänglichen Spuren.
Und das Sonnenlicht, was hat es alles auf seinem Weg hierher gestreift und erlebt? Hier, hier an der Wand, an dieser kleinen Stelle, die sich jetzt zu einem aufgestellten Rechteck gewandelt hat, hier treibt es seine einleuchtenden Spiele. Hier, bei mir! Aus dem Universum kommend, ist sich nicht zu gut, mich hier, oder auch nur dieses Stück Wand zu besuchen. Es ist egal, wenn es nicht mir gilt, solange ich zuschauen darf.

Obwohl die Sonne verhüllt bleibt, gleitet eine neue Helligkeit über die Wand. Jetzt sieht man wieder ein wenig die Zweige. Sie sind mit der Erddrehung einen halben Meter weitergewandert, ein wunderschönes, berührendes Stilleben aus Licht und Schatten; ineinander geschoben, einander überlagernd.

Die Kerze leuchtet satt und gelblich.

Jetzt fährt ein stiller Wind durch die Schatten, ein Wind, den man nicht spürt, und scheucht die Schatten umher. Die dreifache Kontur des Ofens, richtiger, ein kleiner Ausschnitt davon.

Auch hier tickt ein Wecker, eine tickende Zeitbombe, die vielleicht einmal explodieren wird, dann, wenn mir „die Stunde schlägt“.

Der Lichtfleck ist nun groß und leer; ausgedehnt auf eine vielfache Größe, das Licht schwächer, nicht mehr gelb, sondern weiß.















©Peter Alois Rumpf Oktober 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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