211 Schweres Wasser
Ich bin dagesessen, und habe wie so
oft, wie immer, durch das Fenster auf die Bäume geschaut, auf den
Herbst, inmitten des fröhlichen Geplauders und Gelächters,
zufrieden, ganz zufrieden. Allmählich merke ich, eine unglaubliche
Schwere hat sich auf mich gelegt, hat meine Seele hinuntergedrückt,
nicht eigentlich feindlich, nicht so sehr von außen, sondern so, als
hätte sich meine Seele mit irgendwas vollgesogen, mit irgendeinem
schweren Wasser, und ist abgesunken. Der Zustand ist von trauriger
Schönheit und hat auch etwas mit Tiefe zu tun. Hinter allem, was ich
sehe, ahne ich viel mehr, viel, viel mehr, als wir es erschauen.
Später bin ich durch die beinahe leere
U-Bahn-Station gegangen, mitten am Tag, Schottenring, von der Uvier
über die Uzwei zum Ausgang Herminengasse. Wie ich das liebe, durch
leere Hallen und Gänge zu gehen! Menschenleer, wie mich das mit
einem trauernden Glück erfüllt! So kann ich mir mein Leben gut
vorstellen; allein unendliche Räume zu durchwandern. Wie im Traum.
Meine Brust weitet sich, ich richte mich von selber auf, ich brauche
mich nicht mehr ducken. Endlich, endlich! Ich atme durch. Ein
stilles, feierliches, schweres Glück weitet sich in mir aus und
umhüllt mich endlich. „Völlig losgelöst“ gehe und gehe ich.
Oder schwebe, fliege. Egal. Umgeben von Herrlichkeit. Ja. So kann ich
leben!
Wenn Menschen auftauchen, vor denen ich
mich fürchte – und das sind viele, fast alle, und fast alle sind Männer
– überschwemmen mich Wellen von Wut und mein Energiekörper
schlägt zu, an den Zuckungen meines Gesichtes zu erkennen.
„Nein! Nein! Geht weg! Laßt mich in
Ruhe! Ich will nichts von euch! Geht weg! Ich nehme euch nichts! Laßt
mich einfach nur weitergehen. Ich fürchte mich vor euch, ich will
mich nicht mehr zusammenreißen und nicht mehr verstellen, geht weg!
Wenn ihr mir zu nahe kommt, töte ich euch, auch wenn ich dabei zu
Grunde gehe. Geht weg!“
Ich habe es überstanden, ich bin
wieder auf der Straße, kein Gedränge mehr, nichts ist passiert.
Jetzt sitze ich daheim auf der Couch.
Ich habe die Kerze angezündet, die am Ofen steht, unter dem Bild vom
Hafen, unter dem zuerst mein Vater und dann meiner Mutter gestorben
ist. Ich sollte die Wäsche aufhängen, aber ich mag nicht. Ich sitze
in der Stille da und erhole mich. Ich habe nicht mehr viel
Erholungsguthaben. Ich glaube, bald ist es aufgebraucht.
Jetzt scheint die Sonne herein,
beleuchtet freundlich die Körbe neben dem Ofen, und eine Stelle
dahinter an der Wand. Jetzt verblaßt alles schon wieder. Im Hof
rumort jemand mit irgendwelchen Sachen herum, verschiebt etwas, zieht
etwas, stellt etwas ab. Ich will es nicht wissen. Ich will nur hier
sitzen und die Lichtflecken und Schatten betrachten. Sonst will ich
gar nichts. Jetzt, im Moment.
Schatten und Licht ändern sich ständig
– so schöne Lichtspiele und Schattenspiele an der Wand! Toller als
jedes Kino, ergreifender als jede Oper, als jedes Drama...
Eine kleine, dreieckige Fläche, in der
sich Schatten der Bäume draußen bewegen, manchmal, wenn der sanfte
Wind in Laune ist; so schöne, mehrfache Konturen; schärfer, wenn
die Sonne durchkommt, verschwommener, wenn eine Wolke sie verhüllt.
Das ganze Weltendrama spielt sich hier ab; hier, an diesem kleinen
Stück Wand neben dem Ofen. Der Wind, wo mag er herkommen? Vom Golf
von Mexiko? Aus Grönland? Island? Vom Mittelmeer? - er zeichnet hier
seine vergänglichen Spuren.
Und das Sonnenlicht, was hat es alles
auf seinem Weg hierher gestreift und erlebt? Hier, hier an der Wand,
an dieser kleinen Stelle, die sich jetzt zu einem aufgestellten
Rechteck gewandelt hat, hier treibt es seine einleuchtenden Spiele.
Hier, bei mir! Aus dem Universum kommend, ist sich nicht zu gut, mich
hier, oder auch nur dieses Stück Wand zu besuchen. Es ist egal, wenn
es nicht mir gilt, solange ich zuschauen darf.
Obwohl die Sonne verhüllt bleibt,
gleitet eine neue Helligkeit über die Wand. Jetzt sieht man wieder
ein wenig die Zweige. Sie sind mit der Erddrehung einen halben Meter
weitergewandert, ein wunderschönes, berührendes Stilleben aus Licht
und Schatten; ineinander geschoben, einander überlagernd.
Die Kerze leuchtet satt und gelblich.
Jetzt fährt ein stiller Wind durch die
Schatten, ein Wind, den man nicht spürt, und scheucht die Schatten
umher. Die dreifache Kontur des Ofens, richtiger, ein kleiner
Ausschnitt davon.
Auch hier tickt ein Wecker, eine
tickende Zeitbombe, die vielleicht einmal explodieren wird, dann, wenn
mir „die Stunde schlägt“.
Der Lichtfleck ist nun groß und leer;
ausgedehnt auf eine vielfache Größe, das Licht schwächer, nicht
mehr gelb, sondern weiß.
©Peter
Alois Rumpf Oktober 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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