Sonntag, 22. November 2015

235 Die Salamanceser Segnungen


Als ich 1972 nach Graz ging, um das Theologiestudium aufzunehmen, versuchte ich, wieder richtig fromm zu werden. Ich hörte mir - beeinflußt von einem Priester - keine Popmusik mehr an – beziehungsweise ganz selten und mit schlechtem Gewissen – und horchte nicht mehr andächtig die „Musicbox“, eine gehobene Jugendsendung auf Ö 3 damals, die ich mir vorher nahezu täglich angehört hatte. Ich versuchte regelmäßig die Bibel zu lesen, zu beten, besuchte regelmäßig die Heilige Messe; meine ersten literarischen Versuche, die sogar in der Musicbox vorgelesen wurden, verwarf ich – ich hörte mir nicht einmal die Sendung an, in der mein Text vorgelesen wurde – und verfolgte das Schreiben auch nicht weiter.

Ich versuchte also mein bisheriges Leben – mit einem Bein in Kirche und Christentum, mit dem anderen in der Popkultur mit allen ihren Zeitgeisterscheinungen – dahingehend zu ordnen, daß ich mir das „Popbein“ abzuhacken versuchte, um nur mehr im kirchlichen Katholizismus meinen Stand zu haben. Das war natürlich ein von außen und vom Kopf her aufgesetztes Programm, das die vielen Persönlichkeitsanteile, die sich von dieser neu aufbrechenden Zeit angesprochen und auch ausgesprochen fühlten, zu ignorieren und zu unterdrücken versuchte. Ich war ja über die Popmusik von diesem Zeitgeist des Aufbruchs erfüllt gewesen, was immer auch für problematische Mechanismen – innerpersönlich wie auch sozial – dahinter wirksam gewesen sein mögen.

Ich soll vielleicht noch betonen, wie widersprüchlich meine Liebe zur Popmusik und die Aufnahme der für mich vor allem durch die Musicbox transportierten Ansichten und Ideologien verlief. Ich hörte als Gymnasiast diese Sendung täglich, liebte die Musik, aber manche Statements und Geschichten lösten durchaus kleine oder größere Schocks aus, die ich immer erst verarbeiten mußte; so in dem Sinn: darf man das sagen? Geht das nicht zu weit? Ich konnte das oft nicht mehr richtig in meinen katholisch geprägten Sinnhorizont einbauen und war immer stärker sozusagen zweigleisig unterwegs. Eine Zweigleisigkeit, die übrigens anfänglich auch in der Musicbox selber spürbar war, den nicht wenige Mitarbeiter der Sendung kamen aus der reformkatholischen Ecke.

Aber mein Herzblut war schon sehr bei dieser Musik! Es war das das einzige Gebiet, wo ich mir Urteile darüber, ob etwas gut oder schlecht ist, zutraute und diese durchaus auch anderen gegenüber vertreten konnte – natürlich beeinflußt von der Musicbox und durch sie sozusagen den Rücken gestärkt.

Zu dieser Stimmung der Zeitenwende – die sie ja wirklich war – gehörte auch – wie ja jeder weiß – daß der Gebrauch von Drogen zumindest als interessant erschien und die damit erreichbare Bewußtseinserweiterung als faszinierend. Das mußte gar nicht regelrecht „verkündet“ werden; es genügte, daß man wußte, die bewunderten oder geliebten Musiker nahmen sie und die Musik war davon beeinflußt.

Das alles war für mich als Gymnasiast nur theoretisch „nah“; im realen Leben war ich ein braver Sohn und Schüler und diese Popwelt war woanders, nicht hier, wo ich bin; sie kam nur aus dem Radio zu mir. Um beim Thema zu bleiben – der Gebrauch von illegalen Drogen mag aus der Distanz eine gewisse angsterfüllte Faszination auf mich ausgeübt haben, aber ich war weit davon entfernt, damit zu experimentieren. Und beim Studienbeginn in Graz mit meinem „abgehackten Popbein“ war ich erst recht weit davon entfernt.

Natürlich war der „popige“ Anteil meiner Persönlichkeit nicht verschwunden, sondern bloß verdrängt und sobald ich mich von Christentum und Kirche entfernte, wieder voll da. Dann war es für mich theoretisch durchaus denkbar, mit Drogen zu experimentieren, obwohl ich in der Praxis eine große Scheu davor beibehielt. Das kann ohne weiteres mit meinen „braven“, autoritätsgläubigen Persönlichkeitsanteilen zu tun haben, die natürlich auch nicht schliefen und die daraus resultierende Angst davor, Gesetze zu brechen und erwischt zu werden – denn beim Alkohol gab es diese Ängste nicht – oder auch damit, daß ich tief in mir wußte, daß meine Persönlichkeit sowieso nicht sehr fest gebaut ist und nicht gut im Leben sitzt, sodaß solche Experimente Dinge in Bewegung bringen können, die ich dann - wie eine Lawine – nicht mehr beherrschen kann. Ich probierte es zwar einige wenige Male aus, Haschisch zu rauchen, aber es zeigte sich bei mir keine Wirkung. Offensichtlich waren meine Rauschvorstellungen und -erwartungen vom Alkohol geprägt, sodaß ich sozusagen einen „falschen Rausch“ intendierte, der sich dann nicht einstellte.

Es kam noch dazu, daß ich mit zirka Vierundzwanzig Carlos Castaneda zu lesen und zu lieben begann und den Schluß, den ich aus dieser Lektüre zog, war, mit Drogen nicht herumzuspielen. Ich weiß, daß sich Tausende und Abertausende bei ihrem Drogenkonsum auf Castaneda berufen oder sich von seinen Büchern dazu angeregt gefühlt haben, aber für mich waren das Leute, die offensichtlich nicht lesen konnten, was dort in den Büchern steht, sondern ihre subjektiven Geschichten in das Gelesene hineinprojizierten. Ich war verwundert und irritiert darüber, aber mir in dieser Sache trotzdem ganz sicher. Mit dieser Auffassung stand ich absolut alleine da und ich wundere mich noch heute, woher ich diese Sicherheit nahm, aber ich denke noch jetzt, bei allem, was ich heute über Castaneda weiß, ich habe recht gehabt. Wenn ich dann – jetzt schon in Wien in der Künstlerszene lebend - trotzdem wieder versucht habe, einen Joint zu rauchen, dann im Bewußtsein, daß ich mich dabei nicht auf Castaneda berufen kann.

Ich war erst ungefähr neunundzwanzig oder dreißig Jahre alt, als es zum erstenmal richtig funktionierte und ich einen solchen Rausch erlebte; der war dann allerdings sehr, sehr toll und ich habe dabei – ausgelöst von einer konkreten Szene, die ich beobachtete – Einsichten in die menschliche Seele und ihre sozialen Spielchen gehabt, die mich heute noch staunen machen, vor allem, wie prägnant und treffend ich sie benennen konnte.

Um die Zweiunddreißig herum habe ich dann ein paarmal Haschisch geraucht; in dieser kurzen Phase ohne größere Bedenken, aber durchaus im Bewußtsein, daß es eigentlich nicht so gut ist, solche Abkürzungen zu den angestrebten Zuständen der Bewußtseinserweiterung zu nehmen. Genossen habe ich es trotzdem und ich bereue es auch heute nicht, wiewohl ich froh war und bin, diese Erfahrungen erst in diesem Alter und nicht früher gemacht zu haben.

Ich hatte also eine sehr zurückhaltende Einstellung zum Gebrauch von Drogen, allerdings nicht auf den Alkohol bezogen. Den zu konsumieren hielt ich zwar auch für fragwürdig, aber ich tat es trotzdem, obwohl ich dabei selten eine Erweiterung, meistens eher eine Einschränkung, Trübung, „Verdumpfung“ des Bewußtseins erlebte, um nicht zu sagen, eine „Verprimitivierung“. Diese Einschränkung kann jedoch als Befreiung vom Druck des „Überichs“ - ich glaube nicht an das Freud'sche Schema, aber sei's drum! - empfunden werden. Zumindest ich empfand es so und führte mich oft - in die dumpfen Regionen meiner Seele hinuntergezogen - entsprechend auf. Die Rauscherlebnisse mit Haschisch habe ich immer als subtiler, feiner erlebt, mit einem Zug eher nach oben.

Mit Vierunddreißig unternahm ich eine Reise nach Spanien, von österreichischen Künstlerfreunden, die sich bei spanischen Künstlerfreunden aufhielten, eingeladen. Wir trafen uns in Salamanca. Zu meinem Erstaunen – denn ich hatte von Spanien das Bild eines strengen Staates mit strenger Polizei – wurde dort ziemlich offen Haschisch geraucht. Wegen meiner reservierten Haltung dazu machte ich anfänglich nicht mit, sondern blieb beim Trinken, und man könnte sagen, wir bewegten uns in einer Wolke aus Euphorie und Lachen. Anscheinend hatte ich eine solch starke Affinität zu diesen Zuständen, daß ich mich allein schon durch meine Anwesenheit in dieser Wolke manchmal anders als bloß alkoholisch berauscht fühlte. Ach, war das schön!

Es gab auch ernüchternde Momente, als ich zum Beispiel auf einem Familienfest eines der spanischen Freunde zum erstenmal in meinem Leben mich selber auf einem Video – von irgendwem dort auf dem Fest einfach so dokumentarisch aufgenommen – sah und dachte: „Was?! Der gespreizt herumsteigende und verlegen grinsende, total verspannte Idiot bin ich?!“ Das war schockierend. Oder beim Aufwachen nach einem ordentlichen, richtig alkoholischen Rausch, in dem ich totalmente borracho, also komplett betrunken, einer Spanierin an der Bar auf den Hintern griff. Solch ein dumpfes Alpindodelverhalten ist für einen stolzen und auf seine Würde bedachten Spanier völlig undenkbar; niemals würde er sich so gehen lassen und niemals sich so betrinken, daß er nicht mehr weiß, was er tut. Ein absolutes No-Go.

Trotzdem oder gerade deswegen, die Wolke war stärker und ich stieg für ein paar Tage auf das hellere und erhabenere Rauschmittel Haschisch um. Da saßen wir nun, alle illuminiert, auf der Plaza Mayor im Freiluftbereich eines Cafés und redeten, blödelten und lachten. Freund Bruntomeff hantierte mit irgendwelchen Zetteln herum, auf die er irgendwas notierte, und hielt kurz inne, um sie dann – im Scherz – zu paraphieren und abzuhaken. Also, er machte ein Hakerl auf dem Papier und setzte sein Namenszeichen daneben. Das weitete er dann aus und begann alle Gegenstände am Tisch imaginär – ich meine, in der Luft – mit seinem Abhak-Hakerl und seinem Namenskürzel zu versehen, auch den Wein im Glas, indem er den Kugelschreiber eintauchte und abhakte und signierte.

Vielleicht wer es der Wein, der ihn – oder war ich es? Ich weiß es nicht mehr – auf die Idee brachte, ihn auch noch mit einem Kreuzzeichen zu versehen. Ja, ja, das war schon die Idee von Bruntomeff! Ich stieg jedenfalls begeistert darauf ein. Das neue Spiel lautete jetzt: abhaken, paraphieren, segnen. Wir lachten sowieso schon die ganze Zeit, aber wir beide trieben das Spiel noch mehr ins Absurde. Jeder Brösel auf dem Teller wurde angehakt, paraphiert, gesegnet. Der Tisch als ganzes und so weiter.
Wenn ich mich richtig erinnere – und meine Erinnerung ist schlecht – verlagerte sich der Schwerpunkt unserer Arbeit immer mehr aufs Segnen. Wir segneten alles. Wir, das waren vor allem Freund Bruntomeff und ich. Das Tischtuch, die Spatzen, das Besteck, die Tassen, die Untertassen, die Blumentöpfe, die Pflanzen, den Mist am Boden, die Speisen sowieso, die Speisekarten, die Werbungsschilder, Hundstrümmerln kann ich mich nicht erinnern, aber hätten wir auch gesegnet, die einzelnen Pflastersteine, die Zigaretten, die Zünder, den Aschenbecher, die Zigarettenstummel, alles, alles, was es um uns herum gab. Als es zu regnen begann, kamen wir in einen ziemlichen Stress, weil wir jeden einzelnen Regentropfen am Tisch segnen wollten und wir dafür bald viel zu langsam waren, der Regen war nicht mehr zu dersegnen. Wir steigerten uns in unserem Rausch regelrecht in einen Segnungswahn hinein. Wir standen vom Tisch auf und gingen herum, segneten jede Säule des Arkadenganges, jedes Blatt am Boden, jeden Mistkübel, jedes Steinchen, alles, alles, alles was uns in die Augen fiel. Schließlich wollten wir die Plaza Mayor als ganzes, sozusagen in einem Zug segnen. Freund Bruntomeff übernahm die eine Linie, ich die andere. Wir gingen jeder in eine Ecke des riesigen Platzes und marschierten jeder in die ihm gegenüber liegende Ecke, dabei die rechte Hand starr in der Geste des Segnens haltend, denn das war als ein ganzes, riesiges Kreuzzeichen gedacht, das wir da machten. In der Mitte kreuzten sich natürlich unsere Wege.

Die Stimmung war unbeschreiblich! Wir lachten und lachten, andererseits hatte uns, beziehungsweise mich – von Freund Bruntomeff weiß ich es nicht so genau – ein „heiliger“ Ernst erfaßt. Ich empfand, was ich da machte, durchaus – wie kann ich das sagen? - tief. Ich segnete die Welt und alles, was in ihr in meiner Reichweite war. Dieser „heilige Ernst“ kollidierte durchaus nicht mit unserem Lachen; im Gegenteil, für mich ergänzten sie sich großartig. Zwei lachende Narren, die glücklich die ganze Welt segnen und das Leben feiern.

Später fuhren wir mit dem Auto – in Spanien geht man nicht gern zu Fuß – zum Fluß hinunter, dem Rio Tormes, und feierten weiter. Ich ging am Ufer herum und war von einer großen Ergriffenheit erfüllt. Dann setze ich mich wieder hinten ins geparkte Auto. Ich schwebte in einem Gefühl, von einer massiven Unmittelbarkeit, einer unglaublichen Intensität umgeben zu sein. Ich starrte auf einen Faden, der von der Polsterung der Rückenlehne vor mir abstand; ich schaute und schaute und ich fühlte und begriff, daß dieses kleine Stück Faden ein Universum für sich ist. Ich schaute lange hin und staunte. Ich war ergriffen und dankbar, so ein Wunder schauen zu dürfen. Ich wollte Gott dafür danken, daß es das gibt, daß er dieses kleine Fädchen erschaffen hat, in seiner Schönheit und Existenz alleine schon die ganze Schöpfung rechtfertigend, egal, was da alles in ihr sonst noch passierte. Ich stieg wieder aus dem Auto und ging bei der aufgehenden Sonne am Ufer herum. Mit Tränen der Freude und des Glücks in den Augen wollte ich beten, ich war in mich versunken und versuchte, das Vaterunser zu beten, aber der Text fiel mir nur mehr bruchstückhaft ein. „Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde...“, wie geht es weiter? Angestrengt, aber vergeblich versuchte ich mich zu erinnern. Egal, dann stammle ich halt bloß.

Inzwischen war es kalt geworden und ich wandte mich wieder meinen Freunden zu und wir beschlossen, in ein Café frühstücken zu gehen. Ich lief in der Stimmung eines andächtigen Gewahrseins herum, von dieser Intensität wie in einem Kokon eingehüllt. Möglicherweise erlebten die anderen ähnliches, denn wir wurden alle eine zeitlang ganz still.

Im Café tranken wir Kakao und aßen so gebackene Teigstangerl dazu, deren Oberfläche gerillt war und ich erinnere mich, daß wir uns über diese Teigstangerl und ihre Unregelmäßigkeiten fast zu Tode lachten. Einer hielt zum Beispiel ein Stangerl in die Höhe, und wir sahen, daß das Ende etwas gebogen war – und wir lachten. Ein anderer zeigte uns ein Stangerl, dessen Rillen leicht verdreht waren – und wir lachten. Wir lachten und lachten und lachten.

Irgendwann werden wir uns wohl verausgabt haben und werden nach Hause gegangen oder gefahren sein und uns ausgeschlafen haben – ich kann mich an den weiteren Verlauf nicht mehr erinnern. Ich weiß noch, daß am nächsten Tag bei mir diese ehrfürchtige Stimmung noch angehalten hat.

Und ich habe dann, wieder zurück in Wien, tatsächlich das Vaterunser auswendig gelernt.















©Peter Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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