241 Wind oder kleine Ergänzungen zur Scham
Der Wind heult schon den zweiten Tag
ums Haus; er reißt und rüttelt an Türen und Fenstern und was sonst
noch angreifbar ist. Ich spüre ihn im Zimmer, selbst im Bett zieht
es über mich. Ruckelnd und zuckelnd reißt er an allem herum, was
beweglich ist. Oder was nicht beweglich ist, aber beweglich sein
sollte. Zumindest aus seiner Sicht. Sucht er jemanden, oder tobt er
in blinder Wut? Sein Heulen und Drücken schafft große Unruhe in der
ansonsten tiefen, stillen Nacht. Am Rande meines Gesichtsfeldes
blinkt etwas, wenn ich hinschaue ist es weg. Die Jalousie bewegt sich
in der Zugluft. Die inneren Sirenen surren und singen besonders hoch,
besonders schrill, besonders intensiv.
Ich schaue auf die Zimmerlampe, aber
sie bewegt sich nicht; auch sonst nichts im Zimmer. Nur der
Traumanalysezettel und das Blatt mit el hombre que corre sind vom
Bücherstapel zu Boden geflattert, aber vom Wind verweht, den ich
selber erzeugt habe, mit Hilfe der Bettdecke, unabsichtlich.
Neben dem ständigen, stärker oder
schwächer werdenden Burren erzeugt der Wind auch ein flacheres,
wischendes Geräusch, das plötzlich auftaucht und gleich wieder
verschwindet. Ich lausche jetzt intensiv zum Wind hin, aber er
hat seine Intensität heruntergefahren. Jetzt ist es sogar still.
Kurz. Dann kommt wieder ein schwaches Burren und Blasen auf, zuerst
gleichmäßig schwach, dann in kurzen, starken Stößen, begleitet
von einem jaulenden Aufheulen. Worüber jammert der Wind? Wieso heult
er auf? Als wäre er eine unerlöste Kraft, in irgendeine fremde
Gestalt gebannt, aus der er sich befreien will. An den Händen spüre
ich den Wind, im Gesicht, am Kopf, und wenn ich aufstehe deutlich an
den Füßen und Knöcheln.
Aber
jetzt stehe ich nicht auf; ich werde mich flach hinlegen, zum
Schlafen.
Was
passiert mit Menschen, die in Scham leben? Sie leben in einem
Universum, das hauptsächlich aus ihren eigenen Gedanken, Bildern und
Projektionen besteht; sie merken sich keine Namen und können
Menschen nur schlecht beschreiben. Zumindest die, die in ihrer
Gegenwart sind. Die Gespenster der Vergangenheit dagegen sind sehr
„lebendig“. Aber auch sie können sie schwer beschreiben, weil
sie für sie zu groß sind. Sie können sie nicht fassen. Die sind
wie übermächtige Götzen für sie; sie sind noch erschrocken,
starren sie mit weit aufgerissenen Augen an und sind wie gelähmt.
Eigentlich
können sie auch Bäume, Wälder, Straßen, Felder, Wiesen, Berge,
Seen, Bäche, Flüße, Wege, Steige, Steine, Felsen, Wind und Wetter
und so weiter nur schlecht beschreiben; alles gerät ihnen zu
Facetten des eigenen Dramas; alles wird von den Gefühlen aus der
eigenen Dunstglocke, in der sie gefangen sind, überzogen; alles wird
zur Staffage der eigenen Projektionen; ein gallertiges Universum, in
dem sie leben, umgeben von einer zähen Masse aus Vergangenheit. So
merken sie nicht oder kaum, wenn ihnen Menschen (und Ereignisse und
Dinge) anders begegnen als es ihre Gespenster tun; das spielt sich
bestenfalls am Rande ihres Wahrnehmungsfeldes ab, wie ein Flimmern in
den Augenwinkeln etwa.
Ja, so
ähnlich ist es. Die Kraft, die das wegblasen soll, muß stark sein.
©Peter
Alois Rumpf Dezember 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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