Dienstag, 1. Dezember 2015

241 Wind oder kleine Ergänzungen zur Scham


Der Wind heult schon den zweiten Tag ums Haus; er reißt und rüttelt an Türen und Fenstern und was sonst noch angreifbar ist. Ich spüre ihn im Zimmer, selbst im Bett zieht es über mich. Ruckelnd und zuckelnd reißt er an allem herum, was beweglich ist. Oder was nicht beweglich ist, aber beweglich sein sollte. Zumindest aus seiner Sicht. Sucht er jemanden, oder tobt er in blinder Wut? Sein Heulen und Drücken schafft große Unruhe in der ansonsten tiefen, stillen Nacht. Am Rande meines Gesichtsfeldes blinkt etwas, wenn ich hinschaue ist es weg. Die Jalousie bewegt sich in der Zugluft. Die inneren Sirenen surren und singen besonders hoch, besonders schrill, besonders intensiv.

Ich schaue auf die Zimmerlampe, aber sie bewegt sich nicht; auch sonst nichts im Zimmer. Nur der Traumanalysezettel und das Blatt mit el hombre que corre sind vom Bücherstapel zu Boden geflattert, aber vom Wind verweht, den ich selber erzeugt habe, mit Hilfe der Bettdecke, unabsichtlich.

Neben dem ständigen, stärker oder schwächer werdenden Burren erzeugt der Wind auch ein flacheres, wischendes Geräusch, das plötzlich auftaucht und gleich wieder verschwindet. Ich lausche jetzt intensiv zum Wind hin, aber er hat seine Intensität heruntergefahren. Jetzt ist es sogar still. Kurz. Dann kommt wieder ein schwaches Burren und Blasen auf, zuerst gleichmäßig schwach, dann in kurzen, starken Stößen, begleitet von einem jaulenden Aufheulen. Worüber jammert der Wind? Wieso heult er auf? Als wäre er eine unerlöste Kraft, in irgendeine fremde Gestalt gebannt, aus der er sich befreien will. An den Händen spüre ich den Wind, im Gesicht, am Kopf, und wenn ich aufstehe deutlich an den Füßen und Knöcheln.
Aber jetzt stehe ich nicht auf; ich werde mich flach hinlegen, zum Schlafen.


Was passiert mit Menschen, die in Scham leben? Sie leben in einem Universum, das hauptsächlich aus ihren eigenen Gedanken, Bildern und Projektionen besteht; sie merken sich keine Namen und können Menschen nur schlecht beschreiben. Zumindest die, die in ihrer Gegenwart sind. Die Gespenster der Vergangenheit dagegen sind sehr „lebendig“. Aber auch sie können sie schwer beschreiben, weil sie für sie zu groß sind. Sie können sie nicht fassen. Die sind wie übermächtige Götzen für sie; sie sind noch erschrocken, starren sie mit weit aufgerissenen Augen an und sind wie gelähmt.

Eigentlich können sie auch Bäume, Wälder, Straßen, Felder, Wiesen, Berge, Seen, Bäche, Flüße, Wege, Steige, Steine, Felsen, Wind und Wetter und so weiter nur schlecht beschreiben; alles gerät ihnen zu Facetten des eigenen Dramas; alles wird von den Gefühlen aus der eigenen Dunstglocke, in der sie gefangen sind, überzogen; alles wird zur Staffage der eigenen Projektionen; ein gallertiges Universum, in dem sie leben, umgeben von einer zähen Masse aus Vergangenheit. So merken sie nicht oder kaum, wenn ihnen Menschen (und Ereignisse und Dinge) anders begegnen als es ihre Gespenster tun; das spielt sich bestenfalls am Rande ihres Wahrnehmungsfeldes ab, wie ein Flimmern in den Augenwinkeln etwa.

Ja, so ähnlich ist es. Die Kraft, die das wegblasen soll, muß stark sein.








©Peter Alois Rumpf Dezember 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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