Donnerstag, 17. Dezember 2015

252 Geil

Im Café: Kaffeeduft. Ich – ängstlich wie ich sein will – nehme ihn koffeinfrei. Obwohl ich den auch irgendwie spüre. Willkommen in der Welt der falschen Kaffees und unechten Traditionen. Egal, nicht so schlimm. Ob ich zeitunglesen werde? Noch nicht. Viele ältere Damen in meinem Alter sind hier. Die Jüngeren von ihnen bewegen sich manchmal richtig geil. Sie führen vor der Mehlspeis- und Tortenbudel regelrechte Bauchtänze auf. Sie drehen sich, schwingen die Hüften hin und her, greifen sich mit den Händen an ihre Hintern oder Schenkeln; beugen sich vor und richten sich auf; mit lüsternen Blicken schauen sie auf ihr Objekt der Begierde. Ist Fett und Zucker schon so schwer sündhaft, daß frau sich beim Tortenbestellen geil fühlen muß? Oder darf? Oder will? Oder bilde ich mir das etwa nur ein? Eine Projektion gar? Wer weiß.

Ich esse jetzt am süßen Nußzeugs weiter und neutralisiere es mit ein paar Schluck bitteren Kaffees. Bitte um ein wenig Geduld, bis ich weiterschreiben kann.

Drei junge deutsche Herren in Anzügen sind hereingekommen. Ein Baby höre ich auch. Ich denke, ich werde jetzt zeitunglesen. Der eine hält sich sein Smartphone mitten an die Stirn, als wäre er in  innigem Gebet oder tiefer Meditation versunken. Das dritte Auge aufladen, oder umgekehrt, die Wahrnehmungen des dritten Auges aufs Smartphone. Smrtphone. Aufhören mit den Wortspielen. Ich nehme die Zeitung, dann eine andere. Wie immer, wenn ich länger zeitunglese, wird mir ganz flau. („Flaue Sau“ hat einmal ein Bild von Hannes Priesch geheißen.) Die Zeitung interessiert mich nicht mehr. Zuerst glaube ich, es interessiert mich, was da steht, fange an zu lesen, aber dann wird es mir zu fad. Das sind nicht die Dinge, die mich wirklich beschäftigen. Ja schon, das eine oder andere interessiert mich vielleicht ein wenig. Kurz kann sogar ein Strohfeuer aufflammen. Oder im Sportteil. Selten lese ich einen Artikel zu Ende.

Draußen vor der Glastür ziehen vorweihnachtliche Karawanen vorbei. Mein Blick ist ein Tunnelblick, jedoch architektonisch bestimmt. Ein Vexierspiel aus Wohlfühlen und Unwohlfühlen. Es kippt hin und her. Das Unwohlfühlen wird immer länger. Ich hebe den Kopf um den letzten Schluck aus der Tasse in meinen Schlund zu leeren, da sehe ich, oben an der Wand hängt das Geweih eines jungen Elches. Wirklich ein Elch? Ich kann es nicht glauben. Gibt es so verwachsene Geweihe auch bei einheimischen Hirschen? Keine Ahnung.

Ich gehe lieber. Ich will rostiges Schokoladenwerkzeug kaufen. Einhundertvierzig durch Siebenundzwanzig ist Fünfkommairgendwas.















©Peter Alois Rumpf Dezember 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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