Freitag, 18. Dezember 2015

254 Virgilkapelle

Wir tragen ja alle einen Horizont an Gedanken, Theorien, Vermutungen, Werturteilen, Glaubenssätzen etcetera mit uns herum - oft mit starken Gefühlen verbunden, jene stammen genauso aus frühkindlichen Prägungen wie aus später übernommenen Vorstellungen, ob von Eltern, im Kindergarten, Schulen oder ob sie aus Büchern kommen, oder Sätze sind, die wir von einprägsamen Personen gehört haben oder im Radio oder in unseren Peergroups und so weiter - aus diesem Reservoir schöpfen wir die Elemente, die wir zu unserem ständigen inneren Monolog verspinnen, mit dem wir dann das, was wir erleben, deuten und bewerten. Wichtig ist, daß erst hinter dieser kulturell und sprachlich bestimmten Wirklichkeitswahrnehmung die eigentliche, befreite Wahrnehmung beginnt, an der wir alle Anteil haben und die als angeborenes Potential in uns bereit liegt, um genutzt zu werden. Die Seher bei Castaneda nennen dies das „Wissen ohne Worte“ - das ist das Wissen, das aus unmittelbarer Wahrnehmung von Energie beziehungsweise energetischer Fakten resultiert.

Ich habe mehrere geistige Schulen durchlaufen; christliches Denken gehört genauso dazu wie positivistische, marxistische, psychologisch-freudianische und postfreudianische Durchgangsstadien; eine ordentliche Portion Existentialismus – mehr im Sinne eines Lebensgefühls, als im Sinn einer akademisch-philosophischen Richtung gehört auch dazu; wohl mehr über Literatur und Kunst vermittelt, als über die akademische Ausbildung. Irgendwo geistert auch ein kleiner Darwinist herum, vermutlich sehr früh, noch vorm Christentum in meinen Horizont geraten. Viel später und sehr wenig im Umfang, aber sehr prägend auch die Wissenssoziologie von Berger/Luckmann; sehr massiv die Münchner Rhythmenlehre von Wolfgang Döbereiner mit ihrer strikten anti-esoterischen Haltung und die Lehren des Nagual Don Juan Matus, wie sie Carlos Castaneda überliefert hat. Das alles gehört mehr oder weniger zu meinem kulturellen Gepäck, egal, ob ich mich gründlich mit den Quellen beschäftigt habe oder nur indirekt damit konfrontiert war, durch Ausbildung und Zeitgeist, und egal, ob und wieweit ich das überhaupt richtig verstanden habe oder mir aus irgendwelchen Versatzstücken mein eigenes Süppchen gekocht habe. Dies alles in seiner ganzen Widersprüchlichkeit hat mein Denken und meine Weltsicht geprägt und prägt es immer noch mit wechselnden Prioritäten. So gehöre ich fast überall und nirgends dazu.

Am stärksten hat mein Denken wohl meine Castaneda-Lektüre beeinflußt. Mich hat sehr schnell die Nüchternheit, das strenge Denken, die Vorurteilslosigkeit, die Unkorrumpiertheit – ach, besser einfach die Lauterkeit dieser Seher fasziniert, respektlos gegen alle Ideologisierung und Überhöhung und Anbetung von Denkgebäuden, Seher, die aber gleichzeitig die wunderbarsten und unbeschreiblichsten Taten vollbringen und ihre Wahrnehmung ins Unvorstellbare erweitert haben.
Dabei ist egal, was ich davon richtig verstanden habe und was nicht, wieweit ich damit gekommen bin oder auch nicht – es ist ein wichtiger Teil meines Denkens und meiner Weltsicht geworden, auch wenn es bei den Sehern selbst in erster Linie nicht um Denksysteme geht.

Alle diese Denksysteme haben in mir ihre Spuren hinterlassen und melden sich auch immer wieder zu Wort. Aber auch was die anwesenden inneren Sprecher betrifft, geht es nicht nur um Denkmodelle, sondern auch um emotionale Cluster, emotional gefärbte Figuren, die auch ihren Senf dazugeben. Das sind natürlich die internalisierten Sprecher vornehmlich meiner Kindheit, öfters mit den verschiedenen Denkmustern vermischt. Soweit so klar.

Wenn ich zum Beispiel in einem Buch lese, daß in der Virgilkapelle am Stephansplatz in Wien einer der stärksten Kraftplätze sein soll, so schaut das für mich so aus: Ich habe keine Zweifel, daß es Kraftplätze gibt, also Plätze besonderer Energieströmungen oder Energiezusammenflüsse, die den dort Verweilenden einen Energieschub verpassen können, indem die Energieströme direkt auf die Energiekörper einwirken. Andererseits muß nicht jeder, der von solchen Sachen redet, sich auch wirklich auskennen. Oder er spürt die Energie am Ort tatsächlich, aber zieht falsche oder voreilige Schlüsse daraus oder peppt damit irgendeine private oder kollektive Ideologie auf. Und wenn ich lese, „einer der stärksten Energieplätze der Welt“, dann werde ich mißtrauisch, denn das klingt für mich nach „Überhöhung“ - ich meine, wer kennt schon alle Kraftorte der Welt und hat sie alle bereist und überprüft? Aber ausschließen werde ich es auch nicht, denn was weiß ich schon, was es zwischen Himmel und Erde alles gibt, und mein Mißtrauen war oft kein guter Ratgeber. Also werde ich hingehen.

Ich bin hingegangen und habe mich hingestellt um zu schauen, ob mir irgendetwas auffällt, ob ich irgendetwas merke. Natürlich, da hat man seine Sinne offen und geschärft und ist aufnahmebereit, was bereits mit einer bestimmten vagen oder genaueren Erwartungshaltung zusammenhängt. Ich halte mich in solchen Sachen für nicht sensitiv. Wenn ich hingehe, brauche ich aber trotzdem nichts glauben, ich denke mir, kann sein, das da was ist, oder auch nicht. Wobei ich schon annehme, daß alte Kultstätten an Kraftplätzen errichtet wurden.

Also heute gehe ich hinunter in die Kapelle, bewundere und genieße den Raum; ich mag diese schlichte Wandmalerei, die einfach aus roten Linien besteht; von der aber nur mehr Reste da sind, an viele Stellen ist der Verputz nicht mehr erhalten. Ich stelle mich dort hin, wo ich glaube mich zu erinnern, daß das der stärkste Platz sein soll. Nebenbei gesagt – ich denke, daß es durchaus typisch für mich ist, daß ich vergessen habe, vorher nochmals genau nachzulesen.

Ich stelle mich an diese Ecke, aber es zieht mich in die linke Nische. Ich spüre, ich will da hinein. Ich starre gegen die alte, schrundige Mauer und fühle mich sofort überwältigt; ich glaube, in eine Tiefe zu blicken und glaube, in der Luft flimmernde Vibrationen wahrzunehmen. Aber nur kurz, dann gewinnt meine Skepsis die Oberhand. Man kann ja auch am Klo sitzen und auf die Muster der Fliesen am Boden starren und plötzlich in eine Tiefe gaffen. Das bestätigt und das widerlegt nichts. Die Tätigkeit meines Denkapparats läßt die Empfindungen sich mehr und mehr verflüchtigen. (Das andere Bewußtsein ist sehr scheu, wie ein wildes Tier.) So gehe ich ein wenig herum, probiere verschiedene Stellen aus, schaue mir die anderen Besucher an und vermute gleich, daß auch andere hier nicht bloß einen historischen Bau, sondern einen Kraftort suchen, denn einige stehen still und halten ihre Augen geschlossen. Besonders ein Mann und zwei Frauen fallen mir auf, die auch zusammen zu gehören scheinen. Ich gehe hierhin, ich gehe dorthin – ich kann jetzt nicht mehr sagen, daß ich etwas besonderes bemerke. Auch die drei gehen herum, stellen sich in verschiedene Nischen und so weiter. Dann sehe ich, wie die jüngere der Frauen versucht, etwas in die Zisterne zu träufeln, ich denke an so etwas wie Öl, aber der kleine Behälter scheint leer zu sein. Sie geht wieder weg, kommt wieder zur Zisterne. Ich stehe wieder in „meiner“ Nische, stehe ganz ruhig da, versuche in die innere Stille zu kommen und die Schwingungen zu spüren, wie ich sie bei manchen Tensegrityübungen spüre. Da kommt sie auf mich zu und spricht mich an. Die zweite Frau gesellt sich auch dazu und zeigt mir auf ihrem Audioguide, der offensichtlich auch optisch arbeitet, ein Photo eines nur mehr in ganz kleinen Resten erhaltenen Bildes eines Gesichtes – eigentlich ist nur mehr ein Auge deutlich zu erkennen - und fragt mich, ob ich das Gesicht schon gefunden habe. Da ich heute keinen Audioguide nehmen wollte, wußte ich gar nichts von einem Gesicht und habe es deshalb auch gar nicht gesucht. Das will ich gerade der Dame sagen, als ich es finde - ich stehe unmittelbar davor. Meine Antwort fällt dann so aus: „Nein, ich habe es nicht gefunden - Da ist es!“ und zeige hin. Die Frau scheint verblüfft zu sein, ich grinse innerlich, und die andere Frau sagt: „Gell, du spürst es auch“. Wir wechseln ein paar Worte, ich bin freundlich, innerlich werde ich spröder – ich denke, sie könnten mir magische oder geomantische Fähigkeiten zusprechen und das macht mich unsicher, obwohl ich mir geschmeichelt vorkomme und ich in echt nichts mehr ersehne als das – nämlich solche Energieströme wahrzunehmen. Ich sage zunächst, daß ich nichts spüre, aber so, mit meinem Grinsen, daß die Damen denken können, der tut nur so, er will es bloß nicht zugeben. Bereits völlig vergessen hatte ich meinen ersten Eindruck beim Betreten der Nische. Ich grinse weiter und sage dann, - aus etwas wie Übereinstimmungszwang? - „ja, ich spüre schon etwas“ und komme mir dabei wie ein ziemlicher Schwindler vor. Im Ernst: ich weiß nicht, welche innere Stimme mir das eingesagt hat: der Teil, der diese Vibrationen wahrgenommen haben will oder wahrgenommen hat, oder der Teil, der dieses Gespräch einfach mitspielen will.
Nun, wir wechseln die Plätze und jeder geht wieder separat herum. Dann kommen die Damen wieder zur Zisterne und die Jüngere träufelt jetzt ihr Öl hinein. Darauf kommt sie zu mir und fragt mich, ob ich Rosenöl haben will. Verlegen stottere ich herum, sage ja und frage wohin man das geben kann. Auf die Hand vielleicht, ich halte ihr die rechte Hand hin – wahrscheinlich aus Gewohnheit, weil man die rechte Hand gibt; der Impuls die linke Hand zu nehmen kommt etwas zu spät. Sie träufelt mir Rosenöl auf meine rechte innere Handfläche, ich bedanke mich artig und versuche gleich, etwas davon auf die linke Handfläche zu verteilen.
Ich reibe mir das Öl mit den Daumen in die Handflächen, lächle, aber stehe wieder still und versuche mein Fühlen wieder fortzusetzen. Dann kommt sie wieder auf mich zu, verabschiedet sich, gibt mir die Hand und wünscht mir schöne Weihnachten. Ich ihr auch und alles Gute.

Dann gehen sie weg. Ich bleibe noch ein bißchen, dann gehe auch ich weg.

Der Skeptiker und Spötter in mir sagt: „Was bist du für ein Schaf! Du läßt alles mit dir machen! Die kann dich bei der Hand nehmen und irgendwo hinführen, du gehst brav mit, und wenn sie dich in die Hölle führt.“ Der „Psychologe sagt: „Wie wahr! Du hast kein Selbstgefühl, keine Identität und keine Abwehr. Du kannst nicht nein sagen. Das ist ein schwerer psychischer Defekt!“ Der innere Darwinist meldet sich bei diesere Geschichte nicht zu Wort, aber er würde sagen: "Nicht lebenswert!" „Also besser raushalten“, sagt das gedemütigte „Ich“, „du kannst das nicht durchstehen.“ Der Ängstliche meckert herum, daß ich ja nicht wissen kann, was das wirklich für ein Zeug ist; vielleicht giftig oder bloß sehr billig und allergienauslösend. Und überhaupt – vielleicht sind die von einer esoterischen Sekte, unterwegs auf Seelenfang, die in dir ein geeignetes Opfer für ihre hypnotischen Manöver gefunden haben. Was der innere Freudianer denkt, brauch ich nicht herschreiben, denn das weiß heute jeder. (Obwohl ich behaupte, Freud geistig überwunden zu haben.) Der Rationalist in mir behauptet, ich versuche irgendetwas Zufälliges mit einer herbeisuggerierten Bedeutung aufzuladen. Auch er kann recht haben. Oder unrecht. Der existentialistisch angehauchte Resignierer in mir sagt: „du brauchst nicht mehr erwarten, daß in deinem Leben irgendetwas noch zu irgendetwas führt. Du brauchst nur mehr auf den Tod warten.“ Der innere Komiker glaubt dem Vorredner kein Wort seines coolen, abgeklärten Getues und grinst nur, hebt und senkt die Augenbrauen und zwinkert. Der Kraftplatzgläubige ist sich nicht sicher – ist da was? Oder nicht? War das was? Oder nichts? Der Gehemmte erstarrt und stellt auf Abwehr. Der Einsame, der so gerne mit jemandem vorurteilsfrei über  Himmel, Auferstehung, Himmelfahrt und Erlösung etc. reden möchte,  freut sich über dieses Gespräch, die Segenswünsche und den Händedruck. Und so weiter und so fort. Das geht dann mehrmals im Kreis.


Und jetzt liege ich im Bett, die Katze auf meiner Brust, versuche alles aufzuschreiben und rieche stark nach Rosenöl.

Und was war das jetzt wirklich? Keine Ahnung. Aber das macht nichts.












©Peter Alois Rumpf    Dezember 2015     peteraloisrumpf@gmail.com

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