Samstag, 30. Mai 2015

134 Das Luftblasenspiel


Komuskra Dengli steht auf der Liste. Aber er will nicht mehr aufrecht sein. Nur liegen. Weder Antwort noch Rede stehen. Nicht verantwortlich sein. Weder aufrecht noch aufrichtig. Nur liegen und lügen. In die Materie versinken und auflösen, bis nur noch ein Blick überbleibt, der herumwandern kann. Ein Blick ohne Materie, ein körperloser Blick.

Er liegt am Rücken und schaut den Luftblasen zu, die über ihm an die Oberfläche der Flüssigkeit steigen und dort meistens kleine, zuckende Konglomerate bilden, die fast immer nach links wegschwimmen, an den Rand der Flasche, wo sie meistens zerplatzen, aber nicht auf einmal, sondern in kleinen Gruppen. Die Luftblasen suchen sich eindeutig, sie gehen einander zu, nur einmal stieben sie auseinander. Selten schwimmen sie nach rechts an den Rand, und das Konglomerat der Luftblasen wandert am Rand entlang wieder nach links, zerplatzt aber, bevor es dort angelangt ist. Meistens. Komuskra Dengli betrachtet lange diese Manöver der Luftblasen. Er findet sie spannend und interessant. Ein bedeutungsvolles Spiel vom Aufbauen und Auflösen, ein Drama im Kleinen.

Er will nicht mehr aufrecht sein. Im Sitzen krümmt er sich zusammen. Der in sich verkrümmte Mensch. Liegen und schauen. Und lauschen.

Jetzt scheinen die Lebenskräfte wieder langsam zurückzukommen.


Heute hängt Komuskra Dengli wieder an der Nadel. Er liegt wieder flach. Am Rücken.
Er schaut den Luftblasen zu, wie sie rausspringen und in einer tanzenden Bewegung nach oben schwimmen. Dort bilden sie oft zuckende Konglomerate, manchmal nur ganz kurz.
Im Glas spiegelt sich ein gasflammenblaues Licht, das öfters von den Luftblasenkonglomeraten überdeckt wird. Dieses Blau passt gut zur wassergrünen Etikette der Flasche. Immer stärker aber setzt sich ein weißes Licht durch. Das Blau umrandet noch einige Zeit das weiße Licht, wird immer dünner, bis es verschwindet.

Links neben ihm stöhnt eine Frau. Nur durch eine dünne Holzwand getrennt. Wenn es überhaupt eine Holzwand ist. Sie wimmert und stöhnt die ganze Zeit, bis sie aufgerufen wird. Dann hört er die Stimme einer anderen Frau.

So ist er vom Luftblasenspiel abgelenkt. Er schaut auf die Wand links. Das leicht grünliche Weiß hat unterschiedliche Intensitäten. Und dünklere Schattenstellen. Von draußen drängt der Verkehrslärm herein.


Schon hängt die Flasche im Ständer. Das bestechende Besteck liegt bereit. Das Licht brennt. Keine Luftblasen. Pflaster sind vorbereitet. Verabredet. Warten. Die Geräusche des Samstagsverkehrs branden in Wellen herein.

Die Flüssigkeit hat sich ein leichtes Blau eingefangen. Wie ein Tropfen blauer Tinte in einem Glas Leitungswasser.

Die Luftblasen steigen heute ruhiger auf, flott, aber nicht hektisch, ein ruhigerer Tanz.

Die Luftblasen sind dunkler als gestern, kaum zu erkennen. Nur am Glasrand leuchten sie weiß auf, bevor sie zerplatzen.

Ein Konglomerat dreht sich im Kreis, zuckend, bevor es zum Rand schwimmt.

Hinter der Plattenwand reden zwei Frauen. Sein sprachliches Gehör kann es nicht verstehen. Sein sprachloses Gehör tut so, als verstehe es.

Ich stehe vor einer grünen Wand aus Kiefern, einer Fichte, Holunder. Ein kleiner Ahorn mischt auch mit. Die Fichte, eingezwängt, streckt ihre spärlichen Äste zum Licht.
Die Wassertropfen stürzen sich die grüne Wand hinunter. Der Holler blüht trotz Regen.
Alle sind müde und möchten schlafen. Die Geräusche des Regens prasseln sanft, hart und suggestiv.
Eine schwere, angenehme, ruhige Stille breitet sich aus und legt sich auf das ganze Gebiet.


Am Pfingstsonntag ging ich in die Röhre. Vorher wartete ich – nur kurz – in diesen typischen Räumen, wo man immer wartet. Modern, funktional, auf edel gemacht und beinahe glaube ich es.
An diesem Sonntag ziemlich leer. Das Surren der Leuchtstoffröhren in diese Leere hinein wirkt nahezu melancholisch.

Dann in Unterhose und Socken in die Röhre. Die Magneten stampfen, pochen, surren, hämmern. Unterlegt ein Rhythmus wie von einem starken, mächtigen Geschirrspüler und darüber ein schnell geschaltetes Hammerwerk. Ich habe soetwas noch gesehen; mein Großvater hat es mir gezeigt.
Das Pochen sagt zuerst: „unter Johnsbach, unter Johnsbach, unter Johnsbach...“, dann ändert es auf „unter Hohenbach, unter Hohenbach...“. Ich will es ändern auf „unter Hohenberg“, denn ein Hohenberg kenne ich, aber mein Veränderungsvorschlag wird nicht angenommen und setzt sich nicht durch. Das Mantra ändert sich wieder auf „unter Johnsbach“, um sich dann allmählich in „im ganzen Bach, im ganzen Bach...“ zu ändern.
Mir wird heiß. Ein bißchen Angst habe ich vor Verbrennungen; beim letzten Mal hatte ich eine Brandblase davon getragen. Aber diesmal werde ich nicht angebrannt.
Das System arbeitet, hämmert und pocht weiter, mit kurzen Pausen, in denen nur das Geschirrspülergeräusch übrigbleibt. Dann wird es still. Und bleibt still. Was jetzt? Kommt noch etwas? Nein. Stille. Ich höre eine Tür sich öffnen und schließen. Dann werde ich aus der Röhre geschoben. In Unterhose und Socken stehe ich vor der Dame und bespreche den weiteren Ablauf. Ich gehe in die Kabine und kleide mich an. Was heißt „kleide“! Ich hemde und hose mich an, dann pullovere und bejacke ich mich. Als beschuhter Möchtegernkarmelit verlasse ich die Klause – und gehe auf einen Kaffee. Koffeinfrei, wie es sich für mich gehört.

Der viele Regen hat die Luft reingewaschen. Ein guter Duft liegt in der Stadt, den die Autos nicht gleich verdrängen können.
Torbögen sind wirklich angenehm. Ich lebe Torbögen. Eine prominente Frau – ihre Stimme kennt halb Österreich – tritt herein und wählt Mehlspeisen aus. Sie trägt sie auf einem Tablett hinaus. Auch sie zahlt den Einsatz fürs Tablett.
Ein bißchen geht sie so, als kennte sie die Schmerzen des Kreuzes. Vielleicht habe ich mich auch getäuscht.
Ein leerer Zeitungshalter schaukelt lange, bis ihn die Schwerkraft abgebremst hat. Erstaunlich lange widersteht er der Schwerkraft. Oder widerschaukelt ihr. Ein unbeachtetes Perpetuum mobile. Ich war am Klo und jetzt schaukelt er immer noch. Auch die Reibung dort am Haken, an dem er hängt, kann ihm nichts anhaben.

Ich gehe jetzt heim; gegen die Kälte bin ich warm angezogen.


Ich liege wieder unter den Luftblasen. Ich schaue ihnen zu, aber das Stück kenne ich schon. Mir gefällt die blaßgrünblaue Farbe, die die Flüssigkeit angenommen hat. Mir war den ganzen Tag schlecht, aber im Liegen ist es noch am Angenehmsten. Das Luftblasenspiel interessiert mich nicht mehr so, aber dennoch schaue ich die ganze Zeit hin. Es ist das einzige, das sich in dieser Kammer bewegt. Jetzt, beim viertenmal, durchschaue ich es erst: es ist die Luftblase und ihr Spiegelbild auf der Oberfläche der Flüssigkeit, die aufeinander zusaußen und sich dann vereinen. Und sie bilden dann hoffungsvolle Konglomerate, bei denen baut sich etwas auf – denkt man, wie Zellen, die sich vermehren, nur daß die Luftblasen von außen dazustoßen. Trotzdem schaut es wie Wachstum aus – aber sie zerfallen alle. Alle zerfallen relativ schnell.
Oh Gott! Ist mir schlecht!



Heute hänge ich an einer Flasche aus Plastik. Die Flüssigkeit strahlt in einem trüben Weiß. Ich kann keine Luftblasen sehen. Ständig halte ich nach ihnen Ausschau. Obwohl mir das Luftblasenspiel schon fad war – jetzt, wo es fehlt, geht es mir ab. Ich weiß nicht, wo ich sonst hinschauen könnte. Immer wieder starre ich auf die Flasche. Das Plastik spiegelt kein Grün und kein Blau. Ich überlege, es muß Luftblasen geben, bei allem, was ich über Physik weiß. Das ist natürlich sehr wenig. Die Zeit vergeht nicht. Erst ganz zum Schluß, als nur mehr wenig Flüssigkeit in der Flasche ist, sehe ich die Luftblasen. Ich bin erleichtert. Ich habe doch keine Revolution in der physischen Welt übersehen
Obwohl mir noch schlecht ist, es geht mir schon etwas besser.






©Peter Alois Rumpf Mai 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 18. Mai 2015

133 Der fundamentalistische Rauswurf


Spricht man über Religion, ist es wichtig, sich über die Begriffe im Klaren zu sein. Meint man mit Religion – vom lateinischen Wort religare, das heißt anbinden, zurückbinden – die Verbindung zum Ursprung, zur Transzendenz oder wie man es nennen will, im Sinne von Zurückgebunden-Sein an das, woher und woraus wir kommen? In diesem Sinn hat Religion die Aufgabe, durch Wort und Kult an diese Verbindung zu erinnern und sie zumindest symbolisch darzustellen, wenn nicht - für wenigstens kurze „heilige“ Momente – wirklich herzustellen. Manche würde das Entfalten dieser Verbindung eher als Spiritualität bezeichnen und reservieren den Begriff Religion für religiöse Denksysteme und Institutionen samt Religionsbehörden und Religionsbürokratie. Die Begriffe können klären, aber auch verwirren.

Ich halte es da mit Castaneda, der sagt, daß wir alle – wie es diese Seher ausdrücken – eine Verbindung zum Abstrakten haben, die aber durch unsere Sozialisation zu Alltagsmenschen beinah lahmgelegt wurde und nicht genutzt wird. Wir Alltagsmenschen nutzen nur ein paar Promille unseres angeborenen und angestammten Potentials. Wir spüren und ahnen diese vergessene Verbindung mehr oder weniger unbewußt und suchen sie mit mehr oder weniger geeigneten Mitteln. Wir spüren den Verlust als Mangel, der uns unglücklich macht.

Hat man diese Verbindung defacto verloren – ganz kann sie nicht abreißen – neigt zum Beispiel der moderne, aufgeklärte Mensch dazu, zu leugnen, daß es diese Verbindung überhaupt gibt.
Oder man hält an Religionssystemen fest, obwohl man die Verbindung in seinem Inneren verloren hat, und klammert sich an Lehrsätze, Autoritäten, Formeln und Formen, Rituale, die dann leer geworden sind.
Der religiöse Fundamentalist und der aufgeklärte Spötter sind miteinander ganz nah verwandt.

Dazu passt eine lustige Episode aus meiner Kirchenannäherungszeit.
Ich habe schon oft hergeschrieben, wie ich – gedrängt durch den Astrologen Döbereiner – zur katholischen Kirche zurückfinden wollte. Mein Herz war aber ganz wo anders. Trotzdem versuchte ich „tapfer gegen mein Empfinden“ (W. Döbereiner), mich in die Kirche zu „implantieren“.

Nun habe ich damals zwar nie an der Möglichkeit gezweifelt, daß der Mensch eine „Verbindung zum Abstrakten“ haben kann, aber erstens konnte ich meine nicht aktivieren, und zweitens bezweifelte ich, daß dafür die Kirche viel hergibt.
Also: ich versuchte, in die Kirche zu finden, obwohl ich dachte, dort ist für eine echte Verbindung zur Transzendenz – um es einmal so auszudrücken – nicht allzuviel zu holen.
Ich wollte mir das aber nicht abnehmen, weil ich in diesem Punkt ganz dem Döbereiner vertraute. So in dem Sinn – wenn der es sagt, dann muß etwas dran sein. Wer bin ich schon, daß ich das besser weiß?
Und somit war ich durchaus in Gefahr, als „unechter Fundamentalist“ in das Fahrwasser eines gewissen Fanatismus zu geraten und - vermittelt über Döbereiner – in eine denkerische Rigidität. Noch dazu, wo ich an einer Auflösung des „Religiösen“ in intellektuell-aufklärerische Philosophie oder Sozialethik – am „progressiven“ Fluchtweg also – überhaupt nicht interessiert war. Das hatte ich in meiner linken Phase zur Genüge genossen.

Ich ging in dieser Zeit täglich zur Messe, oft zu Mittag in den Stephansdom. Das meine ich noch nicht mit „fanatisch“. Das hatte etwas für sich. Auch wenn ich es heute nicht mehr mache. Denn ich hatte dabei das Gefühl, der Welt und ihren Ansprüchen „die lange Nase zu zeigen“. Das mochte ich. Und es gab bei meinen Meßbesuchen glückliche Momente. Mir kommt auch heute noch vor, daß bei den Lesungen und Gebeten dort und beim Vollzug der Riten öfter meine Herzensangelegenheiten vorkommen und behandelt werden, als bei den meisten Partygesprächen. Zum Beispiel. Das nur zur Klärung.

Dennoch saß ich oft in der Messe und dachte, „wo bin ich da hingeraten!“ Wenn ich mich umschaute – die Meßbesucher und die Zelebranten wirkten nicht so, als hätten sie ihre „Verbindung zum Abstrakten“ aktiviert. Das hatte ich selber auch nicht, aber was kann ich dann von ihnen lernen? Auch die, die fröhlich dreinschauten, wirkten auf mich eher künstlich, verlogen, unecht. Da wird schon auch Arroganz meinerseits dabei gewesen sein, aber die Frage war berechtigt, ob ich hier in einer Sackgasse gelandet bin oder ob die wirklich von einem weiterführenden Weg wissen, oder ihn nur propagieren und versprechen.
In meinem Inneren hätte ich gesagt: Nein, da führt kein gscheiter Weg weiter, aber: Döbereiner hat gesagt....
Umso verkrampfter klammerte ich mich fest.

Wenn man um zwölf Uhr Mittag in den Stephansdom zur Messe geht und schon etwas vor der Zeit dort ist – was ich gerne machte, um den Dom und seine Atmosphäre in mich aufzunehmen – dann gibt es eine Übergangsphase, wo schon die Meßbesucher in den Bänken vorne sitzen, aber noch Touristen und Dombesucher herumgehen, bevor sie gebeten werden, den Gottesdienstbereich zu verlassen.

In so einer Phase kam eines Tages ein Mann mit zwei Frauen herein und machte sich über die Betenden und Knienden lustig, indem er sie in übertriebenen Gesten nachäffte. Mein Eindruck war, er wollte vor den zwei Weibern angeben. Ich aber wurde zornig und sagte ihm, er solle verschwinden. Es kam zu einem Disput, dessen genauen Wortlaut ich vergessen habe, aber wir haben uns schon ordentlich beschimpft. Er hat dann irgendwas gesagt wie „wenn wir jetzt nicht in der Kirche wären, würde ich dich niederschlagen!“ Oder habe ich das als erster gesagt? Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls sage ich dann: „Gut! Dann gehen wir raus!“ - ich glaube sogar: „dann gemma aussi auf die bluatwiesn!“

Ich war richtig zornig. Die Meßner dort sind schon unschlüssig-zögernd herumgestanden, aber mir war klar, wenn ich keine Rauferei im Stephansdom will, dann müssen wir raus vor das Tor.

Jetzt muß ich eine Zwischenbemerkung machen: ich war in meinem Leben nie ein Raufer, ich habe nie einen Kampf gewonnen. Meistens hat ein Schlag genügt, und ich bin am Boden gelegen. Ich habe solche Situationen wie die Pest gemieden. Ich mußte also damit rechnen, furchtbar Prügel zu beziehen. Aber in meinem „heiligen“ Zorn war mir das völlig wurscht. Ich weiß nur, daß ich geschlagen und getreten hätte, solange es nur gegangen wäre.

So, wir gehen also – high noon – nebeneinander von ganz vorne beim Altar den langen Weg zum Hauptportal, ich voll zum Kampf bereit. Und dann geschah etwas Eigenartiges, für mich völlig Unerwartetes. Der Typ, der mir gedroht hatte, mich zu verprügeln, fing an zu winseln. Ja, er wisse, er sei zu weit gegangen. Er wäre ja auch einmal Ministrant gewesen. ja, es tue ihm auch leid. Schließlich entschuldigte er sich bei mir.

Gleichzeitig dämmerte mir ganz allmählich, daß mein Zorn daher rührte, daß dieser Spötter genau das ausgesprochen, repektive gezeigt hatte, was ich selber dachte und empfand. Sein Spott über diese eigenartige, wenig überzeugende Ansammlung von Betern war auch das, was ich in meinem Inneren dachte. Da mußte ich innerlich lachen.

Als wir beim Tor draußen waren, hatte ich lachend seine Entschuldigung angenommen und gesagt, daß es okey ist. Beinahe empfand ich ihn schon als Freund, nur zeigte ich ihm das nicht und weigerte mich, seine ausgestreckte Hand zu ergreifen, sondern betonte lediglich nochmals, daß für mich jetzt alles okey sei. Ich wollte einfach meinen „Sieg“ auskosten und nicht durch Händeschütteln nivellieren. Mein erster Sieg im Leben! Mein Zorn war verraucht, weil ich schon begonnen hatte, ihn zu durchschauen. Darum war ich damals auch kein wirklicher Fundamentalist, denn ich mußte dann viel über mich und mein Manöver lachen. Deshalb bereue ich daran auch nichts und erinnere mich mit Vergnügen dieser Szene.

Nachzutragen ist noch, daß ich in meiner linken Phase davor selber ein großer Spötter vor dem Herrn war und mir - als Künstler - ein paar „blasphemische Geräte“ ausgedacht hatte, wenn ich sie dann auch nie gebaut habe.

Im Übrigen meine ich schon, daß man betende Menschen in Ruhe lassen kann und ihre Andacht – ob echt oder nicht – nicht stören braucht.





©Peter Alois Rumpf Mai 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

132 Survival Of The Fittest


Das Zerreißen des schlecht perforierten Papiers hat einen kurzen Stich in Kopf ausgelöst. Ich höre ein Tageskind weinen. Eher vor Zorn als vor Schmerz. Wenn ich es richtig deute. Die Katze tretelt auf meiner Decke und hält Abstand dabei. Loslassen. Es geht immer ums Loslassen. Ich lasse das Schreiben jetzt los und beginne zu lesen. Und dann beginne ich einzuschlafen.

Komuskra Dengli schläft gerade ein. Da reißt ihn ein Gedanke hoch: „Diese beschissene Kriegsgeneration! Weil sie survivt haben, glaubten sie, sie wären the fittest. Uns warfen sie vor, daß wir keinen Krieg überlebt haben. Dieses Selbstmitleid, auch wenn es stumm ist. Wir sollten merken, wie toll und arm sie sind. Toll waren sie, vom Bösen besessen; und arm auch. An Mitgefühl. An Selbsterkenntnis. An innerem Reichtum. Wir sind ihre Söhne, mit ihrem Samen gezeugt, in den Schößen enttäuschter Weiber, die sie vorher noch bewundert hatten. Als sie noch marschiert sind.
Wir müssen das Erbe verwalten. Es sitzt in unseren verdrehten Genen, sprachlos, kalt, stumm, geschwätzig, verlogen. Launige, falsche Wärme. Falsches, leeres Pathos. Anzügliche Scherze und schlechte Witze. Das ist kein Erbe, das nährt. Verweigern können wir es auch nicht. Zumindest nicht leicht. Unsere Gene zertrümmert vom Krieg. Ach, lassen wir es gut sein!“

Eine Katze klettert Komuskra Dengli auf die Brust. Er kann nicht mehr schreiben.
Er geht hinunter und holt sich einen Topf aus dem Geschirrspüler, weil er Reis kochen will. Da fährt ihm ein Schmerz in das Kreuz, daß er sich kaum noch aufrichten kann. Jetzt hat er Angst bekommen. Er gibt sein Fasten auf. Hoffentlich schafft er es morgen zum Arzt.

Ich habe mich im Wartezimmer unter den Bildschirm gesetzt. So muß ich ihn nicht anstarren. Ich mag keine Ordinationen. Das Kreuz tut weh. Warum schon wieder? Verzagtheit breitet sich aus. Sie gilt nicht. Was hat mich aus der Bahn geworfen? Was hilft mir die Revolution in der Schmerzmedizin, die am Plakat stattfindet? Ich glaube davon kein Wort. Ich glaube an das alles nicht. Handys sind abzudrehen. Ich mache es. Mich krümmt es zusammen. Es gongt dezent. Auch eine Energiematte gibt es auf der Pinnwand, aber meine Energie ist matt. Jetzt impfen gegen die Zecken! Niemals! Kommt nicht in Frage.

Ein Joker wird auch versprochen, von einem seriös dreinschauenden Arschloch. Ich glaube, mich frißt der Haß. Ist das der Grund für den Kreuzschmerz? Die Wut gestern beim Einschlafen? Die im Halbtraum hochgestiegen ist? Daß ich sie fürs Ego eingesetzt habe? Daß ich eine Generation verurteilt habe – was mir nicht zusteht? Der Wasserspender surrt. Alles surrt, surrt, surrt, auch der Bildschirm hinten über mir, die Wut in mir.

Die Frau trägt eine rote Hose; ich will nicht wissen, was das heißt. Der Mann im blauen Pullover blickt unsicher-wichtig umher. Er hat seinen Platz gefunden. Ich schaue die rote Frau an, ihre Füße sind ganz zart. Ein junger Mann mit Haube, der redet mit der Arzthelferin. „Ausgebrannt?“ fragt die Pinnwand, ich höre jetzt auf zu schreiben.




©Peter Alois Rumpf Mai 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 15. Mai 2015

131 Der zerfallende Text


Komuskra Dengli ist müde, schwach und trinkt Kräutertee. Er fastet. Beim großen, schlanken Mann hat er viel erzählt. Zum Schluß hat er gesagt: „Und dennoch!“, „Es ist gut!“ und „Ich bin bereit!“

Ein Geräusch dominiert die Umgebung, das ich zuerst für das einer Kreissäge gehalten habe, aber dafür ist es zu weich. Der gelbe Telefonierer läßt den Motor seines Lieferwagens laufen. Jetzt ist er weg und das weiche Geräusch ist wieder deutlich zu hören.

Komuskra Dengli ist dünnhäutig. Klar und verhuscht gleichzeitig. Wie in einem leichten Rausch. Sein inneres Gedankenkarussell dreht sich, zu schnell, als daß er es hinschreiben kann. Nicht zum Derlesen!
Eine schwarze Frau eilt aufrecht, stolz und fröhlich vorbei, sie lächelt kurz ins Fenster. Hat sie sich selber gesehen? Sich selbst anlächeln ist wichtig! Man kann sich aber auch im Anderen anlächeln. Oder? Der Transportlogist übersiedelt ins „in & Ausland“.

Ich würde gerne die Welt liebkosen. Was sagt der Asket dazu? Draußen: vergitterte Fenster und Doppelkinns. So viele verletzte Seelen! Der Mann sagt „Tag!“ ohne den Mund zu bewegen, es platzt einfach weich aus seinem halboffenen Mund heraus.

Der Mensch hat eine verletzliche Seele und dennoch ist er stark. Wir sind nicht so stabil, wie wir denken, dafür halten wir uns tapfer zusammen.
Der Mann mit dem „Tag!“ winkt; jetzt bin ich neugierig, wem. Sie kommen und es scheinen Freunde zu sein. Sie reden in einer slawischen Sprache.

Ich werde zu segnen versuchen, heimlich und ohne zu reden. Die Wochentage haben unterschiedliche Frequenzen, im Handel, im Kaffeehaus und so. Ein leichter Schauder massiert meinen Hinterkopf. Ich wandere weiter. Ich freue mich drauf.

Ich gehe gern. Oh wie gerne ich gehe! Als Pilger durch die Welt. Als Pilger durchs Universum. Egal, ob es stumm ist oder nicht. (Das Universum ist natürlich nicht stumm).

Komuskra Dengli schwankt mehr als er geht in seiner Fastenschwäche, aber das Schweberische gefällt ihm. Er fastet nämlich reis.
Jetzt ist gut rasten bei der gelben Macht. Hinter ihm die Birke, links die Riesenplatane, vor ihm der Wächter der gelben Macht, der melancholisch dreinschaut.
Unruhig kommen die Tauben herbei, der Wind blättert blind eine leere Seite um. Jetzt bin ich verstummt, jetzt schreib ich nicht mehr.
Manchmal spürt man ganz, ganz feine Regentropfen, vereinzelt. Eine Taube gibt nicht auf und umrundet meine Füße. Eine obdachlos dreinschauende Frau füttert die Tauben dezent.
Sieben trockene Blätter haben sich aufgespießt. Bei der stacheligen Taubenabwehr über der Schokolade. Darüber sind es nocheinmal mehr.

Es gibt viele telefonierenden Männer, ernsthaft, fast fromm schauen sie drein, aber mit Sorgenfalten. Und ebensolche Frauen.
Das Motorrad stinkt. Der Putztrupp kommt heute auf Rädern.

Jetzt drängt es mich wieder zum Aufstehen. Der Wächter wirkt nun nervös. Wirkt mein Schreiben verdächtig?

Komuskra Dengli ärgert sich maßlos. Über alles regt er sich auf. Nichts passt in der Küche. Seine Pläne sind schon durchkreuzt. Er denkt, er geht schlafen, dabei kritzelt er noch. Die Nachbilder halten schon länger, und bilden eine grünleuchtende Spur. Er bleibt heute doch in der Kammer.

Aufs Segnen hat er vergessen. Nur einmal zuckte er kurz.
Die Töne im Ohr surren schriller, ich schaue ratlos herum.
Irgendwo im Haus wird eine Tür zugeschlagen, oder die Tür schlägt selber zu. Es zittert, vibriert bis zu mir herauf.
Eine Spinnwebe wirft ihren Schatten, ich fange ihn nicht auf.
Er bleibt an der Decke kleben.
Eine andere macht es ihr nach.

Komuskra Dengli hatte Mitleid mit dem Essen, das er jetzt nicht aß, aber sonst schon gegessen hätte. Verblüfft stellte er fest, daß Nahrungsmittel nicht verkommen zu lassen ein Motiv für ihn ist, viel zu essen. Die getöteten Tiere und Pflanzen sollten wenigstens durch Verspeisen gewürdigt werden und nicht weggeworfen. Wo hat er das her?

Das Gebläse der Klimaanlage draußen vorm Fenster – oder ist es ein Dunstabzug? - konkurriert mit dem Surren im Ohr.

Ich liege im Bett und versuche zu schreiben. Es geht nicht. Nichts fügt sich zu Sätzen. „Surren“ kann ich schreiben, oder „Ticken des Weckers“, das war's. Ich fühle nichts, oder ich kann es nicht erfassen. Mir fehlen nicht die Worte, sondern das Material. Ich habe keine Assoziationen, zumindest keine, die weiterführen. Der Zustand ist mir nicht unangenehm. Ich habe Zeit, langsam und schöner zu schreiben als sonst. Nichts drängt sich auf. Ich weiß nichts zu erzählen. Es gibt nichts, was der Rede wert ist. Aber das ist mir recht. Ich lebe mehr „vegetativ“. Oder wie ein langsames Tier, das in Zeitlupe über den Boden krabbelt. Oder soll ich schreiben „auf dem Boden krabbelt“? Oder „über die Erde“?, „auf der Erde“?, oder „am Grunde der Welt“?

„Am Grunde der Moldau, da wandern die Steine...“ Warum fällt mir das ein? Weil mein Vater in Prag stationiert war? Wohl eher, weil ich viel Wolf Biermann gehört habe. „Am Grunde der Moldau wandern die Steine, es liegen vier Kaiser begraben in Prag..“ - das ist seine Version des Brechtliedes.
Warum jetzt Prag? Weil meine Schwester von Prag erzählt hat?

Mir zerfallen die Gedanken, sie zerbröseln wie Sand. In den frühen Achzigerjahren war ich auch zweimal in Prag. Dort habe ich keinen Eindruck hinterlassen. Höchstens mein Flinserl. „Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.“

Nichts fügt sich zu einem Bild. Die Entdeckungen überraschen nicht, sie lösen nichts aus.
Gestelzt schreibe ich die Wörter hin. Aufhören will ich auch nicht. Dem Leser muß das langweilig sein. Der Leserin auch. Wenn jetzt in mir etwas klar ist, dann ist es sprachlos. Aber ich weiß es nicht. Ich komme mir auch nicht richtig unklar vor. Eher so, als gäbe es nichts, das klar oder unklar sein könnte.
Das, was ich am stärksten spüre, ist das Surren in den Ohren. Wie im Fieber.




©Peter Alois Rumpf Mai 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 12. Mai 2015

130 Mein großer Diebstahl


Was ich jetzt erzählen will, passierte gleich nach meinem Arbeitsunfall, am selben Tag oder am Tag danach, im Dezember 77.
Ich habe schon oft hergeschrieben, welch ein Widerspruch zwischen meinen Ideen im Kopf und meiner charakterlichen Verfaßtheit war. Im Kopf wollte ich ein linker Rebell sein, im wirklichen Leben war ich ein schüchterner, im Grunde braver, autoritätshöriger Mensch, mit vielen Skrupeln und großer Anfälligkeit dafür, sich für jeden Schmarrn schuldig zu fühlen.

Irgendwie ist mir das schon aufgefallen, umso mehr habe ich mich angestrengt, rebellisch zu werden. Ich las Zeitungen wie den Pflasterstrand oder den Heidelberger Carlo Sponti, bewunderte zum Beispiel die dort geschilderten Kämpfe und obwohl ich vor so etwas wie Straßenkämpfen Angst gehabt hätte – die Leute, die das machten, bewunderte ich. Endlich welche, die sich wehren! Die sich was trauen!

Daß ich ein Trauminet bin, war der ständige Vorwurf der Eltern in meiner Kindheit. Ich hatte auch in meiner Pubertät nicht „richtig“ rebelliert, sondern nur einen Zeitungsartikel über einen jugendlichen Selbstmörder an die Wand über meinem Bett gehängt. (Der hatte sich umgebracht, weil er keine langen Haare haben durfte). Viel mehr war's nicht. Ansonsten hat meine „Rebellion“ so ausgesehen, daß ich überbrav war. Zum Beispiel in der Schule nicht abschreiben, obwohl das meine Eltern saublöd fanden und mir Vorwürfe machten, daß ich so stur und weltfremd bin. So in dem Sinn - „das macht doch jeder!“

Ja und jetzt war ich links und wollte wild sein. Ich wollte unbedingt etwas Verbotenes machen, endlich meine Bravheit und meine Angst überwinden. Aber ich konnte es nicht!
Die „Aktion Wetzawinkel“ (hier in der Schublade Nummer 100) galt in diesem Zusammenhang nicht, weil es ja nicht meine Idee war und ich bloß mitgemacht habe. Dasselbe dachte ich auch über meine schwarze Zugfahrt von Aachen nach Regensburg; das war zwar meine Idee, aber allein hätte ich das nie gemacht. (siehe „Wie ich auf die Bücher Carlos Castanedas kam“ hier Nummer 99).

Ich ging also ein, zwei Tage nach meinem Arbeitsunfall mit meiner verbundenen Hand zum Kastner und Öhler einkaufen. Ich trug damals lange Haare und brauchte Haarspangerl. Irgendetwas wollte ich noch fragen und es war kein Verkäufer aufzufinden, oder ich fand die Kassa im Stockwerk nicht gleich – jedenfalls denke ich, „ich geh jetzt einfach ohne zu zahlen hinaus“. Die Chance für eine rebellische Tat. Unter großem Herzklopfen und mit großer Angst machte ich es so.
Und tatsächlich, kaum verlasse ich das Kaufhaus, war schon ein Hausdetektiv da und hat mich gestellt. Ich mußte mit ins Büro. Was heißt „mußte“ - ich weiß gar nicht, ob ich gemußt hätte – ich ging halt brav mit. Und auf dem Weg ins Büro fand der bemerkenswerte Dialog statt, weswegen ich das alles erzähle, der meine unglaubliche Weltfremdheit offenbart.

Ich: „Sie werden mir das nicht glauben, aber das ist das erstemal, daß ich etwas gestohlen habe.“
Er: „Warum soll ich Ihnen das nicht glauben?“

Jetzt wurde mir erst bewußt, welch lächerliche Tat ich begangen hatte! Ein Haarspangerl! Ein Haarspangerl! Ich, der große Möchtegernrevoluzzer will ein Haarspangerl stehlen – und nicht einmal das gelingt ihm! Oh wie peinlich! Wie furchtbar peinlich das Ganze!
Ich wollte vor Scham in den Boden versinken, aber nicht wegen des versuchten Diebstahls, sondern weil es ein so lächerlicher Diebstahl war und noch dazu mißlingt.

Ich mußte dann eine Erklärung unterschreiben, daß ich bis ins Jahr XY das Kaufhaus nicht betrete. An das weitere Gespräch mit mit dem Detektiv kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber daran, von ihm soetwas wie Mitleid mit mir verspürt zu haben. Ich war mir zwar nicht sicher, aber habe mich innerlich gewehrt, daß mich das berührt.
Mein Gott! Ich glaube, ich hätte damals einfach jemandem gebraucht, bei dem ich mich richtig ausweinen hätte können, weil ich mit dem Leben überhaupt nicht zurecht kam.






©Peter Alois Rumpf  Mai 2015     peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 11. Mai 2015

129 Die Signatur des Himmels


Es war Anfang der Neunzigerjahre, in der Zeit, als ich mein abgebrochenes Theologiestudium fortsetzte und ernsthaft und verzweifelt versuchte, zur katholischen Kirche zurückzufinden. Den Anstoß dafür gab der Astrologe Döbereiner. Von selber wäre ich nicht auf die Idee gekommen, wieder in dieses bereits abgelegte Kostüm zu schlüpfen zu versuchen.

Ich lebte arm und zurückgezogen und bin oft von meiner kleinen Substandartwohnung im fünfzehnten Bezirk mit der Straßenbahn zum Ring gefahren und dann zu Fuß durch den Burggarten und dann weiter zum Stephansdom zur Messe gegangen.

Wie gesagt, ich strengte mich an, zur katholischen Kirche, zur christ-katholischen Religion mit allem Drum und Dran zurückzufinden, aber etwas in mir wollte da nicht mitmachen. Ich konnte unter anderem auch meine Träume von sexuellen Abenteuern nicht loswerden. Je mehr ich es versuchte, desto stärker wurden sie.

Im realen Leben – Kirche hin oder her – war ich weit davon entfernt, mir diese Träume erfüllen zu können. Erstens war ich ein schüchterner Mensch und zweitens damals verarmt und gleichgültig meinem Äußeren gegenüber. Ich war so sehr in innere Kämpfe verstrickt – Kämpfe um innere Klarheit, was wahr und was falsch ist, stimmt es, was die Kirche und die christliche Tradition sagt? und so weiter - daß ich zum Beispiel gar nicht wahrnahm, daß bei meinem Mantel hinten der Stoff auf der Innenseite zerrissen war und von außen sichtbar in Fransen herunterhing, geschweige denn, daß ich es schaffte, einfach eine Schere zu nehmen und das runterhängende, zerfetzte Stück Stoff abzuschneiden.

Es war also zwischen dem, was sich in meinem Kopf an Ideen – ob katholisch, asketisch oder sexuell – abspielte und meinem wirklichen Leben ein ziemlich großer, unüberwindlich scheinender Graben. Und außerdem – je weniger Leben, desto mehr Phantasien. Es hätte schon eines Wunders bedurft, um diesen Graben zu überspringen.

Eines Tages also marschiere ich wieder durch den Burggarten – ob zur Messe oder nur so in die Innenstadt weiß ich nicht mehr – und komme auf eine Abzweigung zu. So nebenbei registriere ich, daß eine schöne, elegante Frau aus entgegengesetzter Richtung auf mich zukommt. Sie ist nur mehr ein paar Meter entfernt, aber die Abzweigung nehmend war ich schon dabei, mich von ihr wieder zu entfernen.
Da kam sie auf mich zu, legte mir ihre Hand auf meine linke Schulter und zog mich zu sich.

Ich war erschrocken und höchst erfreut gleichzeitig.
Was sich in den nächsten Sekunden in meinen Gedanken abspielte, klang ungefähr so:

„Ein Wunder! Eine wildfremde, schöne Frau schnappt mich einfach! Zieht mich einfach zu sich! Kein Herumreden, keine komplizierten Anbandelungsmanöver. Einfach zack und passt schon!“
Gleichzeitig war ich – wie schon gesagt – erschrocken, denn so „gach“ wäre ich durchaus überfordert gewesen. Was ist da dahinter? Mein Mißtrauen war auch gleich in Aktion. Ich war nie der Typ für schnelle Abenteuer – dafür bin ich ein viel zu unsicherer Mensch. Aber geträumt habe ich davon schon.
Das alles spielte sich in dieser Sekunde – viel mehr wird es nicht gewesen sein – in meinem Kopf ab.

Da nahm die schöne Fremde ihre großen Sonnenbrillen ab und ich sehe, es ist eine Bekannte von mir, zu der ich eine rein freundschaftliche Beziehung pflegte und die ich schon länger nicht mehr gesehen hatte.
Da mußte ich lachen und ich glaube, ich habe ihr auch andeutungsweise, wirklich nur sehr andeutungsweise, erzählt, welcher Film sich bei mir gerade abgespielt hat.
Wir haben etwas geplaudert – ob wir auch auf einen Kaffee gegangen sind, weiß ich nicht mehr – jedenfalls sind wir dann wieder unserer Wege gegangen und das war's.

Ein paar Monate später hatte sich meine „soziale Lage“ noch mehr verschlechtert und deswegen kaufte ich keine Fahrscheine mehr und ging alle Wege zu Fuß.
So marschierte ich zu Fuß vom fünfzehnten Bezirk die Mariahilferstraße hinunter, diesmal weiß ich es, ich war auf dem Weg zur Messe im Stephansdom. Und als ich in Gedanken versunken im Burggarten dann an diese Abzweigung kam, fiel mir die gerade geschilderte Szene mit dem beinahen Abenteuer ein und ich schmunzelte vor mich hin. Und unwillkürlich entrang sich meinem Inneren ein Stoßseufzer Richtung Himmel, ob denn ein solches Abenteuer nicht doch möglich wäre!
Da machte es „Platsch!“, denn eine Taube hatte mir auf die linke Schulter geschissen. Auf die linke Schulter! Das ist die, wo die schöne, vermeintlich Fremde mir ihre Hand aufgelegt hatte, um mich zu sich zu ziehen!
Ich bin im Deuten von Omen nicht gut, aber damals dachte ich, die Antwort des Himmels ist eher nicht zustimmend, sondern geht in die Richtung. „Du kannst mich mal!“

Jedenfalls mußte ich – nachdem der erste Ärger über den Dreck verraucht war - sehr lachen, denn solche Lebenskorrekturen gefallen mir.
Obwohl – vom Döbereiner gibt es den Satz: „der Himmel signiert mit Tauben.“






©Peter Alois Rumpf  Mai 2015     peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 8. Mai 2015

128 Surren


„Ich bin leicht verführbar!“, denkt sich Camillo Zorres. „Im Traum wollte ich nach Hause, ließ mich aber überreden, weiter zu reisen. Oder war's umgekehrt? Einmal wollte ich einkaufen, aber ließ mich überreden, meine Frau zu begleiten, bis die Geschäfte geschlossen waren. Oder: einst wollte ich keusch sein, und....“ Nein, das ist gelogen.

Mein Atem geht ruhig und sanft.
Er schaukelt mich sanft und leicht.
Meine Augen sind vom Schlafsand verklebt. In den Ohren surrt es stark. Der Wecker tickt heimelig. „Laß die Aggressionen raus, Georg!“, hatte ich im Traum gehört. „Schrei!“

Die Ohren surren lauter, in einer eigenartigen eintönig-betörenden Symphonie. Die Masse der Töne wird dünner und dann wieder stärker, wie ein Strom, der sich in seinem Lauf verengt oder verbreitert. Es ist eine beinah feierliche Symphonie, wie ein endloser Schlußakkord, wo sich alle erheben. Jetzt schwingt dieser Strom; ich merke, er kann schweben. Wo kommt er her? Er klingt, als käme er aus dem All, als schrille Sphärenmusik, ohne die tieferen Töne. Sozusagen der aufgeregtere Teil des Gesamtkunstwerks. Die Töne sind schrill, ihr Fließen ganz ruhig. Das erzeugt eine eigenartige Spannung. Darum will ich mit dem Zuhören nicht aufhören.

Allmählich scheint der Strom leiser zu werden. Nicht mehr so breit. Dafür stechender, wie ein konzentrierter Wasserstrahl.
Auch dieser Strahl wird schwächer und weicher. Weniger Wasserdruck.

Ich muß jetzt aufs Klo.
Ich habe mir mein Gesicht gewaschen, und mich damit aufgeweckt, das Surren ist ganz leise, wie von Ferne.

Jetzt lausche ich wieder und es wird wieder stärker, aber nicht mehr so dicht. Sozusagen kleineres Orchester. Oder der Weltallorganist legt nicht mehr seine Arme ganz auf die Tasten, sondern nur mehr seine zehn Finger.
Der Schalldruck ist eindeutig schwächer. Weniger Pathos, dafür mehr intim. Persönlicher, wenn man so will. Nicht mehr so mitgerissen im Strom. Man kann in dem Fluß noch stehen.
Jetzt wird es wieder stärker, meine Wachheit läßt nach, oder besser, sie geht nach innen.

Jetzt werde ich unruhig. Die Welt draußen meldet sich an. Aufstehen, üben, frühstücken – das schiebt sich nach vorn. Die Konzentration zum Lauschen ist nicht mehr gegeben. Mir wird die Symphonie bereits fad.
Und hungrig bin ich auch. Ich habe über siebzehn Stunden lang nichts mehr gegessen.





©Peter Alois Rumpf  Mai 2015     peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 7. Mai 2015

127 Das Luftballonherz


Ein Luftballonherz, das sich in einer U-Bahnstation, oben, ganz versteckt in so einer Art Nische oder Luke verfangen hat, beobachte ich schon seit Wochen. Es ist mir einmal zufällig aufgefallen, als ich auf der Bank gesessen bin und die schönen Mosaike betrachtet habe. Aber heute bin ich traurig. Es erinnert mich an mein eigenes Herz. Immer wenn eine U-Bahn kommt und ihren Wind macht, fängt das Luftballonherz zu hüpfen an, also würde es sich freuen und gleich freikommen. Dann ist die U-Bahn mit ihrem Wind wieder weg und es hängt immer noch fest.

Ich fahre mit der U-Bahn. Ich steige aus und habe noch Zeit. Ich gehe nach „Admont“ und habe die Bäume, die Schienen der Eisenbahn, den Schranken, die Bretterwand mit den Plakaten, die Pflanzen und Sträucher dabei auf schottrigem Boden gesehen, die kleinen Brücken, die auf steingemauerten Fundamenten ruhen, die Barackensiedlung der Kriegsflüchtlinge und Vertriebenen. Die ins Unkraut ausfransenden Straßen und Wege. Das kleine Geschäft in der Bretterbude....

Eine ungeheure Traurigkeit hat sich auf mich gelegt, wie ein schwergewichtiger Nebel.
Dieser Nebel war dann ganz leicht zu vertreiben, indem ich die richtigen Worte schrieb, am Gehsteig, im Freien, das Buch in der Hand.

Ein Mann, der macht, was ihm gefällt. Was ihm gut tut. Was er mag.

Vorher, beim großen, schlanken Mann habe ich viel geredet, wie ein Kind, das sich verplappert, verplaudert. Wird er es gegen mich verwenden? Nein, sage ich, nein.

Eine Frau schiebt auf einer Rodel ein überlanges Paket vorbei. Wo bin ich? Die gelbe Post fährt vorbei, weil's wirklich wichtig ist. Dort habe ich auch einmal gearbeitet.
Eine andere Frau wiederum schiebt ihren Kinderwagen vorbei und schaut auf das Handy.
Ein Lieferwagen paßt sich perfekt an.
Eine englischsprachige Tangente berührt die französische Blase.
Das Luftballonherz. Wenn man hineinsticht, kommt Luft heraus, nicht Blut und Wasser.
Noli me tangere, sagt der angebliche Gärtner.
Die Decke ist gerippt, wie eine Oblate. Die reicht nicht zum Abendmahl, kommt mir vor.

Ein Mann mit einer Krücke schimpft sich langsam am Lieferwagen vorbei, indem er sich an dessen Zierleiste anhält und meint, man könne ihn mal.

Viele reden so vor sich hin, mit oder ohne Geräte, wie ich. Manchmal aber rede ich heimlich mit Bäumen und Sternen.

Viele Frauen haben schon schöne Brüste.
(Ich denke, sie dürfen es hören!)
Jetzt bin ich wieder ein Kind, das seine Mutter enttäuscht. Wo ist der Faden zur Freiheit?
(Anscheinend agiere ich auf verschiedenen Ebenen.)
Die Nabelschnur ist es nicht. Die Nabelschnur gehört durchtrennt!
(Auf der einen Ebene setze ich an, die Nabelschnur zu durchschneiden, auf der anderen bandle ich wieder an.)

Ich denke an ein einfaches, gezeichnetes Bild, das in der Zeitung immer über einer Kolumne stand, damals, in meiner Kindheit. Auf der letzten Seite, in der Nähe der Witze. Es zeigte junge, "tratschende" Frauen, fröhlich und kommunikativ. Ich sehe es undeutlich und deutlich vor mir, es ist hängen geblieben und ich erinnere mich, was sich der Bub damals fragte: "Werde ich jemals zurechtkommen damit?" Werde ich ein Gegenüber sein können?
Ich schaue ihr offen in die offenen Augen und sehe den Schmerz. Ich kann sie umarmen ohne unterzugehen. "Meine liebe Frau", sage ich, "ich steh an deiner Seite! Egal, wie es dir geht." So spricht der erwachsene Mann.

Ich sinniere still und schaue hinaus. Eine dicke Frau in blauer Weste geht wiegend vorbei, ein blauer Lastwagen schaukelt beim Einbiegen, er kann die Kurve nicht kratzen, er muß mehrmals vor und zurück.

Jüngere Leute schieben ein Rad, ein Cymbal und ein Projekt vorbei. „Brauchst irgendwas?“ fragt die Frau draußen am Telefon. „Erlösung, Erlösung!“, denke ich. Mein Ego was anderes.

Vom Mann sehe ich nur die Füße, und die nur im Spiegel. Seine Socken sind genauso braun wie meine. Ganz gleich.

Jetzt wird es still und ich will losgehen. Jetzt ist ein Schönling gekommen und küßt eine Frau. Er macht Wind, schaut aus wie ein gestylter Wolf. Sehr gefährlich! Sicher sehr gefährlich. Er geht wieder weiter.

Wenn ich faste, wird meine Haut dünn.
Proud Mary schiebt sich flott vorbei.
Schluß! Aus! Ich geh' jetzt!

Als ich dem Bettler eine Münze gab, mußte ich fast weinen. Weil ich so gerührt war von meiner Gutmenschlichkeit? Oder weil wir uns in gegenseitiger Verneigung begegnen? Und er mich leben läßt so wie ich ihn?
Wer kann die Fäden entwirren?

Tief atme ich bei meinen Lieblingsbäumen.
Eine Frau mit festem Hintern läßt ihren Hund scheißen und räumt das Ergebnis schnell weg.
Beinah hätte ich die Fettwülste eines dicken, geschminkten Mannes in wallenden Gewändern von Weitem für Brüste gehalten. Er setzt sich gleich auf die nächste Bank und schaut mich lange an. Da kann man nur sagen, geschieht mir recht.

Der Wind wird stärker und rüttelt. Vielleicht fliegt das Lose davon.




©Peter Alois Rumpf Mai 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 6. Mai 2015

126 Orion


Ich praktiziere so gut wie täglich Tensegrity. Oft eine ganze Stunde, manchmal mehr, manchmal auch nur ein paar Minuten. Da bin ich in den letzten Jahren einigermaßen konsequent, weil ich nicht will, daß der Faden, den ich damit aufgegriffen habe und von dem ich mir erwarte, daß er mich aus dem Labyrinth führt, abreißt.

„Tensegrity“ - der Name stammt von Buckminster Fuller und bezieht sich auf architektonische Stukturen, aber Carlos Castaneda übernahm diesen Namen für seine modernisierte Version einer Sammlung „magischer Bewegungen“, die in ihren Ursprüngen auf die Tolteken zurückgehen.
„Magische Bewegungen“ deshalb, weil die Körperübungen, die man da praktiziert, nicht nur auf den physischen Körper wirken, sondern auch auf den „Energiekörper“, wie diese Seher das Energiefeld nennen, das wir letztlich sind.

Unter vielen anderen gibt es dabei Übungen, die einen mit der Erde, der Sonne, dem Mond und den Sternen verbinden. Aus Sicht dieser Seher sind dies Lebewesen, weil diese – wie jene beim Sehen feststellten – Energiekörper und Bewußtheit haben. Energiekörper und Bewußtheit sind die Merkmale aller lebendigen Wesen, seien es die sichtbaren oder die für das Alltagsbewußtsein unsichtbaren.

Durch diese Übungen angeregt habe ich begonnen, mich für den Sternenhimmel zu interessieren. Vorher kannte ich nur den großen und den kleinen Wagen und konnte den Polarstern finden. (Wer mir das in meiner Kindheit beigebracht hat, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls danke ich Dir, vergessener Lehrer!).

Ich habe mir eine Sternenkarte für Anfänger gekauft, als ich zufällig eine in der Auslage einer Buchhandlung sah, und bin bei einbrechender Dunkelheit und passendem Wetter in den Augarten gegangen, um die Sternbilder zu lernen. Dabei bin ich einmal beinahe im Augarten eingesperrt worden, weil das bis dahin immer offene Schlupfloch beim ehemaligen Awawa versperrt war.

Die Sternbilder sind natürlich Versuche des menschlichen Geistes, das Chaos der Sterne zu für das menschliche Bewußtsein fassbare Gestalten zu ordnen, aber sie helfen sehr gut, sich am Sternenhimmel zurecht zu finden.

Ich bin weit davon entfernt, ein Experte dafür zu sein, aber ich kann jetzt einige der auch im Lichtsmog der Stadt mit freiem Auge sichtbaren Sternbilder erkennen.
Und ich werde auch nie vergessen, was für ein berührender und atemberaubender Moment es war, als ich in einer Winternacht auf der Rax bei klarem Wetter den Sternenhimmel anschauen konnte.

Außerdem habe ich noch übers Internet einen Newsletter abonniert, wo man täglich per E-mail die aktuelle Sternenkarte mit den Planeten zugeschickt bekommt. So kann ich zum Beispiel auch wissen, ob und wo Jupiter und Venus am Himmel stehen, die sehr leicht zu finden sind, weil sie sehr hell leuchten.

Allmählich habe ich es mir angewöhnt, wenn ich in der Dunkelheit aus der Arbeit komme, einen Blick auf den Himmel zu werfen, ob ich gegebenenfalls die Venus oder den Jupiter sehe, oder das Sternbild Orion, mit dem ich mich ebenfalls angefreundet habe, da auch Orion leicht zu finden ist und selbst bei Lichtsmog noch erkennbar, wenn man nicht gerade direkt unter einer Straßenlaterne steht.

Orion ist am Himmel eine große, beeindruckende, eine herrliche Gestalt und mir gefällt die antike Vorstellung, daß er als Jäger, von seinen zwei Hunden begleitet, über den Himmel zieht. Die Taten von ihm, die in den Mythen erzählt werden, können mich von meiner „Freundschaft“ zu ihm nicht abbringen, auch dann, wenn sie mir nicht passen.

So schaue ich immer nach dem Mond und den Sternen, wenn ich im Dunkeln aus meiner U-Bahnstation komme, weil man da über den Donaukanal hinweg einen ziemlich freien Ausblick hat, oder auf einer Brücke, oder wo immer sich die Gelegenheit für einen Blick zum Himmel ergibt.

Manchmal „rede“ ich auch mit den Sternen, wie ich es manchmal auch mit den Bäumen tue und dann, oder wenn ich die Sternübungen praktiziere, läuft mir fast immer ein angenehmer Schauder durch den Körper.

Nun, eines Tages, vor etwa einer Woche, marschiere ich zu Fuß in die Arbeit und weil es ein kalter Tag ist und doch die Sonne gerade durchgebrochen, nehme ich einen anderen Weg als sonst, um in der Sonne gehen zu können. Und dabei komme ich - in Gedanken gerade mit meinem inneren Chaos und der Fülle meiner inneren Widersprüchen beschäftigt – an einem Tatoo-Salon vorbei und denke mir: „das ist jetzt wirklich etwas, mit dem ich nichts zu tun habe.“ Tätowierungen waren etwas, das ich immer eher abgelehnt habe; auch wenn ich mich inzwischen schon daran gewöhnt hatte, waren sie mir eher unangenehm. Und wie sie aufgekommen sind, fand ich sie überhaupt abstoßend.

Ich gehe also mit diesem Gedanken an diesem Tatooshop vorbei, mache noch drei Schritte und plötzlich schießt mir der Gedanke durch den Kopf: „Orion! … Ich könnte mir den Orion auf den Rücken tätowieren lassen!“ Und ich freue mich riesig über diese Eingebung.
Von einer Sekunde auf die andere! Um hundertachzig Grad gedreht. Innerlich muß ich lachen über meinen plötzlichen Umschwung.

Noch etwas gefällt mir an dieser Idee, das hat aber überhaupt nichts mit den Mythen von Orion zu tun, nur damit, daß er als Jäger gilt: Castaneda erzählt, wie sein Lehrer bei ihm die Vorstellung kultiviert, daß der persönliche Tod ein Jäger ist. Er wird angehalten, sich dies immer und immer wieder bewußt zu machen. Um sich aufrütteln zu lassen. Jeder Moment kann der letzte sein, man weiß nie, wann der Tod nach einem ausholt. Also bleibt nur die Chance, den Moment, den man gerade erlebt, voll, wach und staunend auszukosten.
Vielleicht kann auch der Jäger Orion helfen, mir diese Tatsache bewußt zu halten und dadurch die Proportionen zurecht zu rücken. Das wäre sehr wertvoll.




©Peter Alois Rumpf Mai 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 4. Mai 2015

125 Daumen hoch!


„Hey, was geht ab? Die Finger, wenn du nicht aufpasst!“ „Daumen hoch! ...gegen Handverletzungen!“ Solche und ähnliche Plakate habe ich in letzter Zeit herumhängen gesehen.
Deshalb schreibe ich heute über meinen Arbeitsunfall vor zirka achtunddreißig Jahren, bei dem ich mir den halben linken Daumen an der Kreissäge abgeschnitten habe.

Im Vergleich zu dem, was es sonst alles gibt, ist dieser Unfall nicht der Rede wert und der zur Hälfte abgeschnittene Daumen behindert mich nur wenig, sondern macht mich eher interessanter. (Hi,hi!) Kommt mir zumindest vor.

Ich hatte mein Studium endgültig abgebrochen und aufgegeben und dachte, angeregt durch einen dubiosen Typen auf dem Ferienalternativcamp 1977 am Edersee, ein Handwerk wäre das Gescheiteste. Und da bin ich auf Tischler gekommen. Obwohl mir immer gesagt worden war, daß ich zwei linke Hände hätte. Aber ich wollte das tapfer „überwinden“. Ich weiß nicht mehr, wer mir den Tipp gegeben hat, daß es Umschulungen gibt, als WIFI-Kurse über das Arbeitsamt finanziert, also vom Staat.
Der zuständige Mann dort war äußerst skeptisch mir gegenüber, die Maßnahme war gedacht für Arbeiter, die in ihrer Branche keine Arbeit mehr finden, nicht als Rettungsschirm für gescheiterte Studenten. Außerdem unterstellte er mir, daß ich vorhabe, dann gleich „irgendwas mit Kunst“ zu machen, und nicht ordentliches, anständiges, normales Handwerk. Im Endeffekt hatte der gute Mann vollkommen recht, aber ich selber hatte damals – trotz „Aktion Wetzawinkel“ - überhaupt nichts mit Kunst im Sinn, eher schwebte mir anfangs vage irgendetwas wie Landkommune mit Handwerk vor. Später dann wollte ich wirklich ein normaler Tischler werden. Weil ich mir da ganz sicher war, konnte ich ihn überreden, mich doch ins Umschulungsprogramm aufzunehmen. Daß da möglicherweise Staatsgelder an mir verschwendet werden, an das dachte ich überhaupt nicht. Ich meinte es ja ernst damit. Nebenbei: es gab bei uns im Kurs einen Metaller, der also zum Tischler umgeschult wurde und im gleichzeitig laufenden Umschulungskurs auf Metaller einen Tischler, der eben in die andere Richtung umgeschult wurde.

Interessant auch die Reaktion meiner Eltern damals. Obwohl ich sie immer als Gegner meines Theologiestudiums empfunden habe – wieweit zu recht oder zu unrecht kann ich schwer sagen – das war ihnen doch nicht recht. Meiner Mutter passte der „soziale Abstieg“ nicht,  oder besser gesagt, der Niedergang ihrer Aufstiegsprojektionen auf mich, mein Vater war sehr skeptisch, was meine handwerklichen Möglichkeiten betrifft. Selbst mein Großvater, der sonst nie auf diese Art mit mir redete, sagte mir, daß „ich dafür nicht die richtigen Hände“ hätte. So in dem Sinn, „Schuster, bleib bei deinem Leisten!“ - und das von einem, der als gestandener Arbeiter und Sozialist innerlich längst aus der Kirche ausgetreten war. Ich habe mich damals sehr gewundert, weil ich dachte, dieser Teil der Verwandtschaft verachtet mein Theologiestudium.
Meine Mutter war so enttäuscht, daß sie meinen jüngeren Bruder trotz Begabung nicht mehr aufs Gymnasium lassen wollte, weil „ich mir das nicht mehr antun will“ - wie sie wörtlich sagte.
Einige meinten, daß ich mich als intelligenter Bursche doch mit dem Tischlerkurs leicht tun sollte. So in dem Sinn, daß man von oben heruntersteigt und sich dann mit der „niedrigeren“ Ausbildung spielt. Was für ein Irrtum! Es werden dabei doch einfach andere Fähigkeiten und Fertigkeiten verlangt, als bei einem Studium, die man als ehemaliger Student haben kann oder auch nicht. Aber irgendwas von dieser Herabstiegsidee muß in mir auch gesteckt sein, sonst hätte ich die Schwierigkeiten, die auf mich zukamen, nicht so unterschätzt.
Ich hatte nämlich eine romantische Vorstellung von der Tischlerei – das hat der Mann vom Arbeitsamt sehr richtig gesehen. Und erst als ich das erstemal in die Werkstatt kam, wurde mir bewußt, daß ich Angst vor den Maschinen hatte und ihre Geräusche mich erschreckten.

In diesem Tischlerkurs ließen sich auch zwei Brüder adeliger Herkunft zu Tischler umschulen. Vor allem einer von ihnen, den Namen habe ich vergessen, war ein unbestechlicher Beobachter und Kommentator. Unbestechlich und gnadenlos konnte er Dinge beim Namen nennen, unbarmherzig gegen subjektive Schutz- oder Verschleierungsbedürfnisse, sowohl bei den andern, als auch bei sich selbst. Für astrologisch Interessierte: sicher ein mehrstöckiger Skorpion – darauf trau ich mich wetten. Hart gegen sich selbst und andere. Mich hat er öfters ganz schön ins Schleudern gebracht, wenn er mir irgendwelche Sachen über mich ins Gesicht gesagt hat. Sein Motiv war nicht irgendein subjektiver Vorteil, sondern die Unbedingtheit der „Wahrheit“, so wie er sie erkannt hatte. Oder erkannt zu haben glaubte.
Ins Schleudern bin ich gekommen, weil ich seine Urteile als richtig anerkennen mußte – auch wenn sie mir nicht passten.

Dieser Mann hatte vor kurzem erst bei einem Jagdunfall ein Auge verloren, als ihm beim Aufbrechen des erlegten Hirsches eines der Enden seines Geweihs ins Auge gefahren ist. Und er hat erzählt, daß er in der Nacht davor diesen Unfall geträumt hatte; genauso wie er dann abgelaufen ist. Er hatte also offensichtlich eine hellseherische Begabung. Ich habe diesen Mann deshalb so ausführlich zu beschreiben versucht, um klarzumachen, daß das kein Typ war, der Schmähs erzählt oder schwindelt. Darum glaube ich ihm das auch.

Während dieser Zeit fastete ich viel und war sehr dünn, und in der Mittagspause nach dem Essen rannte ich jedesmal einen kleinen „Berg“ hinauf und wieder herunter (Zusertalgasse oder Hochsteingasse).
An diesem 21. Dezember nicht. (Für Astrologen: Beginn der Steinbockzeit - Holz). Da saß ich nach dem Mittagessen mit den anderen in der Cafeteria und döste vor mich hin. Ich weiß nicht, was mich dazu gebracht hatte, mein Laufritual ausfallen zu lassen.
Dann gingen wir wieder in die Werkstatt. Ich war ein wenig wie in einem Nebel gefangen. Ich nahm ein Holzstück und sollte es der Länge nach zurechtschneiden. Wie gesagt, ich hatte immer Angst vor den Maschinen; der Meister, der uns beaufsichtigen sollte, war mit einem Freund tratschen gegangen und so stand ich allein vor der Kreissäge. Ich schob brav mit dem Schiebestock in der rechten Hand das Holzstück in die Säge, aber als Linkshänder hatte ich den unbewußten Impuls, mit der linken Hand, mit der ich mich sicherer fühlte, noch nachzuschieben. Und übersah, daß sich das Holzstück zu mir hin verjüngte, daß also das Sägeblatt sozusagen immer näher zu meinem linken Daumen „kam“. Und plötzlich machte es einen Tuscher und ich denke, da ist jetzt etwas passiert. Aber was? Erst als ich rote Flecken am Holzstück sah, schaute ich meine Hände an und stellt fest, der halbe linke Daumen ist weg, nur ein Hautfetzten hängt noch dran, wo vorher mein oberstes Daumenglied war. Gottseidank, denn diesen Hautfetzten konnten sie mir später im Unfallkrankenhaus über die Wunde legen und mußten den übriggebliebenen Daumenknochen nur abrunden, nicht kürzen, um genügend Haut zum Schließen der Wunde zu haben.
Ich hielt mir die Ader zu und hatte im Schock noch den Nerv, meine Arbeitskollegen zu bitten, das abgeschnittene Stück Daumen zu suchen – vielleicht könne man es noch annähen. Aber es wurde nicht gleich gefunden.

Gefunden hat es dann später der oben beschriebene unbestechliche „Aristokrat“. Es war in eine Ecke der Werkstatt geschleudert worden. Er hat mich nachher, als ich vom Spital zurück gekommen war, noch gefragt, ob ich das Daumenstück haben wolle. Als ich verneinte, fragte er mich, ob er es sich behalten könne. Ich bejahte und er hat dann mein Daumenstück in irgendeine konservierende Lösung gegeben und in einem Gurkenglas aufbewahrt. Eine etwas makabre Idee.

Aber das Wichtigste: der gute Mann hat mir auch erzählt, daß er kurz vor dem Unfall ein ungutes Gefühl hatte und den „Unfall“ wie im Raum schweben sah oder fühlte, sozusagen suchend, wo beziehungsweise bei wem er Wirklichkeit werden wolle oder könne und daß er spürte, daß ich im Visier war und er den Impuls hatte, mich zu warnen, aber sich dann doch zu blöd vorkam, mir zuzurufen: „geh weg von der Kreissäge!“.
So etwas dauert höchstens ein paar Sekunden, und als er noch zögert, da ist es schon passiert.
Wie gesagt, das hat er mir nachher erzählt, aber ich nehme ihm das ab.

Nicht daß ich den Unfall erklären kann oder das ganze Geschehen verstehen. Aber etwas Schicksalhaftes scheint mir schon am Werk gewesen zu sein – auch wenn das „Schicksal“ selbst „produziert“ gewesen sein sollte. Aufpassen allein hätte wohl nicht genügt, das zu verhindern. Dafür wären wohl vorher mehrere Verstrickungen von mir aufzulösen gewesen. Oder er war der sichtbare, „fleischgewordene“ Ausdruck dafür, daß ich mir mit dem Abbrechen des Studiums eine Wunde zugefügt hatte. Vielleicht. Vielleicht gibt es an soetwas auch gar nichts zu verstehen.

Jedenfalls frage ich als Telefoninterviewer in der Firma die Respondenten für die Statistik nie – wie es im vorgegebenen Text steht – nach der „höchsten, abgeschlossenen Bildung“, sondern nach der höchsten, abgeschlossenen Ausbildung – im Bewußtsein, daß eine Lehre und ein Studium nicht hierarchisch übereinander gestapelte Ausbildungen sind, sondern einfach verschiedene Ausbildungen für verschiedene Bereiche. Und das, obwohl mir der Unterschied zwischen Bildung und Ausbildung bewußt und sehr wichtig ist.





©Peter Alois Rumpf Mai 2015 peteraloisrumpf@gmail.com