Montag, 4. Mai 2015

125 Daumen hoch!


„Hey, was geht ab? Die Finger, wenn du nicht aufpasst!“ „Daumen hoch! ...gegen Handverletzungen!“ Solche und ähnliche Plakate habe ich in letzter Zeit herumhängen gesehen.
Deshalb schreibe ich heute über meinen Arbeitsunfall vor zirka achtunddreißig Jahren, bei dem ich mir den halben linken Daumen an der Kreissäge abgeschnitten habe.

Im Vergleich zu dem, was es sonst alles gibt, ist dieser Unfall nicht der Rede wert und der zur Hälfte abgeschnittene Daumen behindert mich nur wenig, sondern macht mich eher interessanter. (Hi,hi!) Kommt mir zumindest vor.

Ich hatte mein Studium endgültig abgebrochen und aufgegeben und dachte, angeregt durch einen dubiosen Typen auf dem Ferienalternativcamp 1977 am Edersee, ein Handwerk wäre das Gescheiteste. Und da bin ich auf Tischler gekommen. Obwohl mir immer gesagt worden war, daß ich zwei linke Hände hätte. Aber ich wollte das tapfer „überwinden“. Ich weiß nicht mehr, wer mir den Tipp gegeben hat, daß es Umschulungen gibt, als WIFI-Kurse über das Arbeitsamt finanziert, also vom Staat.
Der zuständige Mann dort war äußerst skeptisch mir gegenüber, die Maßnahme war gedacht für Arbeiter, die in ihrer Branche keine Arbeit mehr finden, nicht als Rettungsschirm für gescheiterte Studenten. Außerdem unterstellte er mir, daß ich vorhabe, dann gleich „irgendwas mit Kunst“ zu machen, und nicht ordentliches, anständiges, normales Handwerk. Im Endeffekt hatte der gute Mann vollkommen recht, aber ich selber hatte damals – trotz „Aktion Wetzawinkel“ - überhaupt nichts mit Kunst im Sinn, eher schwebte mir anfangs vage irgendetwas wie Landkommune mit Handwerk vor. Später dann wollte ich wirklich ein normaler Tischler werden. Weil ich mir da ganz sicher war, konnte ich ihn überreden, mich doch ins Umschulungsprogramm aufzunehmen. Daß da möglicherweise Staatsgelder an mir verschwendet werden, an das dachte ich überhaupt nicht. Ich meinte es ja ernst damit. Nebenbei: es gab bei uns im Kurs einen Metaller, der also zum Tischler umgeschult wurde und im gleichzeitig laufenden Umschulungskurs auf Metaller einen Tischler, der eben in die andere Richtung umgeschult wurde.

Interessant auch die Reaktion meiner Eltern damals. Obwohl ich sie immer als Gegner meines Theologiestudiums empfunden habe – wieweit zu recht oder zu unrecht kann ich schwer sagen – das war ihnen doch nicht recht. Meiner Mutter passte der „soziale Abstieg“ nicht,  oder besser gesagt, der Niedergang ihrer Aufstiegsprojektionen auf mich, mein Vater war sehr skeptisch, was meine handwerklichen Möglichkeiten betrifft. Selbst mein Großvater, der sonst nie auf diese Art mit mir redete, sagte mir, daß „ich dafür nicht die richtigen Hände“ hätte. So in dem Sinn, „Schuster, bleib bei deinem Leisten!“ - und das von einem, der als gestandener Arbeiter und Sozialist innerlich längst aus der Kirche ausgetreten war. Ich habe mich damals sehr gewundert, weil ich dachte, dieser Teil der Verwandtschaft verachtet mein Theologiestudium.
Meine Mutter war so enttäuscht, daß sie meinen jüngeren Bruder trotz Begabung nicht mehr aufs Gymnasium lassen wollte, weil „ich mir das nicht mehr antun will“ - wie sie wörtlich sagte.
Einige meinten, daß ich mich als intelligenter Bursche doch mit dem Tischlerkurs leicht tun sollte. So in dem Sinn, daß man von oben heruntersteigt und sich dann mit der „niedrigeren“ Ausbildung spielt. Was für ein Irrtum! Es werden dabei doch einfach andere Fähigkeiten und Fertigkeiten verlangt, als bei einem Studium, die man als ehemaliger Student haben kann oder auch nicht. Aber irgendwas von dieser Herabstiegsidee muß in mir auch gesteckt sein, sonst hätte ich die Schwierigkeiten, die auf mich zukamen, nicht so unterschätzt.
Ich hatte nämlich eine romantische Vorstellung von der Tischlerei – das hat der Mann vom Arbeitsamt sehr richtig gesehen. Und erst als ich das erstemal in die Werkstatt kam, wurde mir bewußt, daß ich Angst vor den Maschinen hatte und ihre Geräusche mich erschreckten.

In diesem Tischlerkurs ließen sich auch zwei Brüder adeliger Herkunft zu Tischler umschulen. Vor allem einer von ihnen, den Namen habe ich vergessen, war ein unbestechlicher Beobachter und Kommentator. Unbestechlich und gnadenlos konnte er Dinge beim Namen nennen, unbarmherzig gegen subjektive Schutz- oder Verschleierungsbedürfnisse, sowohl bei den andern, als auch bei sich selbst. Für astrologisch Interessierte: sicher ein mehrstöckiger Skorpion – darauf trau ich mich wetten. Hart gegen sich selbst und andere. Mich hat er öfters ganz schön ins Schleudern gebracht, wenn er mir irgendwelche Sachen über mich ins Gesicht gesagt hat. Sein Motiv war nicht irgendein subjektiver Vorteil, sondern die Unbedingtheit der „Wahrheit“, so wie er sie erkannt hatte. Oder erkannt zu haben glaubte.
Ins Schleudern bin ich gekommen, weil ich seine Urteile als richtig anerkennen mußte – auch wenn sie mir nicht passten.

Dieser Mann hatte vor kurzem erst bei einem Jagdunfall ein Auge verloren, als ihm beim Aufbrechen des erlegten Hirsches eines der Enden seines Geweihs ins Auge gefahren ist. Und er hat erzählt, daß er in der Nacht davor diesen Unfall geträumt hatte; genauso wie er dann abgelaufen ist. Er hatte also offensichtlich eine hellseherische Begabung. Ich habe diesen Mann deshalb so ausführlich zu beschreiben versucht, um klarzumachen, daß das kein Typ war, der Schmähs erzählt oder schwindelt. Darum glaube ich ihm das auch.

Während dieser Zeit fastete ich viel und war sehr dünn, und in der Mittagspause nach dem Essen rannte ich jedesmal einen kleinen „Berg“ hinauf und wieder herunter (Zusertalgasse oder Hochsteingasse).
An diesem 21. Dezember nicht. (Für Astrologen: Beginn der Steinbockzeit - Holz). Da saß ich nach dem Mittagessen mit den anderen in der Cafeteria und döste vor mich hin. Ich weiß nicht, was mich dazu gebracht hatte, mein Laufritual ausfallen zu lassen.
Dann gingen wir wieder in die Werkstatt. Ich war ein wenig wie in einem Nebel gefangen. Ich nahm ein Holzstück und sollte es der Länge nach zurechtschneiden. Wie gesagt, ich hatte immer Angst vor den Maschinen; der Meister, der uns beaufsichtigen sollte, war mit einem Freund tratschen gegangen und so stand ich allein vor der Kreissäge. Ich schob brav mit dem Schiebestock in der rechten Hand das Holzstück in die Säge, aber als Linkshänder hatte ich den unbewußten Impuls, mit der linken Hand, mit der ich mich sicherer fühlte, noch nachzuschieben. Und übersah, daß sich das Holzstück zu mir hin verjüngte, daß also das Sägeblatt sozusagen immer näher zu meinem linken Daumen „kam“. Und plötzlich machte es einen Tuscher und ich denke, da ist jetzt etwas passiert. Aber was? Erst als ich rote Flecken am Holzstück sah, schaute ich meine Hände an und stellt fest, der halbe linke Daumen ist weg, nur ein Hautfetzten hängt noch dran, wo vorher mein oberstes Daumenglied war. Gottseidank, denn diesen Hautfetzten konnten sie mir später im Unfallkrankenhaus über die Wunde legen und mußten den übriggebliebenen Daumenknochen nur abrunden, nicht kürzen, um genügend Haut zum Schließen der Wunde zu haben.
Ich hielt mir die Ader zu und hatte im Schock noch den Nerv, meine Arbeitskollegen zu bitten, das abgeschnittene Stück Daumen zu suchen – vielleicht könne man es noch annähen. Aber es wurde nicht gleich gefunden.

Gefunden hat es dann später der oben beschriebene unbestechliche „Aristokrat“. Es war in eine Ecke der Werkstatt geschleudert worden. Er hat mich nachher, als ich vom Spital zurück gekommen war, noch gefragt, ob ich das Daumenstück haben wolle. Als ich verneinte, fragte er mich, ob er es sich behalten könne. Ich bejahte und er hat dann mein Daumenstück in irgendeine konservierende Lösung gegeben und in einem Gurkenglas aufbewahrt. Eine etwas makabre Idee.

Aber das Wichtigste: der gute Mann hat mir auch erzählt, daß er kurz vor dem Unfall ein ungutes Gefühl hatte und den „Unfall“ wie im Raum schweben sah oder fühlte, sozusagen suchend, wo beziehungsweise bei wem er Wirklichkeit werden wolle oder könne und daß er spürte, daß ich im Visier war und er den Impuls hatte, mich zu warnen, aber sich dann doch zu blöd vorkam, mir zuzurufen: „geh weg von der Kreissäge!“.
So etwas dauert höchstens ein paar Sekunden, und als er noch zögert, da ist es schon passiert.
Wie gesagt, das hat er mir nachher erzählt, aber ich nehme ihm das ab.

Nicht daß ich den Unfall erklären kann oder das ganze Geschehen verstehen. Aber etwas Schicksalhaftes scheint mir schon am Werk gewesen zu sein – auch wenn das „Schicksal“ selbst „produziert“ gewesen sein sollte. Aufpassen allein hätte wohl nicht genügt, das zu verhindern. Dafür wären wohl vorher mehrere Verstrickungen von mir aufzulösen gewesen. Oder er war der sichtbare, „fleischgewordene“ Ausdruck dafür, daß ich mir mit dem Abbrechen des Studiums eine Wunde zugefügt hatte. Vielleicht. Vielleicht gibt es an soetwas auch gar nichts zu verstehen.

Jedenfalls frage ich als Telefoninterviewer in der Firma die Respondenten für die Statistik nie – wie es im vorgegebenen Text steht – nach der „höchsten, abgeschlossenen Bildung“, sondern nach der höchsten, abgeschlossenen Ausbildung – im Bewußtsein, daß eine Lehre und ein Studium nicht hierarchisch übereinander gestapelte Ausbildungen sind, sondern einfach verschiedene Ausbildungen für verschiedene Bereiche. Und das, obwohl mir der Unterschied zwischen Bildung und Ausbildung bewußt und sehr wichtig ist.





©Peter Alois Rumpf Mai 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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