Mittwoch, 6. Mai 2015

126 Orion


Ich praktiziere so gut wie täglich Tensegrity. Oft eine ganze Stunde, manchmal mehr, manchmal auch nur ein paar Minuten. Da bin ich in den letzten Jahren einigermaßen konsequent, weil ich nicht will, daß der Faden, den ich damit aufgegriffen habe und von dem ich mir erwarte, daß er mich aus dem Labyrinth führt, abreißt.

„Tensegrity“ - der Name stammt von Buckminster Fuller und bezieht sich auf architektonische Stukturen, aber Carlos Castaneda übernahm diesen Namen für seine modernisierte Version einer Sammlung „magischer Bewegungen“, die in ihren Ursprüngen auf die Tolteken zurückgehen.
„Magische Bewegungen“ deshalb, weil die Körperübungen, die man da praktiziert, nicht nur auf den physischen Körper wirken, sondern auch auf den „Energiekörper“, wie diese Seher das Energiefeld nennen, das wir letztlich sind.

Unter vielen anderen gibt es dabei Übungen, die einen mit der Erde, der Sonne, dem Mond und den Sternen verbinden. Aus Sicht dieser Seher sind dies Lebewesen, weil diese – wie jene beim Sehen feststellten – Energiekörper und Bewußtheit haben. Energiekörper und Bewußtheit sind die Merkmale aller lebendigen Wesen, seien es die sichtbaren oder die für das Alltagsbewußtsein unsichtbaren.

Durch diese Übungen angeregt habe ich begonnen, mich für den Sternenhimmel zu interessieren. Vorher kannte ich nur den großen und den kleinen Wagen und konnte den Polarstern finden. (Wer mir das in meiner Kindheit beigebracht hat, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls danke ich Dir, vergessener Lehrer!).

Ich habe mir eine Sternenkarte für Anfänger gekauft, als ich zufällig eine in der Auslage einer Buchhandlung sah, und bin bei einbrechender Dunkelheit und passendem Wetter in den Augarten gegangen, um die Sternbilder zu lernen. Dabei bin ich einmal beinahe im Augarten eingesperrt worden, weil das bis dahin immer offene Schlupfloch beim ehemaligen Awawa versperrt war.

Die Sternbilder sind natürlich Versuche des menschlichen Geistes, das Chaos der Sterne zu für das menschliche Bewußtsein fassbare Gestalten zu ordnen, aber sie helfen sehr gut, sich am Sternenhimmel zurecht zu finden.

Ich bin weit davon entfernt, ein Experte dafür zu sein, aber ich kann jetzt einige der auch im Lichtsmog der Stadt mit freiem Auge sichtbaren Sternbilder erkennen.
Und ich werde auch nie vergessen, was für ein berührender und atemberaubender Moment es war, als ich in einer Winternacht auf der Rax bei klarem Wetter den Sternenhimmel anschauen konnte.

Außerdem habe ich noch übers Internet einen Newsletter abonniert, wo man täglich per E-mail die aktuelle Sternenkarte mit den Planeten zugeschickt bekommt. So kann ich zum Beispiel auch wissen, ob und wo Jupiter und Venus am Himmel stehen, die sehr leicht zu finden sind, weil sie sehr hell leuchten.

Allmählich habe ich es mir angewöhnt, wenn ich in der Dunkelheit aus der Arbeit komme, einen Blick auf den Himmel zu werfen, ob ich gegebenenfalls die Venus oder den Jupiter sehe, oder das Sternbild Orion, mit dem ich mich ebenfalls angefreundet habe, da auch Orion leicht zu finden ist und selbst bei Lichtsmog noch erkennbar, wenn man nicht gerade direkt unter einer Straßenlaterne steht.

Orion ist am Himmel eine große, beeindruckende, eine herrliche Gestalt und mir gefällt die antike Vorstellung, daß er als Jäger, von seinen zwei Hunden begleitet, über den Himmel zieht. Die Taten von ihm, die in den Mythen erzählt werden, können mich von meiner „Freundschaft“ zu ihm nicht abbringen, auch dann, wenn sie mir nicht passen.

So schaue ich immer nach dem Mond und den Sternen, wenn ich im Dunkeln aus meiner U-Bahnstation komme, weil man da über den Donaukanal hinweg einen ziemlich freien Ausblick hat, oder auf einer Brücke, oder wo immer sich die Gelegenheit für einen Blick zum Himmel ergibt.

Manchmal „rede“ ich auch mit den Sternen, wie ich es manchmal auch mit den Bäumen tue und dann, oder wenn ich die Sternübungen praktiziere, läuft mir fast immer ein angenehmer Schauder durch den Körper.

Nun, eines Tages, vor etwa einer Woche, marschiere ich zu Fuß in die Arbeit und weil es ein kalter Tag ist und doch die Sonne gerade durchgebrochen, nehme ich einen anderen Weg als sonst, um in der Sonne gehen zu können. Und dabei komme ich - in Gedanken gerade mit meinem inneren Chaos und der Fülle meiner inneren Widersprüchen beschäftigt – an einem Tatoo-Salon vorbei und denke mir: „das ist jetzt wirklich etwas, mit dem ich nichts zu tun habe.“ Tätowierungen waren etwas, das ich immer eher abgelehnt habe; auch wenn ich mich inzwischen schon daran gewöhnt hatte, waren sie mir eher unangenehm. Und wie sie aufgekommen sind, fand ich sie überhaupt abstoßend.

Ich gehe also mit diesem Gedanken an diesem Tatooshop vorbei, mache noch drei Schritte und plötzlich schießt mir der Gedanke durch den Kopf: „Orion! … Ich könnte mir den Orion auf den Rücken tätowieren lassen!“ Und ich freue mich riesig über diese Eingebung.
Von einer Sekunde auf die andere! Um hundertachzig Grad gedreht. Innerlich muß ich lachen über meinen plötzlichen Umschwung.

Noch etwas gefällt mir an dieser Idee, das hat aber überhaupt nichts mit den Mythen von Orion zu tun, nur damit, daß er als Jäger gilt: Castaneda erzählt, wie sein Lehrer bei ihm die Vorstellung kultiviert, daß der persönliche Tod ein Jäger ist. Er wird angehalten, sich dies immer und immer wieder bewußt zu machen. Um sich aufrütteln zu lassen. Jeder Moment kann der letzte sein, man weiß nie, wann der Tod nach einem ausholt. Also bleibt nur die Chance, den Moment, den man gerade erlebt, voll, wach und staunend auszukosten.
Vielleicht kann auch der Jäger Orion helfen, mir diese Tatsache bewußt zu halten und dadurch die Proportionen zurecht zu rücken. Das wäre sehr wertvoll.




©Peter Alois Rumpf Mai 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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