126 Orion
Ich praktiziere so gut wie täglich
Tensegrity. Oft eine ganze Stunde, manchmal mehr, manchmal auch nur
ein paar Minuten. Da bin ich in den letzten Jahren einigermaßen
konsequent, weil ich nicht will, daß der Faden, den ich damit
aufgegriffen habe und von dem ich mir erwarte, daß er mich aus dem
Labyrinth führt, abreißt.
„Tensegrity“ - der Name stammt von
Buckminster Fuller und bezieht sich auf architektonische Stukturen,
aber Carlos Castaneda übernahm diesen Namen für seine modernisierte
Version einer Sammlung „magischer Bewegungen“, die in ihren
Ursprüngen auf die Tolteken zurückgehen.
„Magische Bewegungen“ deshalb, weil
die Körperübungen, die man da praktiziert, nicht nur auf den
physischen Körper wirken, sondern auch auf den „Energiekörper“,
wie diese Seher das Energiefeld nennen, das wir letztlich sind.
Unter vielen anderen gibt es dabei
Übungen, die einen mit der Erde, der Sonne, dem Mond und den Sternen
verbinden. Aus Sicht dieser Seher sind dies Lebewesen, weil diese –
wie jene beim Sehen feststellten – Energiekörper und Bewußtheit
haben. Energiekörper und Bewußtheit sind die Merkmale aller
lebendigen Wesen, seien es die sichtbaren oder die für das
Alltagsbewußtsein unsichtbaren.
Durch diese Übungen angeregt habe ich
begonnen, mich für den Sternenhimmel zu interessieren. Vorher kannte
ich nur den großen und den kleinen Wagen und konnte den Polarstern
finden. (Wer mir das in meiner Kindheit beigebracht hat, weiß ich
nicht mehr. Jedenfalls danke ich Dir, vergessener Lehrer!).
Ich habe mir eine Sternenkarte für
Anfänger gekauft, als ich zufällig eine in der Auslage einer
Buchhandlung sah, und bin bei einbrechender Dunkelheit und passendem
Wetter in den Augarten gegangen, um die Sternbilder zu lernen. Dabei
bin ich einmal beinahe im Augarten eingesperrt worden, weil das bis
dahin immer offene Schlupfloch beim ehemaligen Awawa versperrt war.
Die Sternbilder sind natürlich
Versuche des menschlichen Geistes, das Chaos der Sterne zu für das
menschliche Bewußtsein fassbare Gestalten zu ordnen, aber sie helfen
sehr gut, sich am Sternenhimmel zurecht zu finden.
Ich bin weit davon entfernt, ein
Experte dafür zu sein, aber ich kann jetzt einige der auch im
Lichtsmog der Stadt mit freiem Auge sichtbaren Sternbilder erkennen.
Und ich werde auch nie vergessen, was
für ein berührender und atemberaubender Moment es war, als ich in
einer Winternacht auf der Rax bei klarem Wetter den Sternenhimmel
anschauen konnte.
Außerdem habe ich noch übers Internet
einen Newsletter abonniert, wo man täglich per E-mail die aktuelle
Sternenkarte mit den Planeten zugeschickt bekommt. So kann ich zum
Beispiel auch wissen, ob und wo Jupiter und Venus am Himmel stehen,
die sehr leicht zu finden sind, weil sie sehr hell leuchten.
Allmählich habe ich es mir angewöhnt,
wenn ich in der Dunkelheit aus der Arbeit komme, einen Blick auf den
Himmel zu werfen, ob ich gegebenenfalls die Venus oder den Jupiter
sehe, oder das Sternbild Orion, mit dem ich mich ebenfalls
angefreundet habe, da auch Orion leicht zu finden ist und selbst bei
Lichtsmog noch erkennbar, wenn man nicht gerade direkt unter einer
Straßenlaterne steht.
Orion ist am Himmel eine große,
beeindruckende, eine herrliche Gestalt und mir gefällt die antike
Vorstellung, daß er als Jäger, von seinen zwei Hunden begleitet,
über den Himmel zieht. Die Taten von ihm, die in den Mythen erzählt
werden, können mich von meiner „Freundschaft“ zu ihm nicht
abbringen, auch dann, wenn sie mir nicht passen.
So schaue ich immer nach dem Mond und
den Sternen, wenn ich im Dunkeln aus meiner U-Bahnstation komme, weil
man da über den Donaukanal hinweg einen ziemlich freien Ausblick
hat, oder auf einer Brücke, oder wo immer sich die Gelegenheit für
einen Blick zum Himmel ergibt.
Manchmal „rede“ ich auch mit den
Sternen, wie ich es manchmal auch mit den Bäumen tue und dann, oder
wenn ich die Sternübungen praktiziere, läuft mir fast immer ein
angenehmer Schauder durch den Körper.
Nun, eines Tages, vor etwa einer Woche,
marschiere ich zu Fuß in die Arbeit und weil es ein kalter Tag ist
und doch die Sonne gerade durchgebrochen, nehme ich einen anderen Weg
als sonst, um in der Sonne gehen zu können. Und dabei komme ich -
in Gedanken gerade mit meinem inneren Chaos und der Fülle meiner
inneren Widersprüchen beschäftigt – an einem Tatoo-Salon vorbei
und denke mir: „das ist jetzt wirklich etwas, mit dem ich nichts zu
tun habe.“ Tätowierungen waren etwas, das ich immer eher
abgelehnt habe; auch wenn ich mich inzwischen schon daran gewöhnt
hatte, waren sie mir eher unangenehm. Und wie sie aufgekommen sind,
fand ich sie überhaupt abstoßend.
Ich gehe also mit diesem Gedanken an
diesem Tatooshop vorbei, mache noch drei Schritte und plötzlich
schießt mir der Gedanke durch den Kopf: „Orion! … Ich könnte
mir den Orion auf den Rücken tätowieren lassen!“ Und ich freue
mich riesig über diese Eingebung.
Von einer Sekunde auf die andere! Um
hundertachzig Grad gedreht. Innerlich muß ich lachen über meinen
plötzlichen Umschwung.
Noch etwas gefällt mir an dieser Idee,
das hat aber überhaupt nichts mit den Mythen von Orion zu tun, nur
damit, daß er als Jäger gilt: Castaneda erzählt, wie sein Lehrer
bei ihm die Vorstellung kultiviert, daß der persönliche Tod ein
Jäger ist. Er wird angehalten, sich dies immer und immer wieder
bewußt zu machen. Um sich aufrütteln zu lassen. Jeder Moment kann
der letzte sein, man weiß nie, wann der Tod nach einem ausholt. Also
bleibt nur die Chance, den Moment, den man gerade erlebt, voll, wach
und staunend auszukosten.
Vielleicht kann auch der Jäger Orion
helfen, mir diese Tatsache bewußt zu halten und dadurch die
Proportionen zurecht zu rücken. Das wäre sehr wertvoll.
©Peter
Alois Rumpf Mai 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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