Samstag, 30. Mai 2015

134 Das Luftblasenspiel


Komuskra Dengli steht auf der Liste. Aber er will nicht mehr aufrecht sein. Nur liegen. Weder Antwort noch Rede stehen. Nicht verantwortlich sein. Weder aufrecht noch aufrichtig. Nur liegen und lügen. In die Materie versinken und auflösen, bis nur noch ein Blick überbleibt, der herumwandern kann. Ein Blick ohne Materie, ein körperloser Blick.

Er liegt am Rücken und schaut den Luftblasen zu, die über ihm an die Oberfläche der Flüssigkeit steigen und dort meistens kleine, zuckende Konglomerate bilden, die fast immer nach links wegschwimmen, an den Rand der Flasche, wo sie meistens zerplatzen, aber nicht auf einmal, sondern in kleinen Gruppen. Die Luftblasen suchen sich eindeutig, sie gehen einander zu, nur einmal stieben sie auseinander. Selten schwimmen sie nach rechts an den Rand, und das Konglomerat der Luftblasen wandert am Rand entlang wieder nach links, zerplatzt aber, bevor es dort angelangt ist. Meistens. Komuskra Dengli betrachtet lange diese Manöver der Luftblasen. Er findet sie spannend und interessant. Ein bedeutungsvolles Spiel vom Aufbauen und Auflösen, ein Drama im Kleinen.

Er will nicht mehr aufrecht sein. Im Sitzen krümmt er sich zusammen. Der in sich verkrümmte Mensch. Liegen und schauen. Und lauschen.

Jetzt scheinen die Lebenskräfte wieder langsam zurückzukommen.


Heute hängt Komuskra Dengli wieder an der Nadel. Er liegt wieder flach. Am Rücken.
Er schaut den Luftblasen zu, wie sie rausspringen und in einer tanzenden Bewegung nach oben schwimmen. Dort bilden sie oft zuckende Konglomerate, manchmal nur ganz kurz.
Im Glas spiegelt sich ein gasflammenblaues Licht, das öfters von den Luftblasenkonglomeraten überdeckt wird. Dieses Blau passt gut zur wassergrünen Etikette der Flasche. Immer stärker aber setzt sich ein weißes Licht durch. Das Blau umrandet noch einige Zeit das weiße Licht, wird immer dünner, bis es verschwindet.

Links neben ihm stöhnt eine Frau. Nur durch eine dünne Holzwand getrennt. Wenn es überhaupt eine Holzwand ist. Sie wimmert und stöhnt die ganze Zeit, bis sie aufgerufen wird. Dann hört er die Stimme einer anderen Frau.

So ist er vom Luftblasenspiel abgelenkt. Er schaut auf die Wand links. Das leicht grünliche Weiß hat unterschiedliche Intensitäten. Und dünklere Schattenstellen. Von draußen drängt der Verkehrslärm herein.


Schon hängt die Flasche im Ständer. Das bestechende Besteck liegt bereit. Das Licht brennt. Keine Luftblasen. Pflaster sind vorbereitet. Verabredet. Warten. Die Geräusche des Samstagsverkehrs branden in Wellen herein.

Die Flüssigkeit hat sich ein leichtes Blau eingefangen. Wie ein Tropfen blauer Tinte in einem Glas Leitungswasser.

Die Luftblasen steigen heute ruhiger auf, flott, aber nicht hektisch, ein ruhigerer Tanz.

Die Luftblasen sind dunkler als gestern, kaum zu erkennen. Nur am Glasrand leuchten sie weiß auf, bevor sie zerplatzen.

Ein Konglomerat dreht sich im Kreis, zuckend, bevor es zum Rand schwimmt.

Hinter der Plattenwand reden zwei Frauen. Sein sprachliches Gehör kann es nicht verstehen. Sein sprachloses Gehör tut so, als verstehe es.

Ich stehe vor einer grünen Wand aus Kiefern, einer Fichte, Holunder. Ein kleiner Ahorn mischt auch mit. Die Fichte, eingezwängt, streckt ihre spärlichen Äste zum Licht.
Die Wassertropfen stürzen sich die grüne Wand hinunter. Der Holler blüht trotz Regen.
Alle sind müde und möchten schlafen. Die Geräusche des Regens prasseln sanft, hart und suggestiv.
Eine schwere, angenehme, ruhige Stille breitet sich aus und legt sich auf das ganze Gebiet.


Am Pfingstsonntag ging ich in die Röhre. Vorher wartete ich – nur kurz – in diesen typischen Räumen, wo man immer wartet. Modern, funktional, auf edel gemacht und beinahe glaube ich es.
An diesem Sonntag ziemlich leer. Das Surren der Leuchtstoffröhren in diese Leere hinein wirkt nahezu melancholisch.

Dann in Unterhose und Socken in die Röhre. Die Magneten stampfen, pochen, surren, hämmern. Unterlegt ein Rhythmus wie von einem starken, mächtigen Geschirrspüler und darüber ein schnell geschaltetes Hammerwerk. Ich habe soetwas noch gesehen; mein Großvater hat es mir gezeigt.
Das Pochen sagt zuerst: „unter Johnsbach, unter Johnsbach, unter Johnsbach...“, dann ändert es auf „unter Hohenbach, unter Hohenbach...“. Ich will es ändern auf „unter Hohenberg“, denn ein Hohenberg kenne ich, aber mein Veränderungsvorschlag wird nicht angenommen und setzt sich nicht durch. Das Mantra ändert sich wieder auf „unter Johnsbach“, um sich dann allmählich in „im ganzen Bach, im ganzen Bach...“ zu ändern.
Mir wird heiß. Ein bißchen Angst habe ich vor Verbrennungen; beim letzten Mal hatte ich eine Brandblase davon getragen. Aber diesmal werde ich nicht angebrannt.
Das System arbeitet, hämmert und pocht weiter, mit kurzen Pausen, in denen nur das Geschirrspülergeräusch übrigbleibt. Dann wird es still. Und bleibt still. Was jetzt? Kommt noch etwas? Nein. Stille. Ich höre eine Tür sich öffnen und schließen. Dann werde ich aus der Röhre geschoben. In Unterhose und Socken stehe ich vor der Dame und bespreche den weiteren Ablauf. Ich gehe in die Kabine und kleide mich an. Was heißt „kleide“! Ich hemde und hose mich an, dann pullovere und bejacke ich mich. Als beschuhter Möchtegernkarmelit verlasse ich die Klause – und gehe auf einen Kaffee. Koffeinfrei, wie es sich für mich gehört.

Der viele Regen hat die Luft reingewaschen. Ein guter Duft liegt in der Stadt, den die Autos nicht gleich verdrängen können.
Torbögen sind wirklich angenehm. Ich lebe Torbögen. Eine prominente Frau – ihre Stimme kennt halb Österreich – tritt herein und wählt Mehlspeisen aus. Sie trägt sie auf einem Tablett hinaus. Auch sie zahlt den Einsatz fürs Tablett.
Ein bißchen geht sie so, als kennte sie die Schmerzen des Kreuzes. Vielleicht habe ich mich auch getäuscht.
Ein leerer Zeitungshalter schaukelt lange, bis ihn die Schwerkraft abgebremst hat. Erstaunlich lange widersteht er der Schwerkraft. Oder widerschaukelt ihr. Ein unbeachtetes Perpetuum mobile. Ich war am Klo und jetzt schaukelt er immer noch. Auch die Reibung dort am Haken, an dem er hängt, kann ihm nichts anhaben.

Ich gehe jetzt heim; gegen die Kälte bin ich warm angezogen.


Ich liege wieder unter den Luftblasen. Ich schaue ihnen zu, aber das Stück kenne ich schon. Mir gefällt die blaßgrünblaue Farbe, die die Flüssigkeit angenommen hat. Mir war den ganzen Tag schlecht, aber im Liegen ist es noch am Angenehmsten. Das Luftblasenspiel interessiert mich nicht mehr so, aber dennoch schaue ich die ganze Zeit hin. Es ist das einzige, das sich in dieser Kammer bewegt. Jetzt, beim viertenmal, durchschaue ich es erst: es ist die Luftblase und ihr Spiegelbild auf der Oberfläche der Flüssigkeit, die aufeinander zusaußen und sich dann vereinen. Und sie bilden dann hoffungsvolle Konglomerate, bei denen baut sich etwas auf – denkt man, wie Zellen, die sich vermehren, nur daß die Luftblasen von außen dazustoßen. Trotzdem schaut es wie Wachstum aus – aber sie zerfallen alle. Alle zerfallen relativ schnell.
Oh Gott! Ist mir schlecht!



Heute hänge ich an einer Flasche aus Plastik. Die Flüssigkeit strahlt in einem trüben Weiß. Ich kann keine Luftblasen sehen. Ständig halte ich nach ihnen Ausschau. Obwohl mir das Luftblasenspiel schon fad war – jetzt, wo es fehlt, geht es mir ab. Ich weiß nicht, wo ich sonst hinschauen könnte. Immer wieder starre ich auf die Flasche. Das Plastik spiegelt kein Grün und kein Blau. Ich überlege, es muß Luftblasen geben, bei allem, was ich über Physik weiß. Das ist natürlich sehr wenig. Die Zeit vergeht nicht. Erst ganz zum Schluß, als nur mehr wenig Flüssigkeit in der Flasche ist, sehe ich die Luftblasen. Ich bin erleichtert. Ich habe doch keine Revolution in der physischen Welt übersehen
Obwohl mir noch schlecht ist, es geht mir schon etwas besser.






©Peter Alois Rumpf Mai 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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