Montag, 19. September 2016

448 Ej, uch - njem

Wie schon oft beschrieben war ich ein sehr schüchternes, ängstliches Kind, sehr zum Leidwesen meiner Eltern, die einen aufgeweckten, mutigen, „richtigen“ Buben bestellt hatten. Aber auf das Thema widersprüchliche Elternaufträge  – ein wilder Bub sein, aber den Eltern immer brav und folgsam gehorchen, immer auf sie Rücksicht nehmen – will ich jetzt nicht eingehen.
Ich war nicht nur schüchtern und hatte Angst vor Menschen, sondern ich traute mir auch körperlich nichts zu. Ich kletterte freiwillig nicht auf Bäume, hatte Höhenangst, raste beim Schifahren oder Schlittenfahren etcetera nicht mutig ins Tal, ich sprang nicht übers Bächelein, zögerte hier, zögerte da, wahr unsicher und ungeschickt. Ich hatte weder Kompetenz über, noch Vertrauen in die Fähigkeiten meines Körpers. Über einen Zaun steigen – von richtigen Buben so mir nichts dir nichts erledigt – ging bei nur unter Angst, Zittern und sehr mühsam. In unserem Kinderlexikon gab es eine Darstellung der vier klassischen Charaktere an Hand von vier verschiedenen Verhaltensweisen vor einem den Weg versperrenden Zaun. Der Sanguiniker springt fröhlich über das Hindernis. Der Choleriker tritt wutentbrannt den Zaun um. Der Phlegmatiker setzt sich entspannt auf den Zaun und der Melancholiker stellt sich traurig hin, lehnt sich ein wenig an den Zaun und schaut sehnsüchtig in die Ferne.
Ich wußte gleich, ich bin der Melancholiker und war erschrocken über die Ausweglosigkeit, die dieses Bild und diese Definition (man könnte auch Diagnose sagen) suggerierte. In einem unserer Märchen- und Geschichtenbücher gab es auch eine Erzählung von Peter, dem Trauminet, der in dieser Geschichte schlußendlich eine Heldentat vollbringt, indem er sein Leben für andere opfert. Auch nicht gerade eine Überlebensstrategie. Entweder werden sie wie beim "Schimmelreiter" (Theodor Storm) gleich eingemauert, also geopfert, oder sie „müssen“ sich von sich aus opfern, um anerkannt zu werden. Auch bei Ludwig Thoma gibt es eine Geschichte, wo ein Peter ein Trauminet ist. Und auch bei einer Radiosendung für Kinder gab es einen Peter, der Trauminet. (die tiefenpsychologischen Zusammenhänge mit dem Namen Peter habe ich hier in der Schublade an anderer Stelle beschrieben.) Damit will ich nicht behaupten, daß alle Peter Feiglinge sind. Ich jedoch war es in den Augen meiner Eltern, der Umgebung und schließlich auch in meinen eigenen. Ich kann mich noch an das spöttische Grinsen meines Vaters erinnern, als ich die oben erwähnte Radiogeschichte gehört habe. „Da! Von dir ist die Rede!“

Als ich ins Gymnasium kam, erste Klasse, erste Turnstunde, hielt der Turnlehrer eine Ansprache. Er erzählte von seinem Sohn, welch ein mutiger und tüchtiger Bub der ist. Ich höre ihn noch: „er hat sich schon dreimal den Arm gebrochen, aber er traut sich was!“ Die Intention der Rede war, daß er sich Buben so vorstellt und daß er das auch von uns erwartet.
Mir aber zog es den Boden unter den Füßen weg! Ich wußte ja genau, so bin ich nicht. Vielleicht habe ich es schon geahnt, daß der Turnunterricht eine einzige Kette aus Scham, Bloßstellung, Verhöhnung und Demütigung sein wird. So eine Art kleine Hölle auf Erden. Mein Entsetzen und meine Panik müssen aus meinen Augen gestarrt haben, denn der Professor fragte die anderen Buben, „warum schaut mich der so an?“ und deutet auf mich. Ich bin sicher rot vor Scham geworden, obwohl ich vorher vor Schock und Entsetzen weiß war.

Es ist ja fast immer so, daß der Beginn – in der Volksschule konnte nicht von einem Turnunterricht geredet werden – daß der Beginn das aus ihm sich Entfaltende schon im Kern enthält und in gewisser Weise das Folgende definiert. Somit wurde dies ein für mich und meine Rollenzuteilung ein prägendes  Ereignis, tatsächlich das erste, bestimmende Glied einer Handlungs- und Erlebniskette, die sich diesem Muster nie mehr wirklich entwinden konnte. Das kann man möglicherweise nur, wenn es einem gelingt, diesen „Schadzauber“, diese Verwünschung, diese Definition gründlich und als Ganzes abzuschütteln. Ich kann mich jedoch nur an zwei „Ausflüge“ im Turnunterricht in andere Sporterfahrungen erinnern, einmal beim Fußballspielen, einmal beim Schwimmen, jeweils mit nachfolgendem Rückfall ins alte Schema. Ah, noch ein dritter Ausflug, beim Volleyballspielen, fällt mir jetzt ein.

Der Turnunterricht ist dann auch so abgelaufen wie angekündigt. Beim Geräteturnen – was für eine Qual! - steht der Professor mit Notenbüchlein daneben und trägt seine Minuszeichen ein. Schifahren. Der Professor steckt einen Slalom, steht mit seinem Notenbüchlein im Ziel und Torfehler: fünf, als Letzter im Ziel: fünf. Daß ich in Turnen nicht durchgefallen bin, hat mit der damaligen Praxis zu tun, wegen Turnen niemand die Klasse wiederholen zu lassen.

Diesen Professor hatten wir auch in Musik. Dort war er mir lieber, denn wir sangen viel. Ihm verdanke ich eines meiner liebsten Weihnachtslieder, von dem ich beide Stimmen singen kann.
Als einmal zu Beginn eines Schuljahres – schon in einer höheren Klasse – ein junger Musikprofessor zur ersten Stunde in die Klasse kam, der auch protestantischer Religionslehrer und Pastor war  und uns in protestantischem Bildungseifer die ganze Schulstunde ohne einzige Verschnaufpause einen durchgehenden Vortrag über die Anfänge der Musik beginnend beim unartikulierten Schrei hielt, natürlich mit der Annahme, daß wir das alles so schnell mitschreiben können und lernen werden, schauten wir uns betroffen an und fürchteten, eines der entspannteren Schulfächer verloren zu haben. Als dann in der zweiten Musikstunde doch wieder unser alter Musikprofessor bei der Tür hereinkam, waren wir erleichtert. Aus seinen Erzählungen, Anmerkungen und Kommentaren meinte ich herauszuhören, daß er ein Antisemit war, ich vermutete, ein alter Nazi. Zumindest war das damals mein Verdacht, aber explizit weiß ich das nicht.
Bei ihm haben wir auch das alte Wolgaschlepperlied „Ej, uch – njem“ auf Russisch gelernt. Auch eines der Lieder, das hängen geblieben ist, und manchmal, wenn ich Lust auf Singen hatte, und besonders dann, wenn ich merkte, daß meine Stimme eingerostet oder ausdruckslos war, sang ich es, um meine Stimme ein wenig in Schwung zu bringen. Später dann habe ich es immer meinen Kindern als Wiegenlied vorgesungen, nicht ohne mich darüber zu amüsieren, ein Arbeitslied als Schlaflied zu verwenden.

Aber zurück in die Jahre so um 1990, 1991 herum. Ich war mit Künstlerfreunden beim Heurigen Muck in Stammersdorf (gehört zu Wien), spanische Künstlerfreunde waren auch dabei. Wir tranken und redeten und bald schon begannen die Spanier ihre Lieder zu singen und zu „paschen“. Am Tisch daneben saßen zwei Männer – ob allein oder in Gesellschaft kann ich mich nicht mehr erinnern – die ich vom Aussehen her als Russen vermutet hatte, was sich tatsächlich als richtig herausstellte, weil es die Wirtin erwähnte in ihrer Begeisterung für ihre internationale Kundschaft.
Wenn ich zum Beispiel wie damals beim Muck die Spanier so unbefangen ihre Lieder singen höre, schmerzt es mich schon ein wenig, daß wir beziehungsweise ich ein so ambivalentes Verhältnis zu unseren Liedern haben und es hatte mich damals gereizt, auch ein paar Lieder zu singen. Ich dachte an österreichische Volkslieder, aber da das „Ej, uch – njem“ immer mein Einstiegslied ins Singen war und vor allem, weil dort drüben zwei Russen saßen, war ich nahe dran, es laut und alleine zu singen und dabei den Russen zuzuprosten. Nahe dran, aber dann habe ich mich doch nicht getraut, obwohl ich schon betrunken war. Also habe ich nichts gesungen.

Jahre später, als ein gewisser Wladimir Wladimirowitsch Putin in der russischen Politik aufstieg und weltweit bekannt wurde, dachte ich, das ist doch der eine Russe vom Muck! Natürlich, sicher weiß ich das nicht, aber komplett unwahrscheinlich ist es von vornherein auch nicht. Als wichtiger, in Dresden stationierter KGB-Offizier mit ausgezeichneten Deutschkenntnissen und wenn man bedenkt, daß Wien bis heute als Tummelplatz aller möglichen ausländischen Geheimdienste gilt, ist es durchaus möglich, daß sich Putin zu der Zeit in Wien aufgehalten hat. Seitdem gehe ich mit der Geschichte hausieren, daß ich beinah Putin kennengelernt hätte, wenn ich mir getraut hätte, damals beim Muck das „Ej, uch – njem“ zu singen.

Aber zurück in die Fünfziger- und Sechzigerjahre. Warum war ich als Kind so ängstlich? Das Vertrieben-Sein aus dem eigenen Empfinden verhindert auch das Gewahrsein des eigenen Körpers und seiner Impulse und Fähigkeiten. Sigrid Chamberlain beschreibt in ihrem Buch „Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, wie sich Kinder, die einer solchen vom Nationalsozialismus geprägten Erziehung ausgesetzt waren – und als Erzieher meine ich hier vor allem meine Eltern, wenn auch Schulen und große Teile der Gesellschaft noch von diesem Ungeist durchsetzt waren – wie solche Kinder also auch noch als Erwachsene Schwierigkeiten haben, ihren Körper zu spüren, seine Schmerzimpulse verdrängen und oft einen Sog spüren, der von Gefahren ausgeht. In der extrovertierten Variante zum Beispiel als Extremsportler, in der introvertierten Variante, der ich angehöre, das Hineinrennen in Unfälle.
Diese meine Ängstlichkeit war wohl auch ein Schutzmechanismus. Darum habe ich mich nie getraut, den Führerschein zu machen; die tiefverwurzelte Angst, unbewußt Gefahren geradezu anzusteuern, war berechtigt. Als ich zum Beispiel eine Tischlerausbildung absolvierte, obwohl ich immer Angst vor den Maschinen hatte, aber tapfer versuchte, die Angst zu überwinden und mich dazu zwang, das nicht aufzugeben, hatte ich mir gleich nach ein paar Wochen den halben linken Daumen abgeschnitten. Das ist natürlich keine große Sache und es stört mich auch kaum, aber das Muster ist deutlich. Es geschah auch in einem Trance-ähnlichen Zustand, wo ich die Konzentration verlor und meine Wahrnehmung verschwamm. Solange ich diesen Fluch meiner Kindheit nicht los bin, besteht tatsächlich Gefahr.
Vor diesen Gefahren hat mich meine Ängstlichkeit als Kind zu schützen versucht. Danke, liebe Ängstlichkeit!














©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com


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