446 Siebentausenddreihundertsiebenundzwanzig
Es ist Samstag. Ich habe mich zu einem Workshop angemeldet.
Der soll zur Verbesserung meiner … der
soll zur Verbesserung beitragen. Ich habe keine rechte Lust. Ich habe schon
bezahlt, aber denke mir, vielleicht war das zu voreilig. Mir wird demnächst das
Geld für solche Sachen ausgehen. Ist es das Richtige? Ich kann so schwer nein
sagen! Andererseits denke ich, mein Widerstand ist Abwehr und somit ist das
genau das Richtige. So zweifle ich hin und her.
Weil ich schon bezahlt habe, gehe ich hin. Ich fahre zuerst
mit der U-Bahn, dann mit der Straßenbahn. Samstag in der Früh ist da nicht
allzuviel los. Ich habe einen Stadtplan bei mir, weil mir die Lokalität
unbekannt ist. Das letzte Stück gehe ich zu Fuß. Das mache ich gerne. Es ist
ein kühler Tag, aber angenehm zum Gehen. Wie immer bin ich zu früh. Wie immer
beschimpfe ich mich wegen meiner Überpünktlichkeit. Das ist so typisch! Übereifriges
braves Bubi, autoritätshörig, voller Angst, einen Fehler zu machen oder zu spät
zu kommen. Was werden die anderen denken! Nachdem ich den Seminarraum gefunden
habe, zwinge ich mich, exakt zehn Minuten einfach geradeaus die Straße weiter
zu gehen, wenn ich dann umdrehe und zurück gehe, bin ich noch rechtzeitig, aber
nicht der Erste. Vermute ich.
Ich bin angespannt und nervös. Wie ich solche Situationen
kenne! Beim Gehen merke ich, ich habe wirklich keine Lust. Wieder ein
Neuanfang! Der siebentausenddreihundertsiebenundzwanzigste Versuch, mein Leben
in Ordnung zu bringen. Bis jetzt hat nichts geklappt. Ich bin immer wieder in
meine beschissene Ausgangslage zurückgefallen. Aber das ist nicht das
Schlimmste. Das Schlimmste ist, daß ich mir zum siebentausenddreihundertsiebenundzwanzigsten
Mal Hoffnungen mache. Ich fürchte eine weitere Enttäuschung. Viele
Enttäuschungen halte ich nicht mehr aus. Ich kann mich mit einem gescheiterten
Leben abfinden, aber nicht mehr, mir neue Hoffnungen auf Veränderung zu machen und
wieder zu versagen. Denn als mein Versagen sehe ich das, wenn ich nicht
weiterkomme.
Als ich wieder zur Eingangtür zurückkomme, sehe ich eine
Frau sich dieser Haustür nähern. Ich denke sofort, die geht auch dorthin. Ich
warte, bis sie drinnen ist, ich will jetzt in kein Gespräch verwickelt werden,
„gehst du/ gehen Sie auch zum …?“ „Ah, ja, interessant!“
Erst nachdem sie schon ein paar Sekunden in der Haustür
verschwunden ist, gehe ich selber zur Haustür. Wieder dieses Eintreten in einen
unbekannten Raum, unsicher, zögernd schaue ich mich um, wieder neue unbekannte
Leute. Die Frau von vorhin ist auch da. Eigentlich habe ich Angst, aber ich bin
gut trainiert, nicht auf mein Empfinden zu hören. Die Räume alle irgendwie
„schön“, die Leute alle sehr tüchtig. Ach, diese Scham, immer der einzige
Versager in der Runde zu sein! Alle haben sie ihre Berufe, kommen gerade von
Fernreisen zurück, oder werden demnächst zu einer solchen aufbrechen. Alle
haben sie Häuser mit Gärten, tolle Wohnungen, Autos. Alles weit jenseits meiner
Möglichkeiten. Gut, ich gebe zu, ich habe nicht alle durchgefragt. Und nicht
nur das Geld! Ich wäre für so eine Fernreise nicht mutig genug. Ich fürchte
mich doch vor allem und jedem. Ich komme doch mit dem hier, mit dem hier
Üblichen und Bekannten schon nicht zurecht. Ach Gott, wie viele Seminare,
Therapien, Workshops, wie oft habe ich in solchen Räumen gewartet! Oder bei der
Jobsuche, oder bei Galerien, damals, als ich noch gemalt habe. Immer diese
Aufregung und Anspannung. Und immer diese große, oder kleine, oder auch nur ein
wenig aufkeimende Hoffnung. Immer dieses „Jetzt, jetzt … jetzt schaffe ich den
Schritt hinaus aus meinem Lebensdilemma!“ Immer dieses zitternde Warten! Immer
bei Null beginnen. Nein, ich halte das nicht mehr aus. Ich weiß, ich werde es
so angehen, daß dabei nichts herauskommt. Ich möchte nichts mehr wollen, ich
möchte mich nicht mehr ändern. Ich will mich in Ruhe lassen. Ich möchte nur
mehr auf eine Straße schauen können, aus einem Kaffeehausfenster zum Beispiel,
oder vom Zug aus auf die Landschaft, auf die Leute da draußen, den Menschen
beim Leben zuschauen. Voyeur des Lebens.
Die Seminarleiterin beugt sich vor um eine Mappe vom Boden
aufzuheben und ich schaue ihr kurz in den Ausschnitt. Ja nicht auffällig! Dabei
weiß ich, das ist eine Illusion, es wird immer bemerkt. Mein Gott, so alt bin
ich und immer noch ein bedürftiges Baby! Was für eine Schande! Gleichzeitig
beneide ich fast – ich betone: fast – die Männer, die so etwas normal finden.
Die sich gesund vorkommen, wenn sie eine Frau angaffen. Es muß etwas jenseits
von gut und böse geben. So, ich höre jetzt auf! Schluß! Aus! Puuh!
©Peter Alois Rumpf September
2016 peteraloisrumpf@gmail.com
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