Montag, 19. September 2016

446 Siebentausenddreihundertsiebenundzwanzig

Es ist Samstag. Ich habe mich zu einem Workshop angemeldet. Der soll zur Verbesserung meiner …    der soll zur Verbesserung beitragen. Ich habe keine rechte Lust. Ich habe schon bezahlt, aber denke mir, vielleicht war das zu voreilig. Mir wird demnächst das Geld für solche Sachen ausgehen. Ist es das Richtige? Ich kann so schwer nein sagen! Andererseits denke ich, mein Widerstand ist Abwehr und somit ist das genau das Richtige. So zweifle ich hin und her.
Weil ich schon bezahlt habe, gehe ich hin. Ich fahre zuerst mit der U-Bahn, dann mit der Straßenbahn. Samstag in der Früh ist da nicht allzuviel los. Ich habe einen Stadtplan bei mir, weil mir die Lokalität unbekannt ist. Das letzte Stück gehe ich zu Fuß. Das mache ich gerne. Es ist ein kühler Tag, aber angenehm zum Gehen. Wie immer bin ich zu früh. Wie immer beschimpfe ich mich wegen meiner Überpünktlichkeit. Das ist so typisch! Übereifriges braves Bubi, autoritätshörig, voller Angst, einen Fehler zu machen oder zu spät zu kommen. Was werden die anderen denken! Nachdem ich den Seminarraum gefunden habe, zwinge ich mich, exakt zehn Minuten einfach geradeaus die Straße weiter zu gehen, wenn ich dann umdrehe und zurück gehe, bin ich noch rechtzeitig, aber nicht der Erste. Vermute ich.
Ich bin angespannt und nervös. Wie ich solche Situationen kenne! Beim Gehen merke ich, ich habe wirklich keine Lust. Wieder ein Neuanfang! Der siebentausenddreihundertsiebenundzwanzigste Versuch, mein Leben in Ordnung zu bringen. Bis jetzt hat nichts geklappt. Ich bin immer wieder in meine beschissene Ausgangslage zurückgefallen. Aber das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, daß ich mir zum siebentausenddreihundertsiebenundzwanzigsten Mal Hoffnungen mache. Ich fürchte eine weitere Enttäuschung. Viele Enttäuschungen halte ich nicht mehr aus. Ich kann mich mit einem gescheiterten Leben abfinden, aber nicht mehr, mir neue Hoffnungen auf Veränderung zu machen und wieder zu versagen. Denn als mein Versagen sehe ich das, wenn ich nicht weiterkomme.
Als ich wieder zur Eingangtür zurückkomme, sehe ich eine Frau sich dieser Haustür nähern. Ich denke sofort, die geht auch dorthin. Ich warte, bis sie drinnen ist, ich will jetzt in kein Gespräch verwickelt werden, „gehst du/ gehen Sie auch zum …?“ „Ah, ja, interessant!“
Erst nachdem sie schon ein paar Sekunden in der Haustür verschwunden ist, gehe ich selber zur Haustür. Wieder dieses Eintreten in einen unbekannten Raum, unsicher, zögernd schaue ich mich um, wieder neue unbekannte Leute. Die Frau von vorhin ist auch da. Eigentlich habe ich Angst, aber ich bin gut trainiert, nicht auf mein Empfinden zu hören. Die Räume alle irgendwie „schön“, die Leute alle sehr tüchtig. Ach, diese Scham, immer der einzige Versager in der Runde zu sein! Alle haben sie ihre Berufe, kommen gerade von Fernreisen zurück, oder werden demnächst zu einer solchen aufbrechen. Alle haben sie Häuser mit Gärten, tolle Wohnungen, Autos. Alles weit jenseits meiner Möglichkeiten. Gut, ich gebe zu, ich habe nicht alle durchgefragt. Und nicht nur das Geld! Ich wäre für so eine Fernreise nicht mutig genug. Ich fürchte mich doch vor allem und jedem. Ich komme doch mit dem hier, mit dem hier Üblichen und Bekannten schon nicht zurecht. Ach Gott, wie viele Seminare, Therapien, Workshops, wie oft habe ich in solchen Räumen gewartet! Oder bei der Jobsuche, oder bei Galerien, damals, als ich noch gemalt habe. Immer diese Aufregung und Anspannung. Und immer diese große, oder kleine, oder auch nur ein wenig aufkeimende Hoffnung. Immer dieses „Jetzt, jetzt … jetzt schaffe ich den Schritt hinaus aus meinem Lebensdilemma!“ Immer dieses zitternde Warten! Immer bei Null beginnen. Nein, ich halte das nicht mehr aus. Ich weiß, ich werde es so angehen, daß dabei nichts herauskommt. Ich möchte nichts mehr wollen, ich möchte mich nicht mehr ändern. Ich will mich in Ruhe lassen. Ich möchte nur mehr auf eine Straße schauen können, aus einem Kaffeehausfenster zum Beispiel, oder vom Zug aus auf die Landschaft, auf die Leute da draußen, den Menschen beim Leben zuschauen. Voyeur des Lebens.
Die Seminarleiterin beugt sich vor um eine Mappe vom Boden aufzuheben und ich schaue ihr kurz in den Ausschnitt. Ja nicht auffällig! Dabei weiß ich, das ist eine Illusion, es wird immer bemerkt. Mein Gott, so alt bin ich und immer noch ein bedürftiges Baby! Was für eine Schande! Gleichzeitig beneide ich fast – ich betone: fast – die Männer, die so etwas normal finden. Die sich gesund vorkommen, wenn sie eine Frau angaffen. Es muß etwas jenseits von gut und böse geben. So, ich höre jetzt auf! Schluß! Aus! Puuh!












©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com

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