435 Wie sich autoritäre Erziehung auswirkt
Gestern hatte ich bei der Arbeit plötzlich Schmerzen in der
Herzgegend, mein linker Arm war wie gelähmt und mir wurde leicht übel. Mein Verstand
sagte: das schaut nach einer Herzgeschichte aus, möglicherweise ein leichter
Herzinfarkt, angeblich gibt es das, oder eine Vorstufe dazu. Normalerweise
würde man sofort einen Arzt aufsuchen. Nicht so jemand, der in seiner Kindheit
gebrochen wurde und nie gelernt hat, sich und seine Bedürfnisse zu achten.
Zunächst einmal wird er sofort seine Hypothese verwerfen, weil er sowieso nicht
so genau wisse, ob das überhaupt stimmt und nicht vielmehr einer seiner vielen
Irrtümer, Fehler und Übertreibungen ist.
Ich bleibe sitzen, mache mit Anstrengung (ursprünglich hatte
ich „mit großer Anstrengung“
geschrieben und vorher „plötzlich starke
Schmerzen“, aber das kommt mir jetzt, ein paar Stunden später, beim Eintippen
in den Computer, schon viel zu übertrieben vor) das laufende Interview
erfolgreich fertig, gehe dann doch in die Pause, esse etwas, versuche, mir
nichts anmerken zu lassen, sage nur so nebenbei der Arbeitsaufsicht, daß mir
ein wenig übel sei, nichts Schlimmes, wie ich gleich hinzufüge, aber daß sie
verstehen mögen, daß ich jetzt möglicherweise öfters aufs Klo gehen müsse. Ist
eh nichts Schlimmes.
Offiziell würde ich meine Unlust, einen Arzt aufzusuchen,
ungefähr so erklären: Ich mag die Ärzteschaft nicht, ich habe den Verdacht, daß
sie Büttel der Pharmaindustrie sind und bloß ihre beschränkten, arroganten
Behandlungsmethoden an mir vollziehen wollen.
Ganz falsch ist das ja nicht; es gibt genug Geschichten über
das arrogante, bürokratische Gesundheitssystem und Ärzte, die ihre Patienten
schlecht und schlampig behandeln, über sie drüberfahren und mehr ihrem Ego,
ihrem Ruf, ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihrem Einkommen und ihrer
Selbstdarstellung, ihrem autoritären Gehabe verpflichtet sind, als dem Wohl der
Patienten.
Aber das Ganze hat auch eine andere Komponente: ich habe
Angst, mich einer Autorität oder einem autoritären System auszuliefern, weil
ich genau weiß, daß ich als „passiv-autoritärer Charakter“ mich nicht wehren,
nicht verteidigen, und mich nicht behaupten kann. Und das stimmt. (Damit das nicht
falsch verstanden wird: das ist nicht die Angst, daß einem der Arzt „weh tut“;
ich bin schon als Volksschulkind allein zur Impfung gegangen, ohne mütterliche
Begleitung.) Denn wenn ich eine Ordination betrete, bin ich, wie ich
abgerichtet wurde, folgsam, mache brav alles, was mir angeschafft wurde,
vielleicht mit ernstem Dreinschauen oder ein wenig mit Scherzen getarnt, wenn
ich eine Situation vorfinde, wo ich glaube, solche anbringen zu können.
Eventuell schwindle ich und verschweige alternative Methoden, die ich
ausprobiere, weil sie in der Schulmedizin verpönt sind.
Einmal bin ich an einer Infusion gehangen, die Ärztin hatte
den Tropfer viel zu langsam eingestellt, so daß ich gute vier Stunden am
Tropfer hing.
Ich wußte, da ist eine Glocke, ich brauche nur läuten (und
alle gehen davon aus, daß jeder in einer solchen Situation läutet), aber ich
wußte es bloß mit dem Intellekt, daß ich das machen kann und daß mir das
zusteht, aber ich empfinde es nicht. Ich kann es nicht tun. Erst als ich
merkte, daß die Ordination schon leer ist, und die Ärzte weg sind, die
Ordinationshilfen mich vergessen haben und schon weggehen und zusperren wollen
und der Tropfer leer ist, läute ich. Die dann gekommen ist war schon in ihrer
Privatkleidung (mit durchsichtiger Bluse und großem Dekolleté).
Es ist noch mehr dahinter: es ist das stark und tief
verankerte, ganz früh schon angewachsene Gefühl, daß es jemanden wie mir nicht
zusteht, irgendetwas zu beanspruchen. Deshalb war es nur folgerichtig, daß ich
einige Jahre meines Lebens in einer für unsere Breiten eher unüblichen Armut
verbracht habe, ohne jeden Versicherungsschutz, im Winter in der desolaten
Wohnung tagelang nur 12 Grad Celsius, manchmal runter bis 8. Es steht mir nicht
zu, wegen mir selber soviel Aufwand zu machen, auch nicht, um Hilfe zu bitten.
Natürlich gehe ich, wenn ich krank bin, zum Arzt, aber
weniger aus Sorge um mich selber, als um den bürokratischen Ansprüchen des
Arbeitgebers – Krankenstandsbestätigung – genüge zu tun. Aber immer in der
offenen oder unterschwelligen Sorge, zuviele Umstände zu machen, immer mit
einem leichten schlechten Gewissen, das ich mir immer erst ausreden muß.
Krankenstand – sowas steht mir doch nicht zu.
Mir fällt auf, daß mir zum Beispiel der Sehtest beim
Augenarzt leichter fällt. Warum? Weil da kein Arbeitsausfall, keine eigentliche
Krankheit, keine Schmerzen im Spiel sind?
So eine Herz/Schmerz/Armlähmungsgeschichte habe ich auch vor
Jahrzehnten, schon als reichlich Erwachsener, bei einer Bergtour auf den
Grimming erlebt (meiner ersten und einzigen). Voller Schuldgefühle den anderen,
geübten Wanderern gegenüber (ein bißchen haben sie mich überredet, mitzugehen;
diese verdammte Unfähigkeit, nein zu sagen!), weil ich meine Kondition falsch
eingeschätzt hatte und immer wieder zurückblieb. Die anderen waren aber
richtige Bergfexen, die es nicht ausgehalten haben, wegen mir langsamer zu
gehen; es wäre ihnen – so unterstelle ich ihnen - peinlich gewesen, unten in der
Hütte sagen zu müssen, wir haben so und so lang gebraucht.
So bin ich allein dahingewankt, hatte diese Schmerzen, als
dann doch einer der Truppe, ein Arzt, irgendwo auf mich gewartet hat. Er fragt
mich, ob's geht, und ich gebe die typische Antwort solcher gebrochener
Menschen: es geht schon! Füge aber dann schüchtern hinzu: mein linker Arm fühlt
sich wie gelähmt an, und ich habe Schmerzen im Herzbereich. Der Arzt reagiert
nicht, er nimmt das „geht schon“ für bare Münze. Ich weiß nicht mehr, ob er
wieder schneller losgegangen ist, oder ob er mich begleitet hat. Da kann ich
mich nicht mehr genau erinnern.
Oder: Vor langer Zeit einmal hat mir ein Arbeitgeber
angeboten, die Fahrkosten zum Arbeitsplatz – ein Straßenbahnfahrschein hin, ein
Straßenbahnfahrschein retour – zu bezahlen, aber ich habe es abgelehnt, aus dem
Gefühl heraus, es steht mir nicht zu.
Diese zum Habitus gewordene Haltung bin ich bis jetzt, trotz
vieler Therapien, nicht losgeworden. Sicher habe ich inzwischen besser gelernt,
mit den Folgen meiner autoritären, empathielosen Erziehung umzugehen, aber tief
im Inneren, und wenn es drauf ankommt … ich glaube, da schaut es noch wie in
meiner Kindheit aus.
©Peter Alois Rumpf September
2016 peteraloisrumpf@gmail.com
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