Sonntag, 4. September 2016

435 Wie sich autoritäre Erziehung auswirkt

Gestern hatte ich bei der Arbeit plötzlich Schmerzen in der Herzgegend, mein linker Arm war wie gelähmt und mir wurde leicht übel. Mein Verstand sagte: das schaut nach einer Herzgeschichte aus, möglicherweise ein leichter Herzinfarkt, angeblich gibt es das, oder eine Vorstufe dazu. Normalerweise würde man sofort einen Arzt aufsuchen. Nicht so jemand, der in seiner Kindheit gebrochen wurde und nie gelernt hat, sich und seine Bedürfnisse zu achten. Zunächst einmal wird er sofort seine Hypothese verwerfen, weil er sowieso nicht so genau wisse, ob das überhaupt stimmt und nicht vielmehr einer seiner vielen Irrtümer, Fehler und Übertreibungen ist.

Ich bleibe sitzen, mache mit Anstrengung (ursprünglich hatte ich „mit großer Anstrengung“ geschrieben und vorher „plötzlich starke Schmerzen“, aber das kommt mir jetzt, ein paar Stunden später, beim Eintippen in den Computer, schon viel zu übertrieben vor) das laufende Interview erfolgreich fertig, gehe dann doch in die Pause, esse etwas, versuche, mir nichts anmerken zu lassen, sage nur so nebenbei der Arbeitsaufsicht, daß mir ein wenig übel sei, nichts Schlimmes, wie ich gleich hinzufüge, aber daß sie verstehen mögen, daß ich jetzt möglicherweise öfters aufs Klo gehen müsse. Ist eh nichts Schlimmes.

Offiziell würde ich meine Unlust, einen Arzt aufzusuchen, ungefähr so erklären: Ich mag die Ärzteschaft nicht, ich habe den Verdacht, daß sie Büttel der Pharmaindustrie sind und bloß ihre beschränkten, arroganten Behandlungsmethoden an mir vollziehen wollen.

Ganz falsch ist das ja nicht; es gibt genug Geschichten über das arrogante, bürokratische Gesundheitssystem und Ärzte, die ihre Patienten schlecht und schlampig behandeln, über sie drüberfahren und mehr ihrem Ego, ihrem Ruf, ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihrem Einkommen und ihrer Selbstdarstellung, ihrem autoritären Gehabe verpflichtet sind, als dem Wohl der Patienten.

Aber das Ganze hat auch eine andere Komponente: ich habe Angst, mich einer Autorität oder einem autoritären System auszuliefern, weil ich genau weiß, daß ich als „passiv-autoritärer Charakter“ mich nicht wehren, nicht verteidigen, und mich nicht behaupten kann. Und das stimmt. (Damit das nicht falsch verstanden wird: das ist nicht die Angst, daß einem der Arzt „weh tut“; ich bin schon als Volksschulkind allein zur Impfung gegangen, ohne mütterliche Begleitung.) Denn wenn ich eine Ordination betrete, bin ich, wie ich abgerichtet wurde, folgsam, mache brav alles, was mir angeschafft wurde, vielleicht mit ernstem Dreinschauen oder ein wenig mit Scherzen getarnt, wenn ich eine Situation vorfinde, wo ich glaube, solche anbringen zu können. Eventuell schwindle ich und verschweige alternative Methoden, die ich ausprobiere, weil sie in der Schulmedizin verpönt sind.

Einmal bin ich an einer Infusion gehangen, die Ärztin hatte den Tropfer viel zu langsam eingestellt, so daß ich gute vier Stunden am Tropfer hing.
Ich wußte, da ist eine Glocke, ich brauche nur läuten (und alle gehen davon aus, daß jeder in einer solchen Situation läutet), aber ich wußte es bloß mit dem Intellekt, daß ich das machen kann und daß mir das zusteht, aber ich empfinde es nicht. Ich kann es nicht tun. Erst als ich merkte, daß die Ordination schon leer ist, und die Ärzte weg sind, die Ordinationshilfen mich vergessen haben und schon weggehen und zusperren wollen und der Tropfer leer ist, läute ich. Die dann gekommen ist war schon in ihrer Privatkleidung (mit durchsichtiger Bluse und großem Dekolleté).

Es ist noch mehr dahinter: es ist das stark und tief verankerte, ganz früh schon angewachsene Gefühl, daß es jemanden wie mir nicht zusteht, irgendetwas zu beanspruchen. Deshalb war es nur folgerichtig, daß ich einige Jahre meines Lebens in einer für unsere Breiten eher unüblichen Armut verbracht habe, ohne jeden Versicherungsschutz, im Winter in der desolaten Wohnung tagelang nur 12 Grad Celsius, manchmal runter bis 8. Es steht mir nicht zu, wegen mir selber soviel Aufwand zu machen, auch nicht, um Hilfe zu bitten.

Natürlich gehe ich, wenn ich krank bin, zum Arzt, aber weniger aus Sorge um mich selber, als um den bürokratischen Ansprüchen des Arbeitgebers – Krankenstandsbestätigung – genüge zu tun. Aber immer in der offenen oder unterschwelligen Sorge, zuviele Umstände zu machen, immer mit einem leichten schlechten Gewissen, das ich mir immer erst ausreden muß. Krankenstand – sowas steht mir doch nicht zu.

Mir fällt auf, daß mir zum Beispiel der Sehtest beim Augenarzt leichter fällt. Warum? Weil da kein Arbeitsausfall, keine eigentliche Krankheit, keine Schmerzen im Spiel sind?

So eine Herz/Schmerz/Armlähmungsgeschichte habe ich auch vor Jahrzehnten, schon als reichlich Erwachsener, bei einer Bergtour auf den Grimming erlebt (meiner ersten und einzigen). Voller Schuldgefühle den anderen, geübten Wanderern gegenüber (ein bißchen haben sie mich überredet, mitzugehen; diese verdammte Unfähigkeit, nein zu sagen!), weil ich meine Kondition falsch eingeschätzt hatte und immer wieder zurückblieb. Die anderen waren aber richtige Bergfexen, die es nicht ausgehalten haben, wegen mir langsamer zu gehen; es wäre ihnen – so unterstelle ich ihnen - peinlich gewesen, unten in der Hütte sagen zu müssen, wir haben so und so lang gebraucht.

So bin ich allein dahingewankt, hatte diese Schmerzen, als dann doch einer der Truppe, ein Arzt, irgendwo auf mich gewartet hat. Er fragt mich, ob's geht, und ich gebe die typische Antwort solcher gebrochener Menschen: es geht schon! Füge aber dann schüchtern hinzu: mein linker Arm fühlt sich wie gelähmt an, und ich habe Schmerzen im Herzbereich. Der Arzt reagiert nicht, er nimmt das „geht schon“ für bare Münze. Ich weiß nicht mehr, ob er wieder schneller losgegangen ist, oder ob er mich begleitet hat. Da kann ich mich nicht mehr genau erinnern.

Oder: Vor langer Zeit einmal hat mir ein Arbeitgeber angeboten, die Fahrkosten zum Arbeitsplatz – ein Straßenbahnfahrschein hin, ein Straßenbahnfahrschein retour – zu bezahlen, aber ich habe es abgelehnt, aus dem Gefühl heraus, es steht mir nicht zu.

Diese zum Habitus gewordene Haltung bin ich bis jetzt, trotz vieler Therapien, nicht losgeworden. Sicher habe ich inzwischen besser gelernt, mit den Folgen meiner autoritären, empathielosen Erziehung umzugehen, aber tief im Inneren, und wenn es drauf ankommt … ich glaube, da schaut es noch wie in meiner Kindheit aus.

















©Peter Alois Rumpf    September 2016     peteraloisrumpf@gmail.com

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