Donnerstag, 1. September 2016

432 Meinungsforschung oder die wandelnde Bombe

Ich arbeite in einem Meinungsforschungsinstitut. Denn nachdem sowohl mein Weg als Künstler als auch als Theologe gescheitert war, ich jedoch eine Familie - wenn schon nicht zu ernähren, so doch für sie ein wenig beizutragen habe (meine Frau trägt mehr zum Familieneinkommen bei als ich), war ich – schon weit über fünfzig Jahre alt – froh, doch noch einen zwar finanziell bescheidenen und eher unbedankten Job gefunden zu haben, aber seit ein paar Jahren sogar im Angestelltenverhältnis mit den damit verbundenen Vorteilen. Vorher jobbte ich quasi als Gelegenheitsarbeiter ohne Pensionsversicherung, mit schlechter Bezahlung und ohne Krankenversicherung – vor meiner Ehe lebte ich tatsächlich ohne jeden Versicherungsschutz -, ohne irgendeinen Anspruch auf irgendwas.

Ich bin da ein mittelmäßiger Telefoninterviewer; einerseits ist diese Arbeit nicht schwer, wenn es für mich auch scheinbar unüberwindliche Grenzen des Erfolges gibt, andererseits empfinde ich diese Arbeit doch oft als anstrengend. Die Arbeit mit dem Headset – vor allem wegen der im Verhältnis zu den Stimmen immer zu lauten Klingeltöne – belastet das Gehör; wir sind bei unseren Anrufen viel Ablehnung, vielen unfreundlichen Reaktionen und immer wieder auch Beschimpfungen ausgesetzt (die Frauen sicher noch mehr und auch stärker ins Anzügliche gehend) und nur selten – klarerweise - freut sich jemand, wenn wir anrufen. Das Feedback ist also eher mies, auch wenn es immer wieder freundliche Menschen gibt, die mitmachen, oder ihre Ablehnung freundlich und höflich ausdrücken. Am meisten macht mir zu schaffen, daß uns viele Angerufene unterstellen, daß wir Gauner sind und mit ihren Angaben Schindluder treiben wollen oder überhaupt sie und ihre Lebensverhältnisse (wegen der notwendigen statistischen Fragen) für irgendwelche halb- oder ganz kriminellen Machenschaften ausspionieren wollen. Dazu muß ich festhalten, daß ich in einem reinen Meinungsforschungsinstitut arbeite – wir verkaufen nichts, sondern erheben nur die Meinung der Bevölkerung zu verschiedenen Themen, wenn es nicht überhaupt um bloße Statistik geht. Wir geben keine Telefonnummern, Adressen oder ähnliches weiter, die Befragten bleiben in den Studien anonym, ihre Antworten gehen in anonyme Statistiken ein.

Unser Institut arbeitet hauptsächlich mit Zufallstelefonnummern, wo durch ein Computerprogramm Telefonnummern quasi „erfunden“ werden, indem die letzten drei, vier Stellen einer gültigen, aber dann nicht verwendeten Telefonnummer durch computergenerierte Zufallsziffern ersetzt werden – auch etwas, das uns öfters nicht geglaubt wird – jedenfalls wissen wir nicht, bei wem wir anrufen, weil es nur eine Nummer gibt, keinen Namen, keine Adresse, die ja unbekannt sind.

Diese Methode bringt es klarerweise mit sich, daß viele der computergenerierten Telefonnummern ungültig sind und wenn ein Block neuer Nummern eingespielt wird, sind von uns viele falsche Nummern auszusortieren.
Der Computer spielt eine Zufallsnummer auf den Bildschirm, ich klicke sie an, der Computer wählt die Nummer, und wenn sie falsch ist, höre ich im Kopfhörer zum Beispiel die Ansage „Die von Ihnen gewählte Rufnummer existiert nicht“. Ich lege wieder auf indem ich das entsprechende Symbol anklicke, klicke dann „ungültige Nummer“ an, dann „weiter“ und es wird die nächste Nummer eingespielt. Abgesehen davon, daß wirklich jemand abhebt und ich ihn oder sie frage, ob ich sie oder ihn interviewen darf, kann die Nummer natürlich auch besetzt sein, man/frau in der Sprachbox landen, eine „nicht-erreichbar“-Ansage kommen und so weiter. Oft hebt längere Zeit niemand ab.
Diese Abläufe des Wählens, Auflegens, Anklickens sind dann schon einigermaßen automatisiert.

Besonders, wenn neue Nummern eingespielt werden, kann es schon passieren, daß auch zehnmal hintereinander ungültige Nummern kommen. Mein Spiel besteht dann darin, diese Abläufe flott durchzuziehen und bei der Ansage „Die von Ihnen gewählte Rufnummer existiert nicht!“ so schnell aufzulegen, daß das „nicht“ schon nicht mehr angesagt werden kann. Ich höre dann im Kopfhörer „Die von Ihnen gewählte Rufnummer existiert“.
Jetzt kommt das, weswegen ich das alles überhaupt beschreibe, nämlich eine kleine, vielleicht unbedeutende, aber vielleicht doch interessante Beobachtung an mir selber: wenn ich sechs, siebenmal oder öfter „Die von Ihnen gewählte Rufnummer existiert“ höre, werde ich tatsächlich unsicher, ob es wirklich falsche Nummern sind, die ich hier aussortiere. Natürlich weiß ich, daß ich selber vor dem „nicht“ auflege, und es kommt mir absurd vor, daß da in mir etwas zu zweifeln beginnt, aber der Impuls, zur Vergewisserung die nächste Ansage bis zum „nicht“ aussprechen zu lassen, wird groß.

Jetzt weiß ich nicht, wie das menschliche Bewußtsein arbeitet, ob es möglicherweise darauf angelegt ist, was es hört, ernst zu nehmen, und das wäre in diesem Fall, daß die Nummer existiert.

Ich fürchte aber, daß da doch etwas anderes dahinter ist; daß das nämlich mit meiner autoritären Erziehung zu tun hat (horchen – gehorchen – Gehorsam). Daß ich also darauf abgerichtet wurde, dem, was mir gesagt wurde, mehr zu glauben, als meinem eigenen Wissen und Empfinden, und daß das in der nächst tieferen Schicht des Bewußtseins – gleich unter der äußeren, „offiziellen“, wenn man so will „aufgeklärten“ Schicht – noch immer wirksam ist. Das heißt dann aber auch, daß kaum ein Ich im Sinne eines gesunden Subjekts und Trägers des Bewußtseins ausgebildet und entfaltet ist.
Wenn meine Überlegungen zu meiner Beobachtung stimmen, dann ist das beinah unerträglich, wie schlecht meine Handlungen etcetera in meinem Bewußtsein verankert sind, so, daß eine blöde Telefonansage, die fünfmal das gleiche sagt, mehr Gewicht bekommt, als meine eigene Erfahrung. Das passt schon zum autoritären Charakter, man denke an das Milgram- Experiment oder an Eichmann und seine „Amtssprache“; womit wir wieder bei meiner „Nazierziehung“ wären. Dann ist mein Bewußtsein fremdbesetzt und ich brauche mich nicht wundern, so in meinem Leben auf keinen grünen Zweig gekommen zu sein und auch nicht darüber, daß ich kaum nachhaltig handeln und mein Leben kaum gestalten konnte.

„Eine wandelnde Bombe“, wie eine Kunstkritikerin vor Jahren eine Figur auf einem Gemälde meiner Frau bezeichnet hat, die mich darstellt. So gesehen eine exakte Assoziation.
Wenn das stimmt, dann führe ich schon ein Leben lang einen schrecklichen Kampf um Entschärfung dieser Bombe, die ich selber bin. Kein Wunder, daß mir zum Leben wenig Energie geblieben ist. Und was ich mir sonst eher als Versagen angerechnet habe, daß ich es zum Beispiel nicht geschafft habe, als Lehrer - wo auch immer – meinen Beruf zu finden, weil ich zuviel Angst vor Kindern und Jugendlichen hatte, zeigt sich in diesem Licht eher als weise Notbremse meiner noch gesunden Anteile tief unten in meiner Seele, um zu verhindern, daß eine Bombe auf diese Menschen losgelassen wird, die unter Stress und Panik leicht hochgehen kann.

Das muß ich aber noch hinzufügen: ich bin hier in diesem Land sicher nicht die einzige „wandelnde Bombe“. Im Gegenteil. Man kann diese heutzutage so deutlich sehen wie schon lange nicht mehr.


















©Peter Alois Rumpf   September 2016   peteraloisrumpf@gmail.com

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