421 Welche Bilder kommen
Welche Bilder kommen? Ich frage das nach innen. Das Zimmer
um Mitternacht bei offenem Fenster habe ich schon genug beschrieben. Die
Gegenstände und Farben, mit Brille verschwommen, ohne Brille klar – schon
beschrieben. Die Geräusche draußen im Lichtschacht – schon oft beschrieben.
Mein Surren und Ticken ebenso. Lichtreflexe etcetera etcetera. …
Also: welche Bilder kommen? Nichts.
Nichts? Das gibt’s nicht!
Gut. Welche Gedanken kommen? Nur undeutlich leserliche, in
bereits verblaßter Schrift.
Ein Hund bellt irgendwo weiter weg.
Es hilft nichts. Im Vordergrund bleiben Surren und
Weckerticken. Das Türenschlagen an verschiedenen Stellen im Haus suggeriert
eine Abfolge, eine Dramaturgie, fast ein Drama.
Schritte auf der Stiege. Kurze, unverständliche Stimmen.
Öffnen eines Türschlosses regulär mit Schlüssel.
Habe ich wirklich meine inneren Bilder verloren? Alles
herausgeschrieben? Meine Seele geleert und entlastet? Das glaub' ich nicht! Ist
das Werkzeug kaputt und ich kann deshalb nichts mehr fassen?
Ich werde wieder verstärkt andere Schreiborte aufsuchen,
aber wann? Die Nacht und der Morgen sind meine ruhige Zeit.
Eine Tür wird versperrt, modernes Schloss. Ich werde
regelrecht zappelig und wippe mit den Füßen hin und her. El hombre que corre.
Ich gehe täglich zu Fuß in die Arbeit. Eine gute halbe Stunde. Dabei übe ich
den Vorhof zur Inneren Stille. Mehr verrate ich nicht. Ich denke an meine erste
Zeit. Wie ich zum erstenmal versucht habe, mein Leben in die Hand zu bekommen.
Für die miserablen Voraussetzungen gar nicht so schlecht. Das ist lange her.
Ich lächle milde über mein Leben. Altersmilde? Nein, ich habe mir nichts
vorzuwerfen.
Die Frau geht mit dem kleinen Kind die Stiegen hinunter. Sie
reden. Ich verstehe hier heroben kein Wort, aber dem Sound nach klingt es nach
einem ernsthaften Gespräch. Ernst, seriös und innig. Es enthält die ganze Welt.
Jetzt kann ich sie nicht mehr hören. Dafür höre ich einen Mann quasseln. Auch
ihn kann ich von hier aus nicht verstehen, aber gottseidank redet er nur kurz,
denn seine platzergreifende und raumerobernde Stimme hätte fast den Nachhall
des innigen Gesprächs vorher zerstört.
Jetzt schlagen noch ein paar Türen – dann ist es still. Ein
elegisches Flugzeug kaum hörbar. Ich versuche, mir die Stimmung des Gesprächs
der Frau mit dem Kind zu vergegenwärtigen und in mir steigen Trauer und Schmerz
auf. Ich verstehe diese Trauer und den Schmerz zuerst selbst nicht ganz, aber
sie sind nicht unangenehm, es ist nichts falsch daran, sie sind angemessen, sie
entsprechen der Wahrheit, der Stellung des Menschen in dieser Welt des
verlorenen Paradieses. Das Kind, so tapfer den Anforderungen dieser Welt
gegenüber! Ich mache einen tiefen Atemzug, wie Kinder ihn nach dem Weinen
machen. …
Jetzt bin ich wieder bei Ticken und Surren angelangt.
Natürlich waren die schon die ganze Zeit seit dem Aufwachen da, aber an den
Rand des Aufmerksamkeitsfeldes gedrängt. Jetzt aber hüllen sie mich ganz ein
und erschaffen mir akustisch einen tranceartigen Schwebezustand.
Jetzt fällt mir durch meinen brillenverschwommenen Blick
eine kleine Holzfigur am Regal ins Auge. Sie stellt ein Schaf dar, das mein
Bruder in der Volksschule verfertigt und mir geschenkt hat. Da überfallen
mich heftige Trauer und heftiger Schmerz, und die haben mit meiner persönlichen
Geschichte zu tun, damit, wie ich meinen kleinen Bruder als Kind behandelt
habe.
Ich atme ein, während ich mit geschlossenen Augen den Kopf von
rechts nach links drehe, und atme in die andere Richtung aus. Ich verweile eine
zeitlang bei diesem Schmerz und in dieser Atmung. Dann beende ich diese
Betrachtung und gehe mein Tagewerk an. Ein bißchen voreilig, denn die
Erschütterung vibriert noch leise, aber deutlich in meinem Inneren.
©Peter Alois Rumpf August 2016
peteraloisrumpf@gmail.com
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