419 Was wäre gewesen, wenn...
Ich gehe heute (3.8.) runter zum Hafen. Ich will im Kiosk
dort den Kurier und die Kleine Zeitung kaufen. Normalerweise lese ich nicht
täglich Zeitungen, aber hier, im Urlaub, habe ich es mir angewöhnt und will es
nicht missen. Ich wandere also hinunter zum Hafen, die Sonne nähert sich schon
dem Untergehen, über den MP3-Player höre ich ein paar heißgeliebte Musikstücke,
von den Gitarristen John Frusciante und Omar Rodriguez Lopez komponiert und
gespielt – auf diese Art und Weise Musik zu hören ist auch etwas, was ich nur
ganz selten mache. Umso schöner ist es jetzt. Viele Menschen tummeln sich noch
an den Stränden oder flanieren schon durch den kleinen Hafenort. Ich schwebe
aber musikgestützt in meiner eigenen Welt dahin; ich nehme das Meer, den
Himmel, die Wolken, die Berge drüben, den
unspektakulär charmanten Ort, die liegenden, gehenden, wandelnden, handelnden
Menschen wahr, aber durch meine – wie kann ich sagen? - innige akustische
Abschottung fühle ich mich in meinem Innersten geschützt.
Nachdem ich die Zeitungen erworben habe, setzte ich mich auf
eine niedere Mauer am Meerufer und blättere die Kleine Zeitung durch. Da sticht
mir die Todesanzeige von Univ.Prof. K. ins Auge.
Bei diesem Universitätsprofessor habe ich im ersten
Studienjahr sowohl mein erstes Proseminar gemacht als auch meine erste
Seminararbeit geschrieben.
Ich denke an diese Zeit zurück und eine Wehmut, ja Trauer
erfaßt mich. Ich kann sie durchaus verstehen, denn dieser Professor war mir
freundlich gesonnen. Bei Meetings habe ich manchmal mit ihm geredet und sogar
zu einer Vorlesung zu einem speziellen Thema (das freilich ganz im Trend der
Zeit lag) angeregt.
Nur habe ich diese dann bloß einmal besucht, weil ich
inzwischen bereits unter die „radikalen“ - damals noch
kritisch-rationalistischen - Studenten
gefallen war und jetzt von deren Kritik beeinflußt meinte, diesen Professor
ablehnen zu müssen. Ich habe den Kontakt zu ihm aufgegeben und irgendwann bei
einer Prüfung habe ich ihn auch verbal angegriffen.
Und da kommt mir unweigerlich die Frage in den Sinn: „was
wäre gewesen, wenn...“.
Was wäre gewesen, wenn ich nicht unter diese „radikalen“
Studenten geraten wäre, sondern weiter den Professor verehrt und mein Studium
brav und fleißig weiterstudiert hätte? Hätte ich unter Anleitung des Professors
mein Spezialgebiet gefunden? Hätte ich dort Fuß gefaßt? Hätte ich begonnen,
interessante Artikel zu schreiben? Vielleicht auch mit Hilfe des Professors
veröffentlicht? Wäre daraus eine akademische Karriere geworden? Hätte er mir
geholfen, an der Uni oder in der Kirche einen Platz zu finden? (Und ich hätte -
verunsichert, weltfremd und verloren wie ich auch auf der Uni war - dringend
jemand gebraucht, der mich in diese Welt einführt.) Hätte sich daraus irgendein
tragfähiger Lebensweg, ein Beruf ergeben?
Niemand kann das wissen, aber möglich wäre es. Das glaube
ich, deshalb trauere ich beim Lesen der Todesanzeige. Ich denke, da habe ich
eine Chance verpasst, einen „Kubikzentimeter Möglichkeit“ (C. Castaneda) nicht
ergriffen. Da war ein Potential, das ich nicht entfaltet habe. Und ich habe
einen mir freundlich gesonnenen Menschen zurückgestoßen.
Meine Umgebung hat kein Verständnis für diese meine Trauer
und ich ernte, als ich darüber rede, eher Belehrung und Spott als Verständnis.
Ich stürze in Verzweiflung und verhaltene Wut und ziehe mich in mein Inneres
zurück. Mir dämmert auch, daß meine Ablehnung des Professors – sie kommt nicht
aus eigener Erfahrung und nicht aus eigener seelischer und geistiger
Entwicklung – hochmütig war, auch dann, wenn ich nach einiger Zeit zum selben
Ergebnis gekommen wäre.
Ich meine, Trauer gehört zum Menschenleben wie alles andere
auch. Und was mich betrifft: ich bin schließlich irgendwie am Abschiednehmen.
Ich muß mich doch von allen nicht erfüllten Hoffnungen und nicht angenommenen
Möglichkeiten verabschieden, wenn ich meinen Lebensabend nur irgendwie
aushalten will. Das Nicht-Erlebte verursacht dabei die größten Schmerzen.
Es ist Nacht geworden und eine leichte, angenehme Brise
kommt vom Meer her. Wenn ich das Licht abdrehe, ist der Sternenhimmel über mir
ausgebreitet. Mit Taschenlampe und Sternenkarte versuche ich, das eine oder
andere mir noch unbekannte Sternbild zu finden und mir einzuprägen. Ihr seht,
noch habe ich nicht aufgegeben.
„Was wäre gewesen, wenn...“. Das ist eine Frage, die sowohl
in psychologisierten, als auch in esoterischen Kreisen äußerst verpönt ist.
Auch in Therapien machte ich öfters die Erfahrung, daß ich in der Erzählung des
Erlebten und Verpaßten eingebremst und in eine in meinen Augen vorschnelle
Lösung, ein vorschnelles Resümee
gedrängt wurde. Und es ist richtig, daß es wenig Sinn macht, über die
getroffenen Entscheidungen herumzujammern, denn man kann sie nicht mehr ändern.
Ich fühle mich aber oft vor den Trümmern meines Lebens stehend und frage mich,
wo ich die falschen Abzweigungen genommen habe. Nicht in der Illusion, es
ändern zu können, sondern um das Geschehene zu verstehen. Gerade jemand wie
ich, mit so wenig „Ich-Substanz“ (nennen wir es einmal so – und damit meine ich
nicht das Ego), der wegen seiner Abwehrschwäche unter ständigem Bombardement
der Ansprüche, Erwartungen, Einmischungen, Übergriffen, Bearbeitungen von außen
verwirrt und meist orientierungslos, halb oder ganz bewußtlos in seine
Entscheidungen taumelt oder gestoßen wird, ich muß mir anschauen: was ist da
eigentlich passiert? Warum habe ich es so gemacht? Oder anders gemacht, oder
gar nichts gemacht? In meiner Verwirrung und Angst war ich oft gar nicht in der
Lage, überhaupt meine Alternativen zu sehen beziehungsweise die Entscheidung in
ihrer Tragweite wahrzunehmen. Sicher muß ich meine Entscheidungen und deren
Folgen akzeptieren, aber ich will wissen, begreifen, erkennen, welche
Entscheidungen ich wann, wo, in welchem Zusammenhängen, aus welcher Haltung
heraus, wegen welcher Bedürfnisse, in welche Richtung getroffen habe. Ich will
mir dessen bewußt werden. Manchmal kann ich erst jetzt wahrnehmen, was damals
eigentlich passiert ist, so groß ist die Entfremdung.
Nehmen wir zum Beispiel die Entscheidung Geige oder Gitarre.
Meine Mutter war immer sehr auf bürgerliche Erziehung bedacht, so wie sie es
verstand. Dazu gehörte auch das Erlernen eines Musikinstrumentes. Nach dem
üblichen Flötenunterricht war dann die Frage, welches Instrument kommt jetzt.
Ich wollte Gitarre lernen. Die Musiklehrerin aber redete das meinen Eltern aus.
Alle würden Gitarre lernen, es wäre wichtig, auch andere Instrumente zu
pflegen, wie etwa die Geige. Mein Vater meinte noch, Gitarre wäre ja auch so
leise. (Wir sind Anfang der Sechzigerjahre, weit draußen am Land.) Nicht, daß
meine Eltern Geige geliebt hätten, wie ja auch der Musikunterricht bloß ein Projekt war und nichts mit
Entfaltung von Begabungen oder mit der Chance, Erfahrungen zu machen oder mit
der eigenen Freude an Musik zu tun hatte.
Mich zog es zur Gitarre hin, ich war enttäuscht, daß ich
jetzt Geige lernen mußte, aber ich war nicht stark genug, mich durchzusetzen.
Und den Eltern gegenüber viel zu rücksichtsvoll, ich wollte ihnen die
Peinlichkeit ersparen, sich gegenüber der Musiklehrerin behaupten zu müssen, wo
sich möglicherweise herausgestellt hätte, daß sie das gar nicht können. Der
Geigenunterricht wurde zur Katastrophe. Die letzte Geigenlehrerin, die ich
hatte, war eine aus Ostpreußen vertriebene Adelige, der man mit vier Jahren die
Geige wegsperren mußte, damit sie auch etwas anderes machte als Geigenspielen. Sie hatte all ihren Besitz und Vermögen verloren und mußte jetzt für ihren Lebensunterhalt Geigenunterricht geben. Sie hatte kein Verständnis dafür, wie ich mich abquälte; ihre manchmal
offensichtliche, sonst aber unterschwellige Wut war immer spürbar. Oft ging ich
weinend in den Geigenunterricht. (Eines verdanke ich dem Geigenunterricht: ich habe Bela Bartok kennen gelernt.)
Eine kleine Episode noch dazu: Wir waren – ungefähr zur
Anfangszeit meines Geigenunterrichts - als Familie einmal bei unseren
ehemaligen Wohnungsvermietern in Admont auf Besuch; der Mann gab offensichtlich Gitarrenunterricht, denn
wir hören ein paar junge Burschen in einem Zimmer Gitarre spielen, und zwar
laut! Das war für mich wie auch für meinen Vater die erste Begegnung mit der
E-Gitarre. Mein Vater fragte den Mann dort, was denn das sei. Und der erklärte
es ihm und fügte hinzu, daß das nichts für ihre Generation sei, sondern für die
Jungen.
Ich bin so aufgewachsen, daß man gehorsam ist und unter
Erwachsenen nur redet, wenn man gefragt wird, und erst beim Hinausgehen sagte
ich schüchtern zum Vater, daß Gitarre also doch nicht nur leise sein muß. Aber
er verstand gar nicht, worauf ich anspielte; was er damals bei der
Geigenentscheidung zu mir gesagt hatte, hatte er längst vergessen. Ich hatte
kurz eine Chance gesehen, doch noch zur Gitarre zu kommen, aber sie war
schneller vorbei, als ich reagieren konnte. Und möglicherweise hatte ich gar
keine Chance.
Aber: was wäre gewesen, wenn ich Gitarre gelernt hätte? Ich
glaube ja nicht, daß ich ein guter Gitarrist geworden wäre – denn dann hätte
ich wahrscheinlich nicht nachgegeben und man hätte mir die Gitarre wegsperren
müssen -, aber spätestens mit dreizehn, als ich die Popmusik für mich
entdeckte, wäre ein anderes Feuer in mein Musikspielen gekommen. Vielleicht
hätte ich mit irgendwelchen anderen Burschen eine Band gegründet, wie es damals
viele gab, mit unterschiedlichen Ablaufdaten, und mein Standing unter den
Jugendlichen wäre ein anderes gewesen. Ich hätte vielleicht unter dem „Schutz“
der Gitarre meine Soziopathie etwas abbauen können und eine normalere
Entwicklung eingeschlagen. Vielleicht, niemand kann das wissen. Es hätte auf
diesem Weg auch alles mögliche schief gehen können bis hin zum Untergang als
Junkie. Das sind natürlich alles Spekulationen, und ich verstehe, daß man
solche Spekulationen als sinnlos einstuft, aber für mich ist es wichtig, zu
sehen und zu begreifen, daß die Entscheidung Gitarre oder Geige eine
Lebensentscheidung mit unabänderlichen Konsequenzen war (die ich mir aus der
Hand habe nehmen lassen), und nicht nur – „naja, nehmen wir halt dies oder
das“.
Und um mich von diesen nicht verwirklichten Lebensträumen
verabschieden zu können, muß das ganze Paket auf den Tisch; ich muß mich von allen
Möglichkeiten verabschieden. Deshalb muß ich das „was wäre gewesen, wenn“
durchspielen.
Und wie war das bei meinem Schwenk gegen Prof. K.? Ich kann
mich nicht mehr an alles erinnern, vielleicht waren das auch drei oder vier
Szenen, bis es endgültig soweit war, aber die Schlüsselszene weiß ich noch
genau: am Tag meines ersten Referates an der Uni, im Seminar dieses Professors,
hatte auch einer dieser älteren, „radikalen“ Studenten sein Referat zu halten
und Prof. K. ließ sich wegen Terminschwierigkeiten entschuldigen und sich von
seinem Assistenten vertreten. Dieser Student war an der Uni bekannt für seine
kritische Haltung und sein furchtloses Auftreten Autoritäten gegenüber. Er hat
dann meinem Beitrag applaudiert und nachher zu mir gesagt, daß das ein tolles
Referat war und er es mir „ehrlich gesagt“ gar nicht zugetraut hätte. Und: daß
der Prof. K. ein Feigling sei, weil er sich vor der Diskussion mit ihm fürchte
und sich deshalb am Tag seines Referates nicht hertraue.
Um es kurz zu sagen: ich bin sofort übergelaufen. Von der
väterlichen Autorität des Professors zur „antiautoritären“ Autorität des großen
Bruders. (großer Bruder? Anführer der Rebellenbande? Genau weiß ich es nicht,
wie ich dieses Verhältnis bestimmen soll.) Ich habe nicht mehr hinterfragt, ob
die Behauptung des Studenten überhaupt stimmt und ich habe auch keine Argumente
für und wider abgewogen.
Jetzt, nach einigen Tagen Abstand, es fällt mir immer noch
nicht leicht, meine Erfahrungen von damals richtig einzuordnen. Dieser Student
hat mich wirklich sehr beeindruckt und er war auch eine ungewöhnliche,
faszinierende und wirklich starke Persönlichkeit mit oft, aber nicht immer
unglaublichem Gespür für echt und unecht und Verlogenheit. Überhaupt, diese
Gruppe von Studenten, alle älter als ich, die ich hier etwas hilflos als
„radikale“ Studenten bezeichne, das war schon eine Ansammlung interessanter
Persönlichkeiten. Wir sind in den Jahren ab 1973, die Ausläufer der
Achtundsechziger waren noch deutlich spürbar, aber diese lose Studentenrunde,
hauptsächlich, aber nicht nur Männer, die sich oft unabgesprochen in der Mensa
traf, mehr informell als organisiert, war eher ein Freundeskreis und einige von ihnen in mancher
Hinsicht gar keine typischen Achtundsechziger. Der Kern der Ursprungsgruppe war
geschult im kritischen Rationalismus und keine echten Marxisten. Einer von
ihnen zum Beispiel konnte Hölderlin auswendig rezitieren und war ein
klandestiner Hölderlinexperte. Der konnte auch fließend Latein und
Altgriechisch lesen, alle Klassiker im Original, ein ungewöhnlicher,
hochgebildeter, hinter der manchmal hervorgekehrten „kritischen“ Maske ein
äußerst höflicher, zurückhaltender, sensibler Mensch von gepflegtesten
Umgangsformen, der mit seinem Wissen und Können nie angegeben hat. Ein anderer
war von einer geradezu „barocken“ geistigen Breite, unglaublich belesen, der von katholoiden
Sinnhorizonten bis zum romantischen Anarchismus alles unter seinen Hut brachte.
Alle Frauen dieser Truppe waren Vorkämpferinnen des Feminismus, was viele
Diskussionen und Streitgespräche auslöste. Mit ein paar dieser losen Gruppe
habe ich zum Beispiel außerhalb des Unibetriebes einiges von Wittgenstein
durchstudiert, nur für uns, aus eigenem Interesse. Wir haben immer wieder
interessante Diskussionen und Gespräche (das ist nicht das gleiche!) geführt und ich solchen beigewohnt und ich habe dabei viele Denkschulen und Theorien kennengelernt. Muß ich meine
damalige Entscheidung doch nicht bereuen? Es gab auch tragische Figuren, aber
viele von diesen Leuten wurden später Universitätsprofessoren oder spielten
dann in regionalen oder internationalen „Ambientes“ wichtige Rollen.
Momentan bin ich von der Stimmung getragen, daß mir einige
gute Texte geglückt sind und das würde mir für ein gelungenes Leben genügen.
Deshalb muß ich jetzt die ganzen vorbereitenden Umwege nicht verdammen
und kann Prof. K. eine gute Reise in die Unendlichkeit wünschen. Und den
bereits Verstorbenen „meiner“ Studentenrunde auch. Und auch meinen Flöten-,
Geigen- und potentiellen Gitarrelehrerinnen.
Und ich weiß, ich muß meine Entscheidungen und ihre
Konsequenzen akzeptieren.
©Peter Alois Rumpf August
2016 peteraloisrumpf@gmail.com
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