Montag, 15. August 2016

419 Was wäre gewesen, wenn...

Ich gehe heute (3.8.) runter zum Hafen. Ich will im Kiosk dort den Kurier und die Kleine Zeitung kaufen. Normalerweise lese ich nicht täglich Zeitungen, aber hier, im Urlaub, habe ich es mir angewöhnt und will es nicht missen. Ich wandere also hinunter zum Hafen, die Sonne nähert sich schon dem Untergehen, über den MP3-Player höre ich ein paar heißgeliebte Musikstücke, von den Gitarristen John Frusciante und Omar Rodriguez Lopez komponiert und gespielt – auf diese Art und Weise Musik zu hören ist auch etwas, was ich nur ganz selten mache. Umso schöner ist es jetzt. Viele Menschen tummeln sich noch an den Stränden oder flanieren schon durch den kleinen Hafenort. Ich schwebe aber musikgestützt in meiner eigenen Welt dahin; ich nehme das Meer, den Himmel, die Wolken, die Berge drüben, den  unspektakulär charmanten Ort, die liegenden, gehenden, wandelnden, handelnden Menschen wahr, aber durch meine – wie kann ich sagen? - innige akustische Abschottung fühle ich mich in meinem Innersten geschützt.

Nachdem ich die Zeitungen erworben habe, setzte ich mich auf eine niedere Mauer am Meerufer und blättere die Kleine Zeitung durch. Da sticht mir die Todesanzeige von Univ.Prof. K. ins Auge.
Bei diesem Universitätsprofessor habe ich im ersten Studienjahr sowohl mein erstes Proseminar gemacht als auch meine erste Seminararbeit geschrieben.
Ich denke an diese Zeit zurück und eine Wehmut, ja Trauer erfaßt mich. Ich kann sie durchaus verstehen, denn dieser Professor war mir freundlich gesonnen. Bei Meetings habe ich manchmal mit ihm geredet und sogar zu einer Vorlesung zu einem speziellen Thema (das freilich ganz im Trend der Zeit lag) angeregt.
Nur habe ich diese dann bloß einmal besucht, weil ich inzwischen bereits unter die „radikalen“ - damals noch kritisch-rationalistischen -  Studenten gefallen war und jetzt von deren Kritik beeinflußt meinte, diesen Professor ablehnen zu müssen. Ich habe den Kontakt zu ihm aufgegeben und irgendwann bei einer Prüfung habe ich ihn auch verbal angegriffen.

Und da kommt mir unweigerlich die Frage in den Sinn: „was wäre gewesen, wenn...“.
Was wäre gewesen, wenn ich nicht unter diese „radikalen“ Studenten geraten wäre, sondern weiter den Professor verehrt und mein Studium brav und fleißig weiterstudiert hätte? Hätte ich unter Anleitung des Professors mein Spezialgebiet gefunden? Hätte ich dort Fuß gefaßt? Hätte ich begonnen, interessante Artikel zu schreiben? Vielleicht auch mit Hilfe des Professors veröffentlicht? Wäre daraus eine akademische Karriere geworden? Hätte er mir geholfen, an der Uni oder in der Kirche einen Platz zu finden? (Und ich hätte - verunsichert, weltfremd und verloren wie ich auch auf der Uni war - dringend jemand gebraucht, der mich in diese Welt einführt.) Hätte sich daraus irgendein tragfähiger Lebensweg, ein Beruf ergeben?

Niemand kann das wissen, aber möglich wäre es. Das glaube ich, deshalb trauere ich beim Lesen der Todesanzeige. Ich denke, da habe ich eine Chance verpasst, einen „Kubikzentimeter Möglichkeit“ (C. Castaneda) nicht ergriffen. Da war ein Potential, das ich nicht entfaltet habe. Und ich habe einen mir freundlich gesonnenen Menschen zurückgestoßen.

Meine Umgebung hat kein Verständnis für diese meine Trauer und ich ernte, als ich darüber rede, eher Belehrung und Spott als Verständnis. Ich stürze in Verzweiflung und verhaltene Wut und ziehe mich in mein Inneres zurück. Mir dämmert auch, daß meine Ablehnung des Professors – sie kommt nicht aus eigener Erfahrung und nicht aus eigener seelischer und geistiger Entwicklung – hochmütig war, auch dann, wenn ich nach einiger Zeit zum selben Ergebnis gekommen wäre.

Ich meine, Trauer gehört zum Menschenleben wie alles andere auch. Und was mich betrifft: ich bin schließlich irgendwie am Abschiednehmen. Ich muß mich doch von allen nicht erfüllten Hoffnungen und nicht angenommenen Möglichkeiten verabschieden, wenn ich meinen Lebensabend nur irgendwie aushalten will. Das Nicht-Erlebte verursacht dabei die größten Schmerzen.



Es ist Nacht geworden und eine leichte, angenehme Brise kommt vom Meer her. Wenn ich das Licht abdrehe, ist der Sternenhimmel über mir ausgebreitet. Mit Taschenlampe und Sternenkarte versuche ich, das eine oder andere mir noch unbekannte Sternbild zu finden und mir einzuprägen. Ihr seht, noch habe ich nicht aufgegeben.





„Was wäre gewesen, wenn...“. Das ist eine Frage, die sowohl in psychologisierten, als auch in esoterischen Kreisen äußerst verpönt ist. Auch in Therapien machte ich öfters die Erfahrung, daß ich in der Erzählung des Erlebten und Verpaßten eingebremst und in eine in meinen Augen vorschnelle Lösung, ein vorschnelles Resümee  gedrängt wurde. Und es ist richtig, daß es wenig Sinn macht, über die getroffenen Entscheidungen herumzujammern, denn man kann sie nicht mehr ändern. Ich fühle mich aber oft vor den Trümmern meines Lebens stehend und frage mich, wo ich die falschen Abzweigungen genommen habe. Nicht in der Illusion, es ändern zu können, sondern um das Geschehene zu verstehen. Gerade jemand wie ich, mit so wenig „Ich-Substanz“ (nennen wir es einmal so – und damit meine ich nicht das Ego), der wegen seiner Abwehrschwäche unter ständigem Bombardement der Ansprüche, Erwartungen, Einmischungen, Übergriffen, Bearbeitungen von außen verwirrt und meist orientierungslos, halb oder ganz bewußtlos in seine Entscheidungen taumelt oder gestoßen wird, ich muß mir anschauen: was ist da eigentlich passiert? Warum habe ich es so gemacht? Oder anders gemacht, oder gar nichts gemacht? In meiner Verwirrung und Angst war ich oft gar nicht in der Lage, überhaupt meine Alternativen zu sehen beziehungsweise die Entscheidung in ihrer Tragweite wahrzunehmen. Sicher muß ich meine Entscheidungen und deren Folgen akzeptieren, aber ich will wissen, begreifen, erkennen, welche Entscheidungen ich wann, wo, in welchem Zusammenhängen, aus welcher Haltung heraus, wegen welcher Bedürfnisse, in welche Richtung getroffen habe. Ich will mir dessen bewußt werden. Manchmal kann ich erst jetzt wahrnehmen, was damals eigentlich passiert ist, so groß ist die Entfremdung.

Nehmen wir zum Beispiel die Entscheidung Geige oder Gitarre. Meine Mutter war immer sehr auf bürgerliche Erziehung bedacht, so wie sie es verstand. Dazu gehörte auch das Erlernen eines Musikinstrumentes. Nach dem üblichen Flötenunterricht war dann die Frage, welches Instrument kommt jetzt. Ich wollte Gitarre lernen. Die Musiklehrerin aber redete das meinen Eltern aus. Alle würden Gitarre lernen, es wäre wichtig, auch andere Instrumente zu pflegen, wie etwa die Geige. Mein Vater meinte noch, Gitarre wäre ja auch so leise. (Wir sind Anfang der Sechzigerjahre, weit draußen am Land.) Nicht, daß meine Eltern Geige geliebt hätten, wie ja auch der Musikunterricht  bloß ein Projekt war und nichts mit Entfaltung von Begabungen oder mit der Chance, Erfahrungen zu machen oder mit der eigenen Freude an Musik zu tun hatte.
Mich zog es zur Gitarre hin, ich war enttäuscht, daß ich jetzt Geige lernen mußte, aber ich war nicht stark genug, mich durchzusetzen. Und den Eltern gegenüber viel zu rücksichtsvoll, ich wollte ihnen die Peinlichkeit ersparen, sich gegenüber der Musiklehrerin behaupten zu müssen, wo sich möglicherweise herausgestellt hätte, daß sie das gar nicht können. Der Geigenunterricht wurde zur Katastrophe. Die letzte Geigenlehrerin, die ich hatte, war eine aus Ostpreußen vertriebene Adelige, der man mit vier Jahren die Geige wegsperren mußte, damit sie auch etwas anderes machte als Geigenspielen. Sie hatte all ihren Besitz und Vermögen verloren und mußte jetzt für ihren Lebensunterhalt Geigenunterricht geben. Sie hatte kein Verständnis dafür, wie ich mich abquälte; ihre manchmal offensichtliche, sonst aber unterschwellige Wut war immer spürbar. Oft ging ich weinend in den Geigenunterricht. (Eines verdanke ich dem Geigenunterricht: ich habe Bela Bartok kennen gelernt.)
Eine kleine Episode noch dazu: Wir waren – ungefähr zur Anfangszeit meines Geigenunterrichts - als Familie einmal bei unseren ehemaligen Wohnungsvermietern in Admont auf Besuch; der Mann  gab offensichtlich Gitarrenunterricht, denn wir hören ein paar junge Burschen in einem Zimmer Gitarre spielen, und zwar laut! Das war für mich wie auch für meinen Vater die erste Begegnung mit der E-Gitarre. Mein Vater fragte den Mann dort, was denn das sei. Und der erklärte es ihm und fügte hinzu, daß das nichts für ihre Generation sei, sondern für die Jungen.
Ich bin so aufgewachsen, daß man gehorsam ist und unter Erwachsenen nur redet, wenn man gefragt wird, und erst beim Hinausgehen sagte ich schüchtern zum Vater, daß Gitarre also doch nicht nur leise sein muß. Aber er verstand gar nicht, worauf ich anspielte; was er damals bei der Geigenentscheidung zu mir gesagt hatte, hatte er längst vergessen. Ich hatte kurz eine Chance gesehen, doch noch zur Gitarre zu kommen, aber sie war schneller vorbei, als ich reagieren konnte. Und möglicherweise hatte ich gar keine Chance.
Aber: was wäre gewesen, wenn ich Gitarre gelernt hätte? Ich glaube ja nicht, daß ich ein guter Gitarrist geworden wäre – denn dann hätte ich wahrscheinlich nicht nachgegeben und man hätte mir die Gitarre wegsperren müssen -, aber spätestens mit dreizehn, als ich die Popmusik für mich entdeckte, wäre ein anderes Feuer in mein Musikspielen gekommen. Vielleicht hätte ich mit irgendwelchen anderen Burschen eine Band gegründet, wie es damals viele gab, mit unterschiedlichen Ablaufdaten, und mein Standing unter den Jugendlichen wäre ein anderes gewesen. Ich hätte vielleicht unter dem „Schutz“ der Gitarre meine Soziopathie etwas abbauen können und eine normalere Entwicklung eingeschlagen. Vielleicht, niemand kann das wissen. Es hätte auf diesem Weg auch alles mögliche schief gehen können bis hin zum Untergang als Junkie. Das sind natürlich alles Spekulationen, und ich verstehe, daß man solche Spekulationen als sinnlos einstuft, aber für mich ist es wichtig, zu sehen und zu begreifen, daß die Entscheidung Gitarre oder Geige eine Lebensentscheidung mit unabänderlichen Konsequenzen war (die ich mir aus der Hand habe nehmen lassen), und nicht nur – „naja, nehmen wir halt dies oder das“.
Und um mich von diesen nicht verwirklichten Lebensträumen verabschieden zu können, muß das ganze Paket auf den Tisch; ich muß mich von allen Möglichkeiten verabschieden. Deshalb muß ich das „was wäre gewesen, wenn“ durchspielen.

Und wie war das bei meinem Schwenk gegen Prof. K.? Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern, vielleicht waren das auch drei oder vier Szenen, bis es endgültig soweit war, aber die Schlüsselszene weiß ich noch genau: am Tag meines ersten Referates an der Uni, im Seminar dieses Professors, hatte auch einer dieser älteren, „radikalen“ Studenten sein Referat zu halten und Prof. K. ließ sich wegen Terminschwierigkeiten entschuldigen und sich von seinem Assistenten vertreten. Dieser Student war an der Uni bekannt für seine kritische Haltung und sein furchtloses Auftreten Autoritäten gegenüber. Er hat dann meinem Beitrag applaudiert und nachher zu mir gesagt, daß das ein tolles Referat war und er es mir „ehrlich gesagt“ gar nicht zugetraut hätte. Und: daß der Prof. K. ein Feigling sei, weil er sich vor der Diskussion mit ihm fürchte und sich deshalb am Tag seines Referates nicht hertraue.

Um es kurz zu sagen: ich bin sofort übergelaufen. Von der väterlichen Autorität des Professors zur „antiautoritären“ Autorität des großen Bruders. (großer Bruder? Anführer der Rebellenbande? Genau weiß ich es nicht, wie ich dieses Verhältnis bestimmen soll.) Ich habe nicht mehr hinterfragt, ob die Behauptung des Studenten überhaupt stimmt und ich habe auch keine Argumente für und wider abgewogen.





Jetzt, nach einigen Tagen Abstand, es fällt mir immer noch nicht leicht, meine Erfahrungen von damals richtig einzuordnen. Dieser Student hat mich wirklich sehr beeindruckt und er war auch eine ungewöhnliche, faszinierende und wirklich starke Persönlichkeit mit oft, aber nicht immer unglaublichem Gespür für echt und unecht und Verlogenheit. Überhaupt, diese Gruppe von Studenten, alle älter als ich, die ich hier etwas hilflos als „radikale“ Studenten bezeichne, das war schon eine Ansammlung interessanter Persönlichkeiten. Wir sind in den Jahren ab 1973, die Ausläufer der Achtundsechziger waren noch deutlich spürbar, aber diese lose Studentenrunde, hauptsächlich, aber nicht nur Männer, die sich oft unabgesprochen in der Mensa traf, mehr informell als organisiert, war eher ein  Freundeskreis und einige von ihnen in mancher Hinsicht gar keine typischen Achtundsechziger. Der Kern der Ursprungsgruppe war geschult im kritischen Rationalismus und keine echten Marxisten. Einer von ihnen zum Beispiel konnte Hölderlin auswendig rezitieren und war ein klandestiner Hölderlinexperte. Der konnte auch fließend Latein und Altgriechisch lesen, alle Klassiker im Original, ein ungewöhnlicher, hochgebildeter, hinter der manchmal hervorgekehrten „kritischen“ Maske ein äußerst höflicher, zurückhaltender, sensibler Mensch von gepflegtesten Umgangsformen, der mit seinem Wissen und Können nie angegeben hat. Ein anderer war von einer geradezu „barocken“ geistigen Breite, unglaublich belesen, der von katholoiden Sinnhorizonten bis zum romantischen Anarchismus alles unter seinen Hut brachte. Alle Frauen dieser Truppe waren Vorkämpferinnen des Feminismus, was viele Diskussionen und Streitgespräche auslöste. Mit ein paar dieser losen Gruppe habe ich zum Beispiel außerhalb des Unibetriebes einiges von Wittgenstein durchstudiert, nur für uns, aus eigenem Interesse. Wir haben immer wieder interessante Diskussionen und Gespräche (das ist nicht das gleiche!) geführt und ich solchen beigewohnt und ich habe dabei viele Denkschulen und Theorien kennengelernt. Muß ich meine damalige Entscheidung doch nicht bereuen? Es gab auch tragische Figuren, aber viele von diesen Leuten wurden später Universitätsprofessoren oder spielten dann in regionalen oder internationalen „Ambientes“ wichtige Rollen.

Momentan bin ich von der Stimmung getragen, daß mir einige gute Texte geglückt sind und das würde mir für ein gelungenes Leben genügen. Deshalb muß ich jetzt die ganzen vorbereitenden Umwege nicht verdammen und kann Prof. K. eine gute Reise in die Unendlichkeit wünschen. Und den bereits Verstorbenen „meiner“ Studentenrunde auch. Und auch meinen Flöten-, Geigen- und potentiellen Gitarrelehrerinnen.

Und ich weiß, ich muß meine Entscheidungen und ihre Konsequenzen akzeptieren.
















©Peter Alois Rumpf   August 2016   peteraloisrumpf@gmail.com

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