Freitag, 6. Oktober 2023

3419 Die Albertina-Sphinxen

 



Albertina bei den fetten, großkopferten Sphinxen. Das heißt also: ich sitze in der Fensternische dort, wo alle vorbeigehen. Mein Durchmarsch war flott und photoreich. Was soll ich sagen? Der Mensch … auf allen Vieren etc. … . Ich sitze hier zu nahe an der „Straße“. Um genußvoll gaffen zu können, bräuchte ich mehr Abstand. Auf meiner Armbanduhr ist es immer drei vor zwölf (die geht gar nicht; heute trage ich wieder einmal all meinen Schmuck). Die Passanten erschrecken, wenn sie mich in der Fensternische entdecken. Michelangelo interessiert mich überhaupt nicht. Überhaupt die Rennaissance. Im Barock kann es wieder interessanter werden. Kann! Muß nicht. Ich sollte den Ort wechseln. Aber ich sitze gerade recht gut. Ich bin nicht der einzige hier, der in den Riesenspiegeln Selfies macht. Nun geht niemand vorbei und ich atme tief auf. Musik hören? Soll ich mir die musikalischen Stöpseln in die Ohren stecken? John Frusciante und Omar Rodriguez-Lopez? Ja. Ein wenig lausche ich vorher noch auf das hallende Stimmengewirr. Jetzt starte ich die wunderbare Musik. Ich rücke in der Fensternische ganz auf die linke Seite, um nicht die ganze Bank zu besetzen. Ich komme mir nun ein wenig wie auf einem Armen-Sünder-Bankerl vor. Ein armer Sünder in feudalem Ambiente. Einfach nur vom Platz in der Mitte auf die Seite gerückt – und schon hat sich die Welt komplett verändert, komplett! Lautes Geschrei übertönt die schöne Musik. Eigentlich halte ich meinen Blick nun gesenkt und schaue nur in mein aufgeschlagenes Notizbuch. Ich bin gschamig, weil sich jetzt – aber nur kurz – eine Frau ganz rechts auf die Bank gesetzt hat. Jünglinge gehen vorbei: sie könnten aus der Zeit des ersten Weltkrieges kommen. Die Musik macht eine lange Pause. Mit diesem akustischen Puffer kann ich hier bei den Sphinxen sitzen bleiben. Leichtfüßige junge Frauen hüpfen die Stiegen hinunter. Spieglein, Spieglein an der Wand, ich trage ein Alt-Proleten-Gewand (Jeans, eine dieser unmöglichen ärmellosen Jacken mit den vielen Taschen). Dreiteiliger Anzug, das wär’s! Meine shebby Elegance aus den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts (aber damals war es nicht so heiß). Selbstbewußte Männer in den besten Jahren kommen die Stufen herunter ohne sich dabei etwas zu vergeben. (Ich vergebe mir auch nichts.) Manche Miniröcke sind unglaublich (kurz). Ich krümme mich an die Nischenwand gelehnt und mir kommen die Tränen (wenn ich mich so im Spiegel gegenüber sehe). Die Tränen sind gar nicht gekommen, sie haben sich nur angedeutet. Was kann ich tun? Ich bleibe sitzen, die Gitarren jaulen so schön. Zum ersten Mal – und ich bin schon oft hier gesessen – fällt mir dieses Gesichtsrelief oben zwischen den zwei verspiegelten Fensterbögen auf. Unheimlich, dieses Gesicht; da können auch die Blätterranken rundherum nichts daran ändern. Im ersten Moment dachte ich, es wäre Medusa, deren Blick einem das Blut gefrieren läßt und einen versteinert. Dann kam mir vor, das Gesicht hätte eine Ähnlichkeit mit dem meiner Mutter. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob dieses Gesicht überhaupt weiblich ist. Doch eher ein keuscher, romantischer Neunzehntesjahrhundertjüngling mit lockigem Haar? Momentan ziehen an mir, recte den Sphinxen ganze Karawanen vorbei. Ein Mann lächelt glücklich in sein Handy. Selfie mit Sphinx (Dreiergruppe; ein Mann, zwei Frauen; möglicherweise Mutter, Sohn, Freundin). Ich werde mich jetzt von der hart gewordenen Holzbank erheben und weitergehen; die Musik ist feierlich genug zum Schreiten. Immer wenn ich aufstehe, bin ich ein alter Mann. Und die Maske an der Wand ist doch weiblich – ich bin jetzt näher dran.

(6.10.2023)

Peter Alois Rumpf Oktober 2023 peteraloisrumpf@gmail.com

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