Langsam werde ich – während ich hier in Graz auf die Pizza
warte – vom alkoholfreien Bier betrunken. Am Bahnhof. Eine richtige Alter-Mann-Reise
mit dem Zug. Auch meine Erwartungen sind die eines alten Mannes. Und glücklich,
dass ich mich ein bißchen rühren kann (Klimabonus).
Ein ganzer Haufen Jugendlicher – ich nehme an eine
Schulklasse – spielt im Volksgarten (Graz!) „Zimmer-Küche-Kabinett“. Und in
einem anderen Winkel duftet, riecht, stinkt es nach Hanf. Es ist so zirka drei
Uhr nachmittags.
Es ist laut hier, aber vom Rauschen der Mur. Wild und
wunderbar übertönt sie den Straßenlärm über mir und am anderen Ufer problemlos,
spielend, fast völlig, nur ab und zu ist das Gasgeben eines Lastkraftwagens wie
von Ferne und komplett gedämpft zu vernehmen. Die Mur ist ein ordentlicher
Fluß! (auf diese Aussage hat sie sicherlich schon lange gewartet.) Nur auf der
Fußgänger- und Radfahrerbrücke kracht es noch lauter, wenn sie frisch betreten
oder befahren wird.
Beeindruckendes Glockenspiel am Mariahilferplatz (Graz!);
fast zehn Minuten lang. Und ein vierstrahliger Springbrunnen direkt aus dem
Boden heraus (Heiligste Dreifaltigkeit und Maria? Weil ein Strahl ist zwar so
stark wie der Vaterstrahl, aber viel kleiner).
Die Vernissage.
Und schon im Zug nach Hause. Das ist enttäuschend. Ich
dachte, ich könnte Freunde treffen. In Graz bin ich auch nichts mehr und die
Hotels – so behaupten sie – sind voll. Viel Lärm um wenig. Gut. Nächtliche
Zugfahrt und nicht einmal ein Fensterplatz. Die Silhouetten der Bäume, Hügel
und Berglein kann ich ahnen. Nicht einmal meine Visage spiegelt sich g'scheit
im gangseitigen Abteilfenster, da bemustert. „Gar nichts“ steht auf meinem
T-Shirt unter meinem Hemd und meint mich. Am selben Tag hin und zurück – das
geht meiner Seele eindeutig viel zu schnell. Was mach ich mit dem angebrochenen
Abend? Zug fahren! Was sonst! Ich fürchte mich vor dem Ankommen. Ich bin noch
nicht bereit dafür. Vielleicht zermürbt mich die lange Zugfahrt (So lang ist
sie auch wieder nicht). Ich habe mich ganz umsonst aufgebrezelt; Schmuck und
so. Gottseidank ist es sich mit den Zöpfen nicht ausgegangen! Aber wer weiß?
Vielleicht hätten die den Umschwung gebracht?
Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der schönste
Coupéplafond im Land. Slowenisches Design, nicht so schlecht. Nur die
gutgemeinte Gangfensterbemusterung stört mich, weil ich nicht hinausschauen
kann. Der Zug jagt dahin, Richtung ewige Jagdgründe. Der Zug beschleunigt. Wo
immer ich hingerast werde: ich möchte sehen. Ich hasse Blindflug. Das
Vibrieren, Rütteln und Zittern der Geschwindigkeit lassen meinen Pilotstift
verrutschen.
Waren die Hotels mitten in der Woche wirklich ausgebucht? Oder
hatten die alle etwas gegen mich? Wirke ich schon so heruntergekommen? Ich bin
ja ein Dalit. Dabei habe ich mich am Morgen eh geduscht und frisch mich
bekleidet. Oder wollen die ihre Gäste vorher noch durchchecken? Dedektivische
Untersuchung und polizeiliches Leumundzeugnis abgefragt und Bankkonto?
Natürlich illegal. Die richten es sich. Oder hätte ich den Rezeptionisten einen
Hunderter rüberschieben müssen? Ansage Bruck an der Mur. Aus Frust ins
Zugrestaurant? Geld rausschmeißen? Als Konsument bist ein bisserl was.
Offiziell gibt es bei uns keine Dalits (Und die Minoriten sind es nicht mehr
wirklich). Austesten. Und? Genug gejammert? Genug gejammert! Genug
Selbstmitleid und Selbstüberschätzung? Genug Selbstmitleid und
Selbstüberschätzung! Genug der haltlosen Unterstellungen und boshaften
Projektionen? Genug der haltlosen Unterstellungen und boshaften Projektionen!
Auf ins Restaurant! Offiziell gibt es bei uns keine Dalits. Lassen wir es
darauf ankommen.
Im Zugrestaurant sticht mich plötzlich der rechte Mittelfinger
– was immer das zu bedeuten hat. Und es brummt, scheppert und vibriert. Das
zweite alkoholfreie Bier des Tages wird mich niedermachen. So schlecht schaue
ich in der Fensterspiegelung nicht aus, jedenfalls recht intellektuell mit der
dickrandigen Brille. Ich mache ein Photo von meiner Spiegelung. Photo gemacht.
Gestärkt von Frankfurter mit Senf und Semmel blicke ich selbstbewußter in die
Finternis, die am Fenster vorbeirast. Finsternis mit gelegentlichen
Lichtpunkten überlagert von Spiegelungen auf der Fensterscheibe. Wir sind schon
in Mürzzuschlag. Als Zuschlag gibt es noch Kapučino – wir sind in einem
slowenischen Speisewagen. „Zimmer, Küche, Kabinett“ und „Der Kaiser schickt
Soldaten aus“ - den Unterschied zwischen den Spielen habe ich vergessen. Der
Kaffee schmeckt – wie im Zug zu erwarten – nicht gut. Der Zug fängt schon
leicht zu keuchen an: bergauf auf den Semmering. Ich gebe Zucker in den Kaffee,
was ich seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht habe. In dubio pro reo. Übrigens:
mein Kreuz hat mich den ganzen Tag schon sekkiert (bin ich froh, dass bei
Gericht noch ein Kruzifix dasteht. Steht das noch dort?). Ich zahle und gehe
zurück zu meinem Platz, wenn er noch da ist.
Mein übermäßiges Trinkgeld. Womit ich den Kellner in
Nachhinein besteche, dass er mir nichts antut und so tut, als wäre ich kein
Dalit, sondern ein normaler Gast. Auch dann gebe ich es, wenn er mich über den
Tisch gezogen hätte oder sonstwie übervorteilt hätte (zB beim Kaffeepulver
gespart), egal, wenn ich es überhaupt bemerkt hätte. Aber dafür sitze ich jetzt
in einem leere Coupé am Fenster, werde gleich das Licht abdrehen und in die
lichtdurchbrochene Finsternis starren. Amen.
Übrigens: wenn Grazer, vor allem aber Grazerinnen
„Keplerstraße“ sagen, klingt das wie keppeln. Shame on you, Graz! Ich sehe
schwach beleuchtete Nebel draußen. Muß kurz vor Wiener Neustadt sein. Auch die
näheren Straßenlampen halten sich einen Lichthof.
Der Zug rumpelt sich in den Bahnhof und zum Halt ein. Im
Gegenzug ist Licht. Auch der steht jetzt. Er fährt gen Slowenien. Nein, er
kommt aus Prag und fährt nach Graz, wie ich es bei seiner Abfahrt derlesen
kann. Die drüben haben das gleiche Abteildesign und fahren gar nicht nach
Slowenien? Ich weiß es aber, dass das slowenische Waggons sind. Auf in die
Maria-Theresianischen Föhrenwälder; wir fahren wieder. Mein Kopf wackelt schon
willenlos im Fahrtenrhythmus. Dunkle Baumsilhouetten, kaum mehr Licht – außer
das gespiegelte Ganglicht. Und der Zug fährt durch die Nacht, durch die (nicht
ganz so) fremde, dunkle Nacht … die Nacht meiner Seele dauert schon verdammt
lang. Im rüttelnden schüttelnden Zug im Dunkeln schreiben ist auch nicht so
leicht! (So, jetzt wißt ihr es.) Bin neugierig, ob ich meine Handschrift morgen
überhaupt lesen kann. Licht am dunklen Felsen der Ökonomie.
Bleibt er stehen? Er bremst so stark herunter, dass die
Coupétür aufspringt. Entschlossen schließe ich sie wieder. Guntramsdorf.
Unsympathischer Name? Jetzt bremst er wieder.
„Wer nie sage“ - das ganze Ergebnis dieser Grazreise zur
Vernissage „de propaganda fide“ im Kultum bei den Minoriten (ordo fratrum
minorum conventualium. Orden der konventualen Minderbrüder). Oder soll ich
„Grad des!“ nehmen? (bekomme ich eine Kopie von Jandls „Aus der Fremde“ zum
privaten Gebrauch? Meine diesbezügliche Anfrage bei der Österreichischen
Mediathek ist seit Wochen unbeantwortet. Muß das in Wien/Dunaj/Videň dann
wieder urgieren (urgieren - geschwollene Sprache, rüttle und rump(f)le mich
auch wieder in den Normalzustand ein)).
„Bah! Den!“ - liegt auch auf der Strecke (klar, wenn die
Angebetete so reagiert!).
Wo sind wir denn? Die riesigen Bauten, die vorbeigezogen
sind, waren mir ganz fremd. Was! Schon Meidling? („Vermeidling“) (Maid Lingg -
schöne Grüße an Simone) – ich pack mein Zeug z'amm und Schluß!
Ein voll beleuchteter, völlig leerer Zug – gerade wird einer
vorbeigeschoben – hat auch etwas furchtbar Trauriges.
(21./22.9.2022)
©Peter Alois
Rumpf September 2022 peteraloisrumpf@gmail.com