Montag, 30. September 2024

3793 Der erste Schritt

 



9:17 a.m. Eigentlich habe ich Angst, aber als ich die Leselampe herschiebe, auf dass mein Notizbuch und damit der unmittelbare Raum vor meinem Gesicht und meiner Brust beleuchtet werde, geht es wieder einigermaßen.

Ich flippe nicht aus, empfinde mich jedoch auf einer Abschußrampe ins Nichts, Niente, Nada. Bei der nächsten kosmischen Aufräumaktion bin ich weg. Meine Leibesmitte ist noch alarmiert, mein Geist versucht sich damit anzufreunden.

Die Angst kommt jetzt in Wellen, die mich lähmen. Meine inneren Beschlußfassungen bewirken nichts. Ich versuche jetzt, den Spieß umzudrehen: ich bekämpfe die Angst nicht, sondern lasse sie über mich kommen und koste sie aus (wie fühlt sie sich an? Was macht sie in meinem Körper und wo genau? Kenn ich sie irgendwoher? Hat sie mir etwas zu sagen? - Nein, sie bleibt verschlossen. Anscheinend hat sie keine Worte). Ich rühre mich nicht. Obwohl ich nicht spreche, habe ich das Gefühl, als lalle ich nur mehr.

Endlich kommen in meinem Körper Bedürfnis und Fähigkeit auf, meine Glieder zu strecken. Das könnte der erste Schritt aus der Lähmung sein.


(30.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3792 Na gute Nacht

 



0:18 a.m. 9°Celsius. Man hätte nach dem Haider-Finanzdebakel (Schaden für die österreichischen, (nicht nur Kärntner) Steuerzahler: Mindestens 9 Milliarden Euro) Kärnten in den Konkurs schicken sollen, sonst begreifen es die Leute nicht, was passiert, wenn sie Unfähige und Gauner wählen.

Ich ärgere mich, aber ich will mich nicht ärgern. Also versuche ich, wieder runterzukommen.

Es gelingt nicht recht.

Ich probiere es mit ruhigem Atmen, aber es kommt schnaufen heraus.

Das wissen wir doch, wie das alles nach der „Vertreibung aus dem Paradies“ (das wird niemand verstehen! - der innere Spötter) läuft!

Und? Ich rege mich trotzdem auf.

Komm! Steig aus!

Ich hocke da und weiß nicht, was tun für mein inneres Gleichgewicht (draußen in der Welt habe ich nichts zu melden).

Das innere Gleichgewicht brauche ich, um schlafen zu können. Na gute Nacht!


(30.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3791 O.T.

 



9:46 a.m. Irgendwie ist es düster; von den Wohnzimmerbäumen geht kein Leuchten aus.


(28.9.2024)


9:45 a.m. Die weiße Wand hinter den Wohnzimmerbäumen glänzt verhalten. Der Wasserkrug steht leer am Tisch. Der Traumfänger fängt mir wirklich alle Träume ab.


(29.9.2024)



©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3790 Blöde Wörter

 



12:09. Wenn ich in die Welt hinausgehe – freiwillig und gut vorbereitet, keinen Pflichttermin, ausreichend gefrühstückt – bin ich fröhlich. Ich halte einer alten, mit Taschen und Sackerln bepackten Frau die Tür auf und freue mich wirklich. Ich lächle vor mich hin, als ich mit federndem Schritt losgehe (wenn es mein Kreuz erlaubt) und verbreite good vibrations. Diese Fröhlichkeit stört meine angeborene (oder auch nicht) Schwermut nicht, sondern macht sie schön. Übrigens komme ich mir beim Losgehen mit meinem umgehängten Tascherl für das Notizbuch wie Hänschen klein oder Hans dann im Glück vor, jedenfalls wie ein Kind, das fröhlich – fröhlich! - zum Beispiel in den Kindergarten geht und sich nicht fürchtet. Dabei gehe ich „bloß“ ins Espresso Burggasse, mein neuer „Arbeitsplatz“. Am Weg allerdings war mein fröhliches Gleichgewicht einer gewissen Herausforderung ausgesetzt, weil am Ring keine Straßenbahnen gefahren sind. (Jetzt trinke ich den ersten, noch zu heißen Schluck vom English Breakfast Tea mit Milch.) Die Belästigung durch studentische ÖVP-Wahlwerber habe ich mit der aggressiven Bemerkung ich nehme nichts von Strichjungen der Reichen abgeschmettert und konnte so ein Gleichgewicht bewahren. (Jetzt nehme ich den zweiten Schluck vom English Breakfast Tea mit Milch, der nun genau die richtige Temperatur hat.)

14:03. Der Tee mit Milch ist komplett ausgekühlt und im Falter habe ich auch Nüchterns Kolumne übers Gehen gelesen (dein Versuch, dich an Prominentere dranzuhängen ist wirklich degoutant – der innere Spötter).

Ich sollte nach Hause gehen: es wartet viel Arbeit (Einkaufsmithilfe fürs Familienessen morgen, Vorkochen, Schreibtisch wieder zusammenbauen und aufstellen, Staubsaugen, Umräumen …) und was-weiß-ich-was. Es regnet, ich werde wohl die Öffis nehmen (ich dachte, du hättest was gegen blöde Wörter - der innere Spötter).


(27.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 27. September 2024

3789 Es rauscht

 



8:00 a.m. Es rauscht aus dem renovierten und frisch gestrichenen Lichtschacht und undeutliche Stimmen dringen herauf. Ich zittere noch ein wenig aus Schlaf und Traum heraus und habe mein Kreuz schon mit Heilsalbe eingeschmiert. Ein noch undeutliches Radio spielt auch mit in dieser Morgensymphonie (wörtlich!), sowie meist undefinierte Arbeitsgeräusche. Ich bin wieder zu Bett gegangen, weil ich es da gemütlich und warm habe. So warte ich bei heruntergelassener Jalousie auf meine innere Konsolidierung. Es gehen noch unsichtbare Wellen durch meinen Leib und um ihn herum. Die Zimmertür habe ich offen gelassen, damit etwas Luft, Licht und Außenwelt auch optisch eindringen kann zur langsamen, behüteten Angewöhnung. Ich spüre geradezu wie meine Kräfte sich sammeln für ein (fragwürdiges?) Tageswerk, das ich mit einem Frühstück beginnen werde. Ich lasse die Augen über die vielen Bilder, Zeichnungen und Karten gleiten, die an den Wänden angebracht sind, und mein Herz freut sich. Länger verweilt mein Blick bei meinem Kratzelbild und eine berechtigte Schwermut kommt innen herauf, die jedoch meine Freude nicht zerstören wird. Ein wenig warte ich noch und lasse meine Seele in ihren Gefühlen und Empfindungen, dann werde ich zum Frühstück aufstehen und meinen Leib mit Nahrung stärken.


(27.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3788 Bleiben lassen

 



0:42 a.m. Ich starre müde, gedankenverloren und unaufmerksam hinter die Lampe in den dunkleren Bereich meines Zimmers und eine fragile, löchrige, bräunlich-graue Kugel schwebt von oben nach unten. Dann ist sie weg wie eine zerplatzte Seifenblase. Mir fallen die Augen zu (willkommen in deinem Zimmer und seinen Gewohnheiten – der innere Spötter). Ich muß es bleiben lassen; ich schlafe beim Schreiben ein.


(27.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3787 Sitting on the ...

 



13:01. Also eindeutig 1 Uhr. Cappuccino Nummer 2. Soul aus den Boxen und Verwandtes. Auch Otis Reddings Sitting on the Dock of the Bay. (Beim Hereinkommen habe ich sogar etwas mitgesungen und mitgesummt. Die Kellnerin hat mich gleich freundlich erstaunt angeschaut.) Ich sitze im Espresso Burggasse auf meinem Lieblingsplatz drinnen und schaue von Zeit zu Zeit zum großen Fenster hinaus. Dort im Schanigarten vor Platanen und Sträuchern sitzen sie einfach da und watchen die Gezeiten von Verkehr und Leben und wasten ihre Zeit … wie ich es herinnen mache. Das ist in meinem Alter wahnsinnig! Echt wahnsinnig! Ich bin nicht unsterblich, meine Zeit ist befristet und mein Zeitguthaben vermutlich schon klein. (Auch der Pilotstift spinnt. Aber Spucke auf den Spitz platziert hat einigermaßen funktioniert.)

Wenn ich zum Fenster hinausschaue, kommt mir der auf einem Holzplateau höher gestellte Schanigarten wie eine Bühne vor, auf der irgendsoein modernes, avantgardistisch-existentialistisches Theaterstück aus dem vorigen Jahrhundert spielt, wo die Schauspieler draußen auf der Bühne Theaterpublikum spielen und ich herinnen als einziges Publikum der überrumpelte Schauspieler bin. Das „Existentialistische“ verstärkend kommt hinzu, dass die Scheiben der großen Fenster anlässlich 20 Jahre Espresso Burggasse mit Photos aus dieser Zeit beklebt sind, sodass ich die Körper der „Schauspieler“ draußen nur vom Hals abwärts sehen kann, hauptsächlich Hand- und Fußbewegungen ohne Akustik (und die stadteinwärts fahrenden Autos der Burggasse hinter dem Laub der Bäume und Sträucher als Farbflecken vorbeirauschen; mit Ton). Die Versuche, die hellen Fusseln auf meinem schwarzen T-Shirt mit der Aufschrift fragwürdig wegzuwischen, scheitern, denn die haften an und lassen sich nicht vertreiben. Sei’s drum! Wer bin ich, dass ich mich gegen den Willen der Götter auflehnen und behaupten kann? Übergang von Soul zu Italopop. Die Köchin macht eine Pause und raucht draußen eine Zigarette. Ist es Zeit zu gehen? Ich möchte den richtigen Zeitpunkt nicht verpassen. Das Lied gerade affiziert mich (gezierter Affe – der innere Spötter). Plötzlich ist es im ersten Raum, wo ich sitze, voll von herumstehenden und herumgehenden Leuten – ich wußte ja, die wirkliche Bühne ist hier. Mir ist es ein wenig unangenehm, bei einem Stück unabgesprochen mitzuspielen, das ich nicht verstehe und nicht kenne. Ich fürchte Überraschungen. Ich bin zu kompliziert für die Welt. Das wird mir auch im Jenseits nicht verziehen werden.


(26.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 25. September 2024

3786 Rückkehr

 



0:04 a.m. Jetzt sind alle wieder da, meine Lieblinge: die frankophone Schweizerin, mein Hausaltar, meine Ikonostase, die Möwe und die Krähe, die halbnackten Weiber … ach, ich zähle nicht alles auf. Die vielen Bücher natürlich, die zu besitzen ich so stolz bin und über die ich mich gerne aufblähe und wegen denen ich meine Nase hochhalte (dabei kann ich mich an nichts erinnern, was ich gelesen habe). Egal, ich bin wieder in meine Kemenate zurückgekehrt. Ach und meine Bilder an den Wänden. Ich schmunzle über diese kindliche Fülle.

16:39. Es stinkt in meinem Zimmer noch von den Farben der neulich gestrichenen Außenfenster. Das Zimmer selbst ist einigermaßen leer (ich habe noch nicht alles umgeräumt), sodass ich das Gefühl, am Grunde eines kleinen Schwimmbeckens zu hocken, gut kultivieren kann. Die Wände wiederum sind voll. Im Lichtschacht arbeitet der polnische Arbeiter bei aufgedrehtem Radio. Heute jedoch stört mich das alles nicht; unsere Fenster sind fertig, ich brauche keine Tür und keinen Fensterflügel aufmachen, ich bin nicht mehr betroffen. Unten läuft ein Kleinkinderevent, nicht ohne ein wenig Geheule. Ich blicke gleichgültig und lustlos herum, aber genieße die Situation (ich bin ja auch müde). Mir ist ein wenig schwindlig und ich habe ein kleines Kopfweh, das könnten die Ausdünstungen der noch nicht ganz ausgehärteten Farben und Lacke sein. Dafür schreibt jetzt der Pilotstift besser, nachdem ich ihm ins Farbbehälterröhrchen gespuckt und seine Spitze in einen Wasserstrahl gehalten habe. Ein fast idyllischer Nachmittag (sozusagen bevor die Schule richtig losgeht). Morgen habe schon wieder einen Arzttermin. Ich hasse solche Termine; ich komme mir wie ein Schaf vor, das freiwillig zum Schlächter trottet (also heißt es richtiger: ich hasse mich bei solchen Terminen – der innere Korrektor).


(25.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3785 Unausgesprochen

 



12:06. Ein schöner Regen, wie ich ihn liebe. Ein ganz normaler Regen, die Fensterscheiben auch der Straßenbahnen sind nass, die Leute gedämpft aufgekratzt, sie ducken sich und huschen mit angestrengten Gesichtszügen durch die Straßen, die Farben sind zurückgenommen und die Stimmung – oder meine Stimmung – ist eine – wie kann ich sagen? - resignative Aufbruchseuphorie, nur dass jetzt nicht Sommer und Ferien zu Ende gegangen sind und ein neues Schul- oder Universitätsjahr ansteht, sondern mein Lebensabend nicht mehr verleugnet werden und mein Aufbruch nicht irgendwelchen Lebensprojekten gelten kann – meine sind fast alle gescheitert [und fast schreibt er nur, weil er nicht so hart (und gar so selbstmitleidig – der ganz innere Kritiker) rüberkommen will – der innere Kritiker] – sondern dem Projekt Fensterputzen nach der monatelangen Reparatur, gegen das ich eine auch mir schwer verständliche Aversion habe und eine noch unverständlichere Angst (das Leitersteigen trotz Kreuzschmerzen kann es nicht ernsthaft sein).

Ich sitze im ruhigen, locker besuchten Espresso Burggasse, und weil es nicht so voll ist, sind die einzelnen Tischgespräche so laut, denn sie heben sich nicht gegenseitig auf (sozusagen). Ich trinke Tee! Nicht Kaffee. So kommt kein Koffeinrausch auf. Vielleicht fehlt er mir. Dabei war ich vor Jahrzehnten eine richtige und ausdauernde Teetante; das hat aufputschmäßig auch funktioniert. Die Musik ist heute anders, wie Chicha. Es hat zu regnen aufgehört, Fensterputzen wäre wieder möglich. Nachdem ich in letzter Zeit täglich in ein Café gegangen bin, bekomme ich das Gefühl, das ist normal und steht mir zu. Schaumamal was die Götter dazu sagen. Die Musik könnte ein bisschen lauter sein.

12:54. Die Musik hat sich verändert (eine noch kitschigere Version eines Leonard-Cohen-Liedes) und ich blicke wieder von der Bank aus in den Spiegel an der Wand und sehe mich darin nicht, aber: Das Weinregal, das sich drei, vier Meter vom Spiegel entfernt befindet, einen kleinen Fensterausschnitt, ein bisschen Laub der Platane draußen, das sich auch im Spiegel leicht bewegt, und das Rot einer Ampel, die sich gerade auf gelb, dann auf grün schaltet, und für mich undefinierbares Gestell. Das Lokal füllt sich. Die Musik ist eindeutig zu leise (ich sitze auf den unteren Ausläufern meines Sakkos und zupfe sie unter meinem Hintern hervor). Fensterputzen fällt mir ein, als ich durchs Fenster auf die Straße schaue, aber ich mag noch nicht. Wir sind wieder bei den Chansons. Am Nebentisch fällt das Wort ungerecht. Eine gewisse (oder ungewisse – der innere Spötter) Rührung steigt in mir auf. Ich glaube nicht, dass das direkt mit dem Chanson zu tun hat, das mir nicht gefällt, aber wer weiß: auch ein kleiner Input kann das Setting komplett ändern.

Was sagt ihr? Soll ich endlich zum Fensterputzen heimfahren? Ich mag nicht. Aber so richtig bequem ist es mir von der langen Herumsitzerei hier auch nicht mehr. Der 46A braust vorbei und lenkt meine Aufmerksamkeit wieder Richtung nach Hause. Das Wort unausgesprochen fällt irgendwo im Raum.


(24.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3784 Hof 2

 



13:39. Im Hof 2. Vorm Universitätsbrunnen. Ein bisserl lächerlich das Ganze (ich habe das Zeug zu einem verbitterten, bösen Grantscherben). Ja, aber es ist lächerlich: das Universitätsemblem im blauen Rechteck, wie eine überdimensionierte Card, über das das Wasser rinnt, einfallslos, rechts rinnt es stärker als links (von mir aus gesehen), eine kleine feige Fontäne links aus dem Wasserbecken, eine kleine feige Fontäne rechts aus dem Wasserbecken; in einem bedeutungsaufgeladenen, heroischen, günbegitterten Oval aus „Stein“, und dann noch mit dem ängstlich-besorgten Hinweisschild no drinking water (das glaub ich übrigens auch, dass das Wasser nicht trinkt). Ein Baugerät fährt bedeutungsschwer vorbei (das kann nur was ganz Wichtiges sein, wichtiger als die Liebe zum Wissen), drei Kleinlastwagen à la Lieferautos stehen hintereinander aufgereiht an der Hausfront (auch etwas ganz Wichtiges). Ein modernes Universitätsgebäude. Die Statue Josef II sehe ich von hinten. So ein richtiges Parkgefühl kommt hier trotz der Wiesen und Bäume nicht auf. Jetzt kommt der Wind und bläst mir hoffentlich andere Gedanken ein. Der Brunnen ist wirklich lächerlich. HÖR AALZENTRUM steht am modernen Unigebäude (weiß wer, was Hör-Aaale sind?). Ja, ja, Hörsaalzentrum, ich weiß, aber die Metallbuchstaben – und somit die Schrift - werden vom Gestänge dahinter und von den Spiegelungen im Fassadenglas nachhaltig irritiert. Die schaffen keine gscheiten Aufschriften (und damit meine ich nicht den fehlenden Buchstaben!). Ich dreh noch eine kleine Runde, bevor ich in die Psychotherapie gehe.


(23.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3783 Überleben

 



6:41 a.m. Die Angst hat mich wieder. In den letzten Nächten ist es vorgekommen, dass ich schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd aufgewacht bin. Und jetzt, wo am Horizont schon das Sonnenlicht gleißt, dass die Angst nicht weggegangen ist und sich zwischen alles geschoben hat. So hocke ich im Bett und versuche, mich zu beruhigen. Einatmen, ausatmen. Ich bin noch überhaupt nicht ausgeschlafen, aber lege mich nicht flach, aus der Befürchtung, ich könnte dann in der Angst ertrinken. Sie ist herangeschlichen und zersetzt alles. Alles ist normal, aber ich traue dem nicht. Allein schon vom Gedanken an den heutigen Tag fühle ich mich überfordert. Mir ist leicht schlecht vor Angst. Ekel in der Magengrube will nach oben kommen. Wie kann ich das überleben?


(23.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 23. September 2024

3782 Kruzifixmäßig

 



11:59 a.m. Am Wasser der Alten Donau (ich gehe nicht rein!). Diese Donauuferautobahn A22 rauscht akustisch aufdringlich her. Der Wind kräuselt die dunkelblaue Wasseroberfläche. Leute schauen verzwickt Richtung Sonne oder im Versuch, an ihr vorbei zu schauen. Eine Schwimmerin steigt aus dem Wasser und legt sich auf den Rücken und breitet ihre Arme kruzifixmäßig aus. Ein junger Austrianer (T-Shirt!) sitzt auf einer der gewellten Holzliegen. Ein Segelboot zieht stillt vorbei. Die nasse Schwimmerin hüllt sich in ein Badetuch und zieht darunter ihren Bikini aus. Eine Gruppe Asiaten, die mit ihren Photoapparaten wie Touristen wirken, betreten diszipliniert den Steg. Die Schwimmerin hat sich inzwischen abgetrocknet und zieht trockenes Gewand, das sie aus ihrem Rucksack holt, an, trocknet ihre Haare ab und verpackt die nassen Sachen wiederum in ihrem Rucksack. Der Wind ist eher kalt als warm. Das ist eigentlich alles (Zitat von Daniil Charms).

13:33. Lucy-Bar. Auf der Sonnseitn. Ein wenig heiß. Mein Handy düdelt. Noch widerstehe ich. Wir waren bei Kazuko Miyamoto. Mein Handy düdelt die ganze Zeit. Jetzt schaue ich doch nach. „Sorry!“ sagt der Kellner zu jemand anderem. Die Sonnenstrahlung auf meinem Kopf desavouiert mein Gehirn (sicherheitshalber schaut er bei Fremdwörtern immer nach, ob er die Bedeutung wirklich kennt und ob er das Wort richtig schreibt – der Tipper als Verräter). Sonntagsnachmittagspatt. Der Wind rüttelt und schlenkert die zwei Belvedere-21-Fahnen. Die Straßenlampen breiten ihre zwei Arme kruzifixmäßig aus. Ein beiger Pullover einer Passantin auf der Straße über dem Graben irritiert mich aus der Weiten Richtung nackter Oberkörper; in der Nähe ist die Sache eh klar. Überall sind Licht und Schatten recht deutlich. Ich bin heute unrasiert. Eine imaginäre Fliege narrt mich (es gibt sie gar nicht). Meine Frau ist bereit zu gehen. Ich stoppe die Berichterstattung und klappe das Notizbuch zu. Heute zahle ich einmal.


(22.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3781 Hātarei

 



8:02 a.m. Die Sonne scheint beim Fenster herein und eine Taube fliegt vom hässlichen Balkon gegenüber auf, ein Motorrad fährt um die Kurve, ein Flugzeug heult irgendwo am Himmel, eine Autotür fällt diesmal sanft zu. Meine Augen jucken und mein Gehirn ist noch nicht ganz wach. Aber meine Ohren surren schon und noch in höchsten Tönen. Irgendwelche Leute sprechen unten in den Häuserschluchten; die Schallwellen kommen mit Hall heroben an. Autos gibt es auch, ich würde heute sagen: sie brummen (an der Kreuzung müssen sie alle vom Tempo runter). Jetzt ist es ganz ruhig, sodass die Stille ganz laut werden kann. Ein Schatten huscht über die sonnigen Fensterscheiben. Es zieht ganz leicht in meinem linken Arm, deswegen fällt mir jetzt auf, wie verkrampft der das Notizbuch hält. Eine Krähe ruft. Die Geräusche der fahrenden Autos sind sehr rätselhaft in ihrer Vielschichtigkeit (Motor, Räder-Asphalt-Anhaftung, Luftverdrängung …). Nun höre ich rollende Koffer, in der Morgenstille erstaunlich laut. Allmählich bin ich bereit aufzustehen.

12:25. Was sehe ich hier? Eine Einbahn, die nach links weist; eine Ameise auf der Sitzbank; einen schwachen Schatten meines rechten Schuhs inmitten dessen des großen Baumes vor mir in der kleinen, eingezäunten und nicht mehr öffentlich zugänglichen Grünfläche des neueren Gemeindebaus. Viele Autos, die ich ignoriere, parkende und einige fahrende (hier müssen sie alle langsam sein), Sonnenlicht auf Hausfassaden, besonders eindrucksvoll auf der gelb gestrichenen Erdgeschossfassade des Hauses schräg links von mir. Einzelne Passanten. Mistkübeln. Sogar ein blühender Strauch. Schatten von Vögeln, die über die Hauswände huschen. In der Ferne hinter dem Augarten zwei über den Baumbestand hinaus ragende Häuser (die Gasse gibt nur einen schmalen Durchblick frei). Ein offenes, aber vergittertes Fenster im Schatten im Erdgeschoss rechts, in dem eine grau-weiße Katze sitzt (mein schwarzer Pilotstift fängt zu kratzen an, vielleicht drücke ich zu fest auf). Eine kleine Österreichflagge in ein Blumenkisterl am Fenster gesteckt, was in Zeiten wie diesen bei mir Bedenken auslöst (der schwarze Pilotstift hat seinen Geist aufgegeben, obwohl er noch viel Tinte hat; das feine Röhrchen, das die Tinte und das Kugelschreiberkügelchen enthält, ist über die Spitze hinaus gerutscht und kratzt nun das Papier und kann keine Farbe auftragen. Das passiert mit diesen Stiften öfters). Samstagblues. (Hātarei heißt der Samstag im modernen Māori.)


(21.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 20. September 2024

3780 Oh Gott!

 



10:11 a.m. Beim Herfahren – mit leerem Magen – zum üppigen Frühstück ins Espresso Burggasse fragt mich ein altes, englischsprachiges Paar nach der U4 – ich zeige ihnen den Weg zum richtigen Bahnsteig und schon bin ich fast zu Tränen gerührt (vor Ergriffenheit über deine Menschenfreundlichkeit – der innere Spötter) (nein, davon dass ich gebraucht wurde und zu etwas gut war – der Ich-Autor). An der Umstiegsstelle Bellaria (1 zu 49) spielt ein Straßenmusiker bettelnd mit der Geige. Zuerst ignoriere ich ihn, obwohl er etwas Klassisches – soweit ich das beurteilen kann – sehr gekonnt spielt. Einen zweiten Bettler - dieser ist wirklich an Gesicht und Beinen – letztere zeigt er mit hochgezogenen Hosenröhrln, was echt gräßlich ausschaut – und ich mag solche Mitleidsdemonstriererei nicht – auch wenn es mir nicht zusteht etc etc – von Krankheit und Verfall gezeichnet, ignoriere ich auch. Aber dann spielt der Geiger – übrigens sehr schön! - bella ciao und mir stehen wirklich echte Tränen in den Augen (ist das mutandis mutatis wirkungstechnisch mit ichhateinenKameraden vergleichbar? - der innere Spötter). Ich gehe zum Geiger zurück und gebe beiden etwas.

Das Espresso ist um diese Zeit – sonst bin ich immer später hier – recht voll, aber ich finde zögerlich einen Platz und jetzt nach den ersten Bissen und Schlucken: oh! Wie geht es mir gut! (diese oh!s hast du vom Knausgård gestohlen – der innere Kritiker) (der hat’s aber auch nicht erfunden – der Autor). Mein Gott! Fühl ich mich wohl! Gestern Abend schon habe ich sogar mit den RedHotChiliPeppers laut mitgesungen, obwohl Sturm Graz am Verlieren war. Und jetzt? Jetzt bin ich satt und ständig rinnt mir die Nase. Weil das Lokal voll ist, erlebe ich ein polyphones Sprech-Singsang-Theater in den verschiedensten Interferenzen (bist du sicher, dass du Interferenzen richtig verstanden hast und richtig verwendest? „Literarische Freiheit“ als Ausrede giltet nicht!- der innere Kritiker). Wie auch immer, die Musik „an“ den Boxen ist ja auch noch da. Übrigens: in dieser Woche war ich täglich in Cafés, zweimal mit Frühstück: ich versaufe und verfresse meinen Klimabonus (nachdem ich nie ein Auto besessen habe, steht mir das auch zu).

11:19 a.m. Jetzt sitze ich immer noch auf meinem Platz im Espresso, beim dritten Cappuccino und im vollen Koffeinrausch: aufgeregt, aber situationsglücklich – keine Ahnung warum, aber das kümmert mich nun nicht. Ein Cover oder Remix von Monday, Monday von The Mamas And The Papas (ich trau mich gar nicht zugeben, dass ich zuerst Herman’s Hermits geschrieben habe – welch ein Fauxpas! - gut, No Milk Today hat auch etwas mit Mamas zumindest zu tun – der Tipper) – aber das ist es gar nicht, was mich so euphorisch macht, dass ich sogar bereit wäre hier und jetzt zu sterben (eh nur als phantasierte Vorstellung – nicht in echt), wobei ich mich an dem Bild amüsiere, wie ich hier unter den Bobos, in deren Umgebung ich mich viel weniger vor aggressiven Attacken fürchte als anderswo, mit einem Herzinfarkt zB – Musik jetzt The AnimalsDon`t Let Me Bee Misunderstood – umkippe und sterbe. Ich hoffe, dass ich gegebenenfalls das Geschehen darüber schwebend von oben beobachten kann und darüber lachen (wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass dir dabei aufgehen würde, was für ein fieses, empathieloses Arschloch du bist – der innere Kritiker) – nun Michelle/Beatles – gut, dieser Song leitet mich trotz all seiner Aufladungen von früher wieder etwas herunter auf die rote, bequeme Lokalsitzbank, wo es auch nicht schlecht ist. Schließlich kennt man mich hier. Mein Gebiss beginnt weh zu tun. Vorhin dachte ich, ich werde hier den ganzen Tag sitzen, jetzt denke ich, ich werde mich bald wieder auf die Walz machen – ich, der ewige Lehrling ohne Freisprechung, dürfte das gar nicht. Aber wenn man ohne Lehrabschluß weggejagt worden ist? (ach du Armer! - der innere Spötter) Musik: parole parole - unglaublich, was sich an Mainstreammusik in mir abgelagert und abgespeichert hat – jetzt etwas Französisches, das ich kenne, aber weder Titel noch Interpretin weiß. Das Lokal hat sich weitgehend geleert. Ich werde aufbrechen, wenn es keine Walz ist, ist es eine Wanderung, wenn nicht eine Pilgerreise, bei der ich vom Weg abgekommen bin. Ist das jetzt die Piaf? Mein Gott! War die existentialistische Depression noch herrlich! - im Vergleich zu denen, die heutzutage am Markt sind. Ist das jetzt der Aznavourian? Von der Stimmung der Musik angesteckt schaue ich nun in das Spieglein an der Wand, in dem ich nicht zu sehen bin. Mein Gott! Wie die Geigen jaulen! Offensichtlich sind wir in der Chansonschleife – aber jetzt spielen sie eher ein schwächelndes – also los! Auf! Aufbruch! Raus aus der Komfortzone!

Am Rückweg – zu Fuß – habe ich voll bewußt den Weg durch das Heldentor genommen – ich dachte, das kann ich mir heute erlauben – und habe dann noch die Hofburg mitgenommen.


(20.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 19. September 2024

3779 Affizieren

 



11:37 a.m. Sagen wir so: heute sitze ich woanders, blicke Richtung Donaukanal und sehe ihn nicht, aber seine Uferbäume (teilweise; jedenfalls die heroben auf dem Straßenniveau). Ein Hund steht beim Geländer, den ich kurz für einen kleinen Puma gehalten habe. Die raschen Bewegungen der vorbeirasenden Autos spiegeln sich nicht nur in der großen Fensterscheibe, sondern auch im Vitrinenglas der Verkaufsbudel und in dem meiner Lesebrille. Ein Windlein, ein Windchen (ich soll nicht immer „leichter“ oder „kleiner Wind“ schreiben!) kitzelt (ist auch dem Variantenstress geschuldet) die Kronen der Bäume. Eine – vielleicht – schöne, aber sicher junge Frau geht vorbei (bloß „ziemlich sicher“ – sie könnte ja auch eine der alten Zauberinnen sein, die lange leben und solche Verwandlungen können – der innere Korrektor) (oder ein anorganisches Lebewesen, das hier und jetzt mal in Menschengestalt und auf den Asphalt des Trottoirs auftritt – der Autor). Eine Krähe turnt auf einer großen Linde. Die meisten männlichen Passanten queren mein Blickfeld recht flott (gut, es gibt ja eine große Firma gleich an der Kreuzung hinten). Zum ersten Mal nehme ich am anderen Ufer drüben ein Haus im neovenezianischen Stil – natürlich 19. Jahrhundert – wahr, dessen Fenstereinteilung und seine blaß-ziegelrote Fassade mir gefallen. Ein Fahrrad lehnt am Geländer am Geländeabbruch zum Donaukanal hinunter und ist nicht umgefallen. Es gibt schon auch flanierende PassantInnen; die meisten sind so mitteltemporär unterwegs (ha, ha, ha – der innere Spötter) (hätte ich mitteltemperiert schreiben sollen?! - der Autor). Also ich will sagen: sie bewegen sich in mittleren Geschwindigkeiten. Die vorbeirasenden Autos affizieren (du kannst froh sein, dass man das wie Aff mit zwei f schreibt – der innere Spötter) meinen Solarplex (habe ich das Verb beim Doderer gelesen?). Wenn bei Rotschaltung der Ampel an der Kreuzung hinten der Verkehrslärm versiegt, dominieren die Geräusche der Bäckereimaschinen hier herinnen (wir sind in einer Filiale einer alten Wiener Bäckerei, und ich bin nicht grimmig! - sondern über die Assoziationsmöglichkeit zu meinem Lieblingsberg Grimming erfreut) (ich bin nämlich dabei, das bestellte Tageskinderbrot für die nächste Woche zu holen und habe das für einen Koffeinabstecher genutzt). Gibt es noch irgendeinen Hauptfaden in diesem Text oder löst sich der schon völlig auf? Packen wir doch die vier Brote ein, zahlen wir und gehen wir!


(19.9.2024)



©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

Mittwoch, 18. September 2024

3778 Der ordentliche Wohlstand

 



10:37 a.m. Als ich heute früh beim Vorbereiten des Zähneputzens das Zahnbürstel vorne – wie es sich gehört – an den Borsten mit Zahnpasta bestrichen hatte und zum eigentlichen Zähneputzen übergehen wollte, ist mir das Ding aus der Hand gefallen und war schon am schwerkraftinduzierten Weg zum Boden, als ich es in einer blitzschnellen Reaktion, die ich mir gar nicht zugetraut hätte, in der Luft aufgefangen habe, sodass ich das Gerät ohne Reparaturen zum Mund und zur geplanten Verrichtung führen konnte. „Peter! Das hast du sehr gut gemacht!“ sagte ich zu mir: „es ist gut, dass es dich gibt! Die Welt ist durch dich bereichert!“ Nach der Morgentoilette dann habe ich mit den Fensterarbeitern gesprochen und ausgemacht, dass ich für ein, zwei Stunden weggehen kann, bevor sie in die Wohnung müssen. Also sitze ich im Café Mima und habe mir vorher noch den neuen Falter gekauft. Der Cappuccino belebt mir Sinne, Herz und Geist (bevor er mich in Depression stoßen wird) und jetzt werde ich die Wochenzeitung aufblättern.

Mit dem zusammengerollten Falter unterm Arm, beim Heimgehen, werde ich mir fast wie ein Intellektueller, ja! wie ein echter Schriftsteller vorkommen. Interessant, wie die Posiererei auf einen selbst zurückwirkt. Aber jetzt trinke ich noch den Kaffee aus. Ich muß nur noch besser auf meine Blicke aufpassen. Draußen scheint die Sonne und ein leichter Wind hebt die Stadt-Wien-Fahnen an ihrer einzigen, unbefestigten Ecke (oder wie sagt man da bei Stoff?). Heute und vor allem morgen gibt es wichtige Fußballspiele; ein Abo des zuständigen Bezahlsenders und ein funktionierender Fernsehapparat würden zu einem „ordentlichen Wohlstand“ gehören, aber klagen muß ich nicht.


(18.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 17. September 2024

3777 Der Gehsteig breit genug

 



11:31 a.m. Ein Cover eines alten Red-Hot-Chili-Peppers-Hits aus den Boxen (ist das schon automatic writing? - der innere Spötter – weil: er hat keine Ahnung, was er schreiben will, hat nichts zu sagen, keine Botschaft, keine Mission, schlägt das Notizbuch auf – weiß immer noch nicht, was er schreiben soll, mag, kann, darf, muß, will und beginnt einfach – mit irgendwas). Ein Cover von The Smiths – oder doch kein Cover? Eine andere Version? Egal! Die Sonne scheint. Ein Cover von Simon & Garfunkel. Alle Covers scheinen verlangsamt, was nicht schlecht kommt. Und die Instrumentierung orchestral. Oder meine Ohren sind am Zusammenklappen. Oder mein Gehirn ist endgültig versulzt und verfremdet den Input der Sinne aus den äußeren Welten. Was will ich noch im Leben? Eine ruhige Kugel an einem ruhigen Ort in ordentlichem Wohlstand schieben? Die Gläser und Tassen klirren, die Schallwellen schwirren, meine Ohren sirren, die Spiegelungen flirren, ich kann mich irren. Was heißt eigentlich „kirren“? Bin ich dabei, meinen Verstand zu verlirren? Zurück vom Nonsens zum Nichts. Jetzt die Kinks, anscheinend original. Zu Hause halte ich es zur Zeit nicht aus. „Nichts“ klingt edler als „Scheitern“. “Scheitern“ klingt eindeutig edler als „Versagen“. Klingt „Versagen“ besser als … Scheiße! Die Musik wird fad und ich spüre die Schallwellen auf meine Trommelfelle auftreffen. Lesen wir eine zweite Zeitung. Zu Hause schmeckt mir kein Kaffee mehr, auch keiner meiner Tees.

(Nicht nur die „Kleine“, sondern auch den „Falter“ durchgeblättert.) Draußen im Gärtlein lachen sie weiblich. Jetzt beginnt auch hier das Sich-nicht-in-meiner-Haut-Wohlfühlen. Ein Ortswechsel kündigt sich an. Ein Hautwechsel wäre besser. Nein, der würde nicht reichen. Ein Wechsel meiner „Person“. Ach, das ist ja wieder bloß die Maske. Die Musik ist auch unerträglich geworden. Wie wäre es mit heimfahren und Texte eintippen? Seit längerem lasse ich alle Texte liegen; momentan finde ich meine Texte Scheiße (auch dank des Literaturkritikers Ernst Katz (er hat ja so recht!!!)) (Ich mußte mich zum Eintippen regelrecht zwingen – der Tipper). Ein remixter Cat Stevens. Ja, das ist die Lösung! Alle Musik hier and nunc ist Remixerei! Mir scheinen die Tränen zu kommen, aber sie kommen nicht. Warum auch sollten sie kommen? Bei mir gibt es nichts zu holen. Zu Hause wartet die beschissene, wochenlange Fensterbaustelle. Ich brauche Fensterschutz! Wird da ein Tablett mit Kresse vorbeigetragen und in die Auslage gestellt? Erlöse doch dich und deine LeserInnen! Auch heute geht mir der Soul auf die Nerven. Anscheinend stecke ich im weißen, europäischen, romantischen Selbstmitleid-Weltschmerzgetue fest. Ein Kind draußen weint wirklich. Velvet Underground warte ich noch ab; auch gecovert und remixt. Das sind doch alles so DJ-Mischungen! Das könnt sein. DJ-Mischung! – das sollte ich mir genauer anschauen, auch auf mich selbst bezogen (diesen ganzen Assoziations- und Gedankengang (wenn sie denn in der Lage sind aufrecht zu gehen – der innere Spötter) ist mir zu mühsam zu rekonstruieren und zu erläutern). Notizbuch zuklappen und ab nach Hause! Aber sofort! Das ist ein Befehl! Du!!!

Auf dem Rückweg zu Fuß (da mache ich mir die Hoffnung, meine Depression aktiv hinausgehen (tansitiv!) zu können) sehe ich den Bus „1A Stephansplatz“. Frage: Wie schaut dann der „2B Stephansplatz" aus? (Wie ich am Trottoir stehen bleibe und stehend in das Notizbuch notiere, werde ich von Passantinnen angerempelt. Dabei ist der Gehsteig breit genug.)


(17.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3776 Diese Nacht

 



1:20 a.m. Bin ich traurig? Ich bin traurig. Ist das schlimm? Es ist nicht schlimm. Die Photos und Zeichnungen an der Holzwand kann ich nicht entziffern und kaum erkennen; mit Brille nicht und ohne Brille nicht. Ich war schon lange nicht mehr so lange auf. PILOT BL-G2-7-G 4 902505166549 www.pilotpen.eu – nur zur Information (den Strichcode nachzuspielen, darauf verzichte ich). Im Rücken ist die Mauer sprachlos und kalt. Kein mene mene tekel upharsin. Auch sonst nichts. Die Bettdecke scheint an einer Stelle eine in die Tiefe gehende Lichtstelle zu haben, ein Loch, nicht schwarz eben, sondern strahlend gelb-weiß und von Lichtsubstanz. Mein Verstand will nicht arbeiten, meine Vernunft will nicht arbeiten, mein Sprachzentrum will nicht arbeiten. Ora et labora. Auch die Sprüche bewirken nichts und locken nichts hinter dem Ofen hervor. Oder dem Paravent. Das Gähnen reißt mir des Unterkiefer nach unten und das Maul auf und läßt mich stoßweise atmen. Ich weiß mit dieser Nacht nichts anzufangen.


(17.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3775 Eigenartig

 



11:40 a.m. Boah! A so a scheene leitn! Also Wald ist es nicht, auf das ich jetzt schaue, sondern eine ungemähte Herbstwiese auf dem schönen, steilen Hang, und ich bin nicht weder Macbeth noch sitze ich auf einem Schloss, sondern erlebe mich als recht machtlos und sitze auf einer Holzbank der Stadt Wien. Neben der Wiese ist ein Weingarten, und neben diesem dann doch auch Wald. Ich bin über den Nussberg in den Graben unterm Kahlenberg gewandert und gehe zurück Richtung Stadt. Woher kommt dieses tiefe Berührtsein vom Anblick dieser und anderer Leiten? Ja, die Leite hinter dem Haus der Großeltern (das nicht ihnen gehört hat), aber warum? Das braune, vertrocknete Gras, durch das ein wenig der Wind geht. Es ruft etwas ganz stark Empfundenes aus meiner Kindheit ab, aber ich komme nicht dahinter, was es ist. Vielleicht war es nicht mehr, als dass mich der Anblick einer spätsommerlichen Hangwiese voll getroffen hat, weil Sommer und Ferien mit ihren vielen Hoffnungen unerfüllt vorbei sind und ich wieder tapfer in den schulischen Demütigungszwang muß (was nicht heißt, dass es in den Ferien keine Demütigungen gegeben hat). Ein Falke fliegt über die Wiese. Jetzt kommen die Krähen und rufen. Hinter mir plätschert wirklich ein Bächlein. Mit dieser Leite hier muß es mehr auf sich haben: ist dort das Leben und Tod? Oder droht von dort oben Gefahr? Oder wurden hier Menschen getötet? Waren hier Kriegsgefechte oder Massaker? Hatte ein Mob dort an diesem Baum einen aufgehängt? Wurde hier eine Frau, ein Mädchen vergewaltigt? Unsere Landschaften sind voll gesogen davon und die Erde hat das alles abgespeichert und aufbewahrt und strahlt es noch ab. Oder ganz anders: haben sich hier einmal salige Frauen einem einsamen Wanderer gezeigt? Oder andere nicht-organische Wesen? Was ist es, was mich bei diesem Anblick so betroffen macht? Ich weiß es nicht.

Die Glocken rundherum läuten Mittag, aber das baut mich jetzt nicht auf; die Verbindung von Glockengeläut und üppiges Mittagessen (die Radiosendung „Autofahrer unterwegs“) empfinde ich als obszön. Ich blicke nochmals zum Hang, den nun eine schwache Sonne bescheint. Es bleibt mir alles verschlossen.

Als ich weitergegangen bin, hat mir der Wind ein vertrocknetes Blatt direkt vor die Füße geworfen, dass es am Asphalt gekracht hat. Unglaublich viele Wanderer sind hier unterwegs auf dieser Straße, in den verschiedensten Sprachen und Dialekten. Eigenartig.


(11.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

Dienstag, 10. September 2024

3774 Landslide

 



12:37. Der große, schwarze Drache hat mich wieder. Und ich gebe zu, ich flüchte von Zuhause; ich halte es dort nicht mehr aus. Zwar habe ich heute seit langem ordentlich ausschlafen können (die Hitze ist vorbei), aber nach dem Aufwachen wußte ich nicht, was mit dem Tag anfangen (und Wohnung putzen wollte ich mitten im Fenstererneuerungschaos auch nicht). Ich hatte eine kleine Wanderung über den Nussberg ganz nach hinten und dann retour durch den finsteren Graben erwogen, aber weil ich im Stiegenhaus realisierte, dass ich dafür die falschen Schuhe anhatte, und außerdem meiner Frau ab 15 Uhr zum Einkaufen zur Verfügung stehen sollte, habe ich den Mut verloren und bin in mein Lieblingscafé gefahren. Dort sitze ich jetzt beim ersten Cappuccino und immer noch die Sechzigerjahre-Mainstream-Musik, die mich ob ihrer Seichte schon etwas nervt und einiges triggert. Jetzt kommt doch ein schönes Lied, ich kenne es und weiß nicht mehr von wem und wie es heißt und vermute aus viel späteren Zeiten (Landslide von Fleetwood Mac, 1975 – da sind Ewigkeiten dazwischen).

Verbitterung hat von mir Besitz ergriffen, ich fühle mich ganz verkannt (solche Gefühle sind meistens ganz unangemessen, und wenn nicht, dann führen sie nicht weiter. Besser du befreist dich davon. Du kennst doch „den Tod als Ratgeber benutzen“! - der innere Kritiker). Es hilft nichts: mir ist zum Heulen (aber ich heule nicht). Ich sehne mich danach, einmal 12 Stunden lang den ganzen Schmerz meines Lebens rauszuweinen, bis nichts mehr übrig ist, aber etwas in mir erlaubt das nicht, als könnte ich mir das nicht leisten, als dürfte ich das nicht, als wäre ich dazu nicht berechtigt! Vielleicht darf ich das im Sterben. (So! Bitte brems dich ein – ein jedes Lebewesen in der Welt ist dem ausgesetzt; freilich darfst du weinen und dich vom – wirklichen! - Schmerz befreien, aber bitte! - verstrick dich nicht darin. Bitte! - der innere Kritiker.) Fast heule ich über den Wind, der die Platanenzweige zum Tanzen bringt. Fast weine ich über den plötzlich leeren Gastgarten draußen, der sich jetzt so sinnlos und vergeblich ausbreitet. Fast weine ich über das schöne Sonnenlicht auf den Fassaden der gegenüber stehenden 19.-Jahrhundert-Häuser. Die Gastgartenlampe – mitten am Tag natürlich nicht aufgedreht – reckt sich auch sinnlos, moderat und bescheiden. Schulkinder mit ihren großen, schweren Schultaschen, den Hoffnungen und Erwartungen am Rücken gehen halbwegs fröhlich vorbei. Es ist das erste Mal, dass mir ein Song von Nina Simone auf die Nerven geht (anscheinend liegt dir mehr der europäische, romantische, weiße, alte Schmerz – der innere Spötter). Greifen wir zum Falter.

Zum Falter gegriffen und auszugsweise gelesen und bei Bob Marley’s Songs of Freedom wieder an den Kleiderhaken gehängt. Und jetzt? Cappuccino zwei oder kleine Stadtwanderung? Stadtwanderung! (Beim Zahlen war schon ein kleiner, freundlicher Scherz möglich.)

14:16. Auf meiner kleinen Stadtwanderung vom Espresso Burggasse nach Hause raste ich Am Gestade, diesmal mit dem schönen Blick auf die frühneuzeitlichen Häuser, weil ich mich getraut habe, die Dame auf der schattigen Bank zu fragen, ob ich hier auch Platz nehmen dürfte. Die Wanderung mit dem Heulwürgen in Brust und Hals und in unrekonstruierbaren Gedankenfluchten (meine Niederlagen, die Attacken, Rechtfertigungen und Verteidigungen vorm inneren Gericht und Ausdenken und Durchspielen von meinen nicht gehaltenen, aber erfolgreichen Vorträgen). Bei einer Kunsthandlung in der Nähe vom Café Zentral habe ich – wie immer – erwartungsvoll in die Auslagen gegafft. Jahrelang waren dort oft und immer wieder Max-Weiler-Arbeiten zu sehen, aber jetzt hat sie sich anscheinend den Touristenbedürfnissen unterworfen und vielleicht auch aus Überlebensnotwendigkeit („Überleben“ vermutlich auf hohem finanziellen Niveau) angepasst und zeigt nur mehr Klimt und Ähnliches. Schade! Sehr schade! Diese Kunsthandlung war immer ein Lichtpunkt auf meinen Stadtwanderungen (und ich habe auch heute nicht zufällig meinen Weg dort vorbeigehen lassen). Ich habe mich eh nie – nur einmal vor vielen Jahren, unterwürfig um Erlaubnis fragend und unter dem sofortigen Bekenntnis, dass ich kein potenter Kunde sein kann – hineingetraut. Schade! Mir geht diese ständige, hysterische Hubschrauberfliegerei über der Stadt auf die Nerven; was geht mich der ganze Scheißdreck an!?! 22°C hat es und ich blicke Richtung 229°SW – um das ganze irgendwie einzuordnen. Der Wind schüttelt die drei krankhaften Bäume hinter mir (jetzt übertreibt er wieder! Wirklich eindeutig krank ist nur das Bäumelein in der Mitte, die anderen zwei Linden könnten noch einigermaßen gesund sein – der innere Korrektor). Träumelein ist keines heruntergefallen und nicht nur Pommerland ist abgebrannt. Die Kirchturmuhr von Miriam am Gestade schlägt halb. „Reiß dich zusammen!“ sagt sie zu mir. Ich will mich nicht mehr zusammenreißen (und tut es doch! Er kann nicht ungehorsam sein – der innere Spötter). In ein paar Tagen werde ich – so Gott will – wieder hier sitzen und auf den Zeitpunkt zum Aufbruch zum Zahntermin warten. Ich gehe weiter. Ich kann mich nicht befreien; ich stecke immer noch im schwarzen Erdrutsch aus Verzweiflung.


(10.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

Montag, 9. September 2024

3773 Das Balkongitter

 



12:46. Der Regen ist da (bis jetzt haben – da kein Sturm – die Plastikabdeckungen gehalten). Nach einem Kebab an einem etwas zu lustigen Stand nun auf einen Cappuccino im Welt-Café. Zum ersten Mal bin ich hier. Ich nehme jetzt den ersten Schluck und werde die Wirkung sofort sorgfältig beschreiben: am Gaumen leicht, der Schaum nicht pickig (und schön als Blatt gestaltet), der Kaffee fruchtig, milde Röstung, im Abgang … genug jetzt! Der Cappuccino passt. Die zarte Substanz spürt man noch, wenn man nach dem Schlucken die Zunge auf den Gaumen presst (ohje! Zahnersatzgaumen!). Also: der Regen ist da und hier ist viel Platz und moderat lebhaftes Leben (Kinder- und Familienecke da drüben ums Eck). Ich blicke auf so 19.-Jahrthundert-Prachtbautenecken, die meistens rund sind. Ach ja: die Wirkung: leichtes, sanftes Ansteigen der inneren Helligkeit, Aufkommen von so einer Art Zuversicht beziehungsweise Gleichgültigkeit meinem Scheitern gegenüber. Schesko jedno! (richtig: „schezko jedno!“ - scheiß egal! - von „wszystko jedno“ - polnisch oder in Wien eher von „všecko jedno“ – tschechisch - der innere Korrektor) – ich habe es doch angenehm. Zurück zu den großbürgerlichen Feudalbauten (zwei Fliegen auf einen Streich): von meinem Platz aus sehe ich fünf Stück. Will ich da wohnen wollen? Ich weiß nicht. Was Aufgeräumtes hat es hier schon und die Räume sind sicher alle hoch. Will ich wirklich noch hoch hinaus (wo ich doch immer ungerner Leitern hinaufsteige)? Draußen im Schanigarten unter der großen Plane rauchen sie. Das ist mir schon ganz fremd. Will ich eigentlich etwas sagen oder schreibe ich nur, um die Zeit totzuschlagen (Termin in 55 Minuten und im Park ist alles nass)? Und zu Hause rennt die ganze Zeit das Radio der Handwerker im Lichtschacht. Meine Exile kommen mir teuer. Noch einen Cappuccino? Ist das gut oder schlecht für die Psychotherapie nachher? Koffeinfrei lehne ich eher ab. Mir sind diese schmiedeeisernen Balkongitter schnell zu viel, zu überkandidelt und zu spießig, aber das hier dort oben, das einen riesigen Balkon – wirkt eher unbenutzt – der sich großzügig und breit über die runde Ecke zieht – umrahmt, der hat etwas. Wahrscheinlich eine Firma (ob darin stehend Leute sitzen entzieht sich meiner Kenntnis – der innere Spötter). Das ist halt schade, wenn in den großzügigen Wohnungen lauter Firmen sitzen, aber vielleicht täusche ich mich und es ist großartig.

Es regnet, es regnet, die Bäume werden nass. Der zweite Cappuccino wirkt eine Spur kompakter, im Schluck trifft er auf ein wohlvorbereitetes Umfeld und auf Reste seines Vorgängers. (Bitte, lieber Freund! Belästige deine LeserInnen nicht mit deiner Langeweile, deiner Bedeutungslosigkeit und deinen gescheiterten Versuchen, dich in der Welt der Dualität und des Funktionalen gemütlich einzurichten – der innere Kritiker.) Das ist doch mir wurscht! Wenn jeder Autofahrer, jeder Handwerker, überhaupt „die Wirtschaft“ und wer oder was auch immer mich akustisch und optisch belästigen darf, dann darf ich auch belästigen! Ich belästige wen ich will! (Lieber Freund! Das ist falsch! Du hast wenig Einfluß darauf, wer deine Texte liest – der innere Kritiker.) Schau ma mal, was das Internet sagt. Gut, einen kleinen Scherz angebracht. So geht Lebensabend! Noch 30 Minuten muß ich hier ausharren, wenn ich nicht in den Regen will. Ich schaue wieder das Balkongitter an. Sehr ambitioniert, tatsächlich etwas ungewöhnlich. Wohnte ich dort, ich ginge ständig am Balkon im Halbkreis, besser: im Halbmond, bliebe von Zeit zu Zeit am Gitter stehen und schauete erwartungsvoll auf die Straße hinunter (3. Stock; Wiener Zählung), um dann wieder hin und her zu gehen. Ich lenke meinen Blick – soweit erreichbar – auf die Dachgeschosse. So weit ich sehen kann sind sie alle ausgebaut. Es regnet – und ich bin stur und stolz ohne Schirm und kurzärmelig unterwegs (vielleicht bist du nur zu faul gewesen, dein Zeugs aus der ärmellosen Jacke in die Kapuzenjacke zu transferieren – der innere Spötter). Jetzt schüttet es, die Wiesen, die Sträucher und die Bäume werden sich freuen. Mir kommt vor, im Zentrum des Balkongitters ist ein Tier dargestellt, aber ich erkenne es nicht deutlich und vielleicht ist es doch bloß ein Ornament. Eine Viertelstunde noch, dann muß, darf, kann und soll ich aufbrechen. Auch hier gibt es elegische Bohrmaschinen – nein, nein! Das ist wohl ein Handmixer; Schlagobers zum Beispiel. Den „Blumen“kisten da draußen am Rande des Schanigartens, in denen kleine Bäumchen stecken, wird der Regen auch gefallen; wie ich jetzt sehen kann, hängt das eine noch so hin und her. Zehn Minuten. Nein, ich mach es anders: ich gehe jetzt und stelle mich bei diesem Durchgang unter. Ich muß da raus.


(9.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3772 Gelbstich

 



18:39. Der Zitronenbaum im Blumentopf am Fensterbrett ist von meinem Stuhl aus genauso hoch wie die Essiggötterbäume im Innenhof. Der Himmel ist grau, der Wind beutelt zuerst den schönen, großen Weidenbaum und dann auch die anderen. Die Unruhe vor dem Sturm. Oder zumindest vor dem Wetterumschwung. Seine Ankündigung macht mich nervös und unruhig (wird es bei den Lichtschachtfenstern ohne Außenflügel hereinregnen? Werden die dilettantisch angetackerten Plastikfolien bei Wind und Wetter halten?). Oder ist es das Herannahen des Wettersturms himself, das mich nervös macht? Das Grün der Bäume kommt vor dem flachen Wolkengrau farblich sehr gut. Ein Kondensstreifen lichtet auf seiner Bahn das noch helle Grau zum Weiß hin auf. Auch das schaut wirklich schön aus. Die Geräusche aus dem Hof wirken ebenfalls verhalten angespannt. Die schmalen Blätter der Weide bekommen einen leichten Blaustich. Der Wind wird stärker. Die undeutlichen Reste des zerfallenen Kondensstreifen sind immer noch zu sehen. Ist das herbstliche Ernsthaftigkeit, was die Stimmung ausmacht (die Ferien sind vorbei)? Unten rotiert der Geschirrspüler mit deutlichen Anschlägen: tak, tak, tak … (damit es nicht mißverstanden wird). Eine einzelne Krähe ruft, mit recht schöner Stimme. Eine Kirchenglocke läutet zur Messe oder zum Gebet (wie immer – ich habe es schon oft hergeschrieben – erhebt das Geläute mein Herz, nicht ohne Wehmut über das Verlorene). Der Blaustich der Weidenblätter hat sich für kurze Zeit fast in einen Gelbstich verwandelt (Gelbstich, das heißt: die Blätter sind grün und ich nehme einen leichten Touch ins Gelbliche wahr – das hat noch nichts mit Herbst zu tun). Ein neuer Kondensstreifen wird am Himmel eingezeichnet, so frisch, dass er silbern erstrahlt vor den andern (Chr.L.). Aber er löst sich unglaublich schnell auf. Nun bringt der Wind auch den Vorhang im Atelier zum nachdenklichen Schwanken. Wo kommt der Schatten meiner Hand auf dem weißen Papierblatt her? Ach so, von der Badezimmerlampe. Der Gelbstich scheint wieder weg zu sein. Ändern sich tatsächlich Licht und Farbe oder winken meine Augen die subtilen Farbänderungen herbei? Jetzt wird alles sehr ruhig, nur eine Radiostimme erzählt irgendwas.


(8.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

Sonntag, 8. September 2024

3771 Liebliches Lüftchen

 



8:30 a.m. Die zwei – zwei wie ich glaube – Schleifmaschinen schleifen nicht nur den Lack vom Holz, sondern auch die Schutzschicht von meinen Nerven. Es ist unerträglich. Nichts ist mit: Samstag genießen.

10:35 a.m. Zum ersten Mal in meinem Leben geht mir jetzt das Geschrei der Krähen auf die Nerven. Ich sitze im Augarten und bezweifle die wirkliche Sinnhaftigkeit ihres Palavers (noch nicht ausgeschlafen? Noch nicht in der Realität angekommen? Schlecht geträumt? Im Stress? Oder noch keinen Kaffee konsumiert? - der innere Spötter). Schwer auszuhalten die vielen, vielen kranken Bäume; die Kastanien scheinen alle befallen zu sein und stehen in diesem kranken Braun da, das völlig anders ausschaut als die Herbstverfärbung. Ganze Alleen sind betroffen. Dabei ist es hier im Schatten angenehm und ein liebliches Lüftchen weht. Was zermürbt mich so? Der Wind ist nun stärker geworden und treibt viel totes Laub.


(7.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

Freitag, 6. September 2024

3770 Bekleckerungsspröde Gesten

 



9:07 a.m. Mir gefällt es, dass einem da eine kleine Karaffe Wasser und ein Glas gebracht werden, schon bevor man etwas bestellt hat. Ich sitze drinnen und bin vorm Handwerker-Fenster-Stress zuhause geflüchtet. Die Buntheit hier gefällt mir auch. Die Blumen, die Kerze und die Zuckerdose, und jetzt mein Wassergedeck plus Besteck und Brotkörbchen schon für mein Frühstück: das alles ist zufällig in einer Reihe genau in der Mitte des Tisches platziert, als wäre es eine Barriere zum gegenüber liegenden Platz, der unbesetzt ist. Ein bißchen so wie das Netz am Tischtennistisch, wenn mir der blöde Vergleich erlaubt ist (und wie willst du dir die Erlaubnis einholen? - der innere Spötter). Ich freue mich schon auf das Mimafrühstück; es wird wohl nicht mehr lange dauern. Mir fällt auf, dass ich hier nach Möglichkeit immer am selben Platz sitze.

Oh! Das herrliche Frühstück wird gebracht. Es ist gar nicht soo viel anders als das, das ich mir zu Hause bereite, dennoch komme ich mir vor wie ein Feudalherr. Ich reibe meine Hände, schiebe die Teller und Schüsselchen hin und her, richte die Kaffeetasse ein – das Wasser vergesse ich zunächst, dem widme ich mich später – blicke aufgeregt, feierlich und stumm am kleinen Tisch herum, nehme ein Brötchen (ich meine ein kleines Stück Brot), beschmiere es mit Butter und grünem Avokadoaufstrich, nachdem ich vorher das kleine Müslischüsselchen für später zur Seite gestellt hatte. Ich beiße ab, spüle gleich mit einem Schluck vom bitteren Kaffee nach, stopfe ein paar Gemüsestückchen (Paprika, Karotte, Gurke, Radieschen) in den Mund und wische mir dann ganz fein die Hände und den Mund mit der beigelegten Papierserviette ab, nicht ohne vorher die Fingerkuppen in bekleckerungsspröder Geste gegeneinander gerieben und dabei die nicht involvierten Finger abgespreizt zu haben. Überhaupt kommt mir der Gedanke, dass ich mein Repertoire an Gesten und die Art ihrer Ausführung als kindlicher Ministrant im katholischen Gottesdienst erlernt habe: vom pikierten Reinigen der Fingerspitzen, dem Herumwischen mit den Tüchlein (mit dem „Korporale“ zum Beispiel) und dem Herumschieben und mehrmaligem Umstellen des heiligen Geschirrs. Ich bin doch – ob es mir passt oder nicht – ein klandestiner Kleriker (vgl. „clerk“ – Schreiber). Dabei hat mein Getue mit dem Essen – wiewohl größtenteils in diese klerikale Gestik eingebettet – durchaus auch vulgäre Züge: der zuerst vermiedene, aber im Verlaufe des Mahles dann doch unvermeidliche Gebrauch der bloßen Finger beim Essen – wie gesagt: schon ein wenig liturgisch eingefangen – der gierige Blick auf die Speisen, das Nachbestellen – also ich brauche immer doppelt so viel Brot wie die zunächst servierte Menge – das Vollstopfen meines Wanstes, das Ganze gewürzt mit kleinbürgerlich-spießigen Elementen: zum Beispiel dass der Teller leergegessen wird; nichts darf übrigbleiben – am liebsten würde ich den Teller noch auslecken – das wäre jedoch zu rustikal und vulgär. Aber zu dieser kleinbürgerlich-verzwickten Marotte stehe ich in Zeiten des massenhaft weggeworfenen Essens, auch wenn sie gar nichts bringt, bestenfalls bloß ein Symbol ist. Außerdem ist es ja mein Leib, den ich da vollstopfe.

Eine leichte Brise (verdammt! Die Brise ist leicht! Halt’s Maul, innerer Kritiker!) kommt bei der offenen Lokaltür herein und kündigt irgendetwas an. Eine leere Vollmilchpackungentransportschachtel (nön – also Kath Kirch und Raiffeisenkonzern, die Österreich und einige Medien – sagen wir ruhig: im Würgegriff haben) steckt kopfüber auf dem Gestänge des Einkaufstrolley. Ein junge Frau im Gastgarten draußen reibt sich die Nase, als würde sie sie jucken. Eine Wespe kommt herein und sucht an „meinem“ Tisch etwas Brauchbares (ich habe keine Angst. Ich habe wieder Würfelzucker bei mir, mit dem ich im Falle eines Stiches das Gift durch festes Auflegen des Zuckerwürfels an der Einstichstelle aus der Wunde sauge; und wenn das rechtzeitig geschieht, bleibt nichts, kein roter Fleck und kein Schmerz zurück). Es wäre besser, wenn ich die Kaffeedosis nicht mehr steigere; heimgehen wäre vernünftig. Eine der Kellnerinnen kann jetzt kurz verschnaufen und schaut verträumt in die Ferne. Auf meinem T-Shirt steht: „Angeblich bin ich freiwillig hier“.


(6.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3769 Schlafplatz

 



0:28 a.m.  Noch sind Tage und Nächte heiß. Ich sitze im Hochbett, die Fenster sind offen, ein kleines Insekt ist hereingekommen und umkreist in falscher Orientierung die kleine Leselampe, die ich aufgedreht habe. Ich schwitze allein vom Heraufklettern über die Leiter.

Vom Platz mit den drei Säulengleditschien dringt eine männliche Stimme herauf. Dort auf der Bank sitzt ein Mann, allein, wie jede Nacht und redet unaufhörlich, so zirka bis Mitternacht oder ein Uhr. Er schreit nicht, er redet in ganz normaler Lautstärke; ich verstehe seine Sprache nicht; eventuell ist es Pidgin-English (aber das kann ich nicht sicher beurteilen, weil ich kein Englisch beherrsche). Aber Tonfall und Gestik des Mannes, die ich vorhin kurz vom Fenster aus beobachtet hatte, bevor ich heraufgestiegen bin, legen es sehr nahe, dass er sich erklärt und zu rechtfertigen versucht. Vor welchem inneren Tribunal, vor welchem Gericht, vor welchem Forum und vor welcher Gesellschaft – ich kann es nicht wissen (wenn es wirklich Pidgin-Englisch ist, dann nicht vor seiner muttersprachlichen). In der Nähe ist eine Notschlafstelle für Obdachlose – vielleicht kommt er von dort. Hat er keinen Platz gefunden oder hält es dort in der Masse nicht aus? Oder er will erst im letzten Moment an seinem Schlafplatz einkehren? Oder wohnt er einfach in der Nähe und es ist ihm in der Wohnung zu heiß? Das alles ist natürlich Spekulation oder gar Projektion. Ich weiß nichts, aber sehr einsam wirkt er schon. Ich gehe nicht hinunter und frage ihn und schon gar nicht biete ich ihm bei uns einen Schlafplatz an. Wir haben hier keine Kultur der privaten Gastfreundschaft mehr. Aber das soll keine Ausrede sein: ich wäre damit überfordert und hätte Angst. Und jetzt lege ich mich nieder und werde zu schlafen versuchen. 


(6.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

Donnerstag, 5. September 2024

3768 Mein Mund

 



11:44 a.m. Das Stück Schnitte, das zum Cappuccino gereicht wird, stecke ich ehrfürchtig und in sorgfältig feierlicher Geste in den Mund, als wäre es die Hostie, wobei mir die extreme Süßigkeit sofort viel zu viel ist, diese Süßigkeit, die ich sofort mit einem Schluck bitteren Kaffees neutralisieren muß. Ich bin von Zuhause geflüchtet; ich halte die Hitze in unserer Wohnung und den Lärm dort nicht mehr aus, seitdem sie mit der Flex die hölzernen Fenster und Verbauungen der Außenfassade im Innenhof abschleifen. Wenn sie die Fenster dann endlich gestrichen haben werden, werde ich endlich nach vielen Wochen in mein kleines, kühles, schattiges Zimmer zurück ziehen können, wo ich mich viel besser zurückziehen kann.

Ich habe meine Beine überschlagen und wechsle jetzt die Position von links nach rechts. Anscheinend brauche ich das freundliche Ambiente hier, um meine Lebenstrümmer einigermaßen zusammenklauben zu können. Leichtes Kopfweh. Ich lege den Pilotstift weg, um im Gewinnen von etwas Abstand auf neue Ideen zu kommen oder wenigstens einen annehmbaren Schreibfaden zu finden. Ich wische die Brösel des Schnittenstücks, die ich vermieden zu haben glaubte, von meinem Notizbuch und blicke gerührt und ratlos durch den Raum und durch die großen Fenster auf den Gehsteig und den laubgeschützten Schanigarten hinaus und mit etwas Durchblick auf die vielbefahrene Burggasse: da draußen ist das Leben; hier herinnen, genau dort wo ich sitze, ist der melancholische Schwerpunkt der Welt, wo man nur zuschauen kann. Aber immerhin! Ich trinke vom Wasser, und weil das Glas in einer kleinen Lacke steht und ich nicht will, dass Wasser auf mein Notizbuch tropft, führe ich das Glas etwas umständlich außen um den Tisch herum an meinen Mund. Mein Gott! Was ist los? Wie ich „meinen Mund“ hinschreibe, steigen mir Tränen auf. „Mein Mund!“ - bin ich jetzt völlig verrückt? Und die Nase fängt zu rinnen an. Der innere Spötter lacht sich schon schief im inneren Hintergrund (fast kann ich ihn sehen). Nasenbluten ist es nicht, nur Rotz. Die passend melancholische Gitarrenmusik. Über die Frauen hier will ich nicht schreiben (Zensur!). Der Kaffeerausch ist gerade richtig. Noch einen, und alles kippt. Aber der zweite Kaffee wird nicht zu vermeiden sein und Überdruss wird überhand nehmen. Soll ich wieder ein wenig Zeitunglesen? Mir graut ein wenig vorm Eintippen der handgeschriebenen Texte nachher zu Hause (zu Recht – der Tipper); mit dem hier haben sich fünfe angestaut. Ich hol mir den Falter zur Ablenkung. Ich rotze jetzt richtig, es rinnt herab und beim Schneuzen habe ich mir meinen Mund und sein Umfeld angekleckert; damit bin ich endgültig aus dem Spiel. Ich gehe aufs Klo, um mir das alles abzuwaschen. „Dübeln statt grübeln“ steht auf der Herrentoilette an der Wand aufgepickt. Jetzt weiß ich natürlich nicht, was genau hier mit „dübeln“ gemeint ist, aber ich denke, egal, was gemeint ist, es schaut so aus, dass ich Grübeln bevorzuge.

13:59. Oh! Jetzt zittere ich am ganzen Körper vor Kaffeerausch und seiner Aufregung. Meine Handschrift ist nun doppelt so groß wie vorhin und ich kann mich weder konzentrieren noch beruhigen; mein innerer Redeschwall wirft mich nieder. Ich werde ein Stück zu Fuß gehen müssen. Also los!


(5.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3767 Die Hitze ist sehr groß

 



0:06 a. m.  Freund, es ist Zeit. Die Hitze ist sehr groß – ich schätze so um 27° Celsius im Zimmer. Und das nach dem meteorologischen Herbstbeginn. Ich schwitze einfach so. Ich hoffe, trotzdem bald einschlafen zu können. Unten bei den drei Säulengleditschien reden zwei Männer. Manchmal fahren Autos und werden Autotüren zugeschlagen. Es gibt auch irgendein Tuten und fernes Gelächter, Schritte in der Nähe, die heraufhallen, ein drehendes Geräusch – keine Ahnung, was das sein könnte. Ich bin doch müde. Meine Gedanken strengen mich an. Ich sehe in der Dunkelheit unten unter den Bäumen sich etwas bewegen, aber weiß nicht, ob mir bloß die müden Augen einen Streich spielen. Ich habe hier im Hochbett im Musikzimmer mein Nachtlager bereitet und schlafe hier nicht so gut. Immer wieder werde ich von Lärm und Geräuschen aufgeweckt. Gestern hat einer um schätzungsweise 4 Uhr früh unten bei den Bänken einen recht langen poetry-slam abgehalten, mit ein oder zwei Personen als Publikum, die auch gelacht und rufend zugestimmt haben. Ich werde es für heute gut sein lassen. Vielleicht ist der, der heute da unten redet auch nur einer, einer, der mit sich selbst sprechen muß.


(5.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3766 Der Retter

 



11:30 a.m. Ich sitze mit den schönen frühneuzeitlichen Häusern im Rücken und schaue auf den sonnenbelichteten, leise plätschernden Brunnen und die modernen Nachkriegshäuser Am Gestade, weil auf der anderen Seite des Platzes die schattige Bank besetzt ist und die andere schon in der Sonne. Der Anblick der modernen Häuser ist gar nicht schlimm, nur die drei krank dreinschauenden Bäume vor ihnen tun meiner Seele weh. Ein Mann mit – sagen wir: indischem Aussehen hatte mich beim Hergehen auf der Straße angesprochen und gesagt: „What a lucky man you are!“ (oder so ähnlich); ich habe gleich abgewunken und abgeblockt und - sogar mit Lachen - behauptet, dass ich keinesfalls lucky wäre – aus Angst, irgendwie übertölpelt zu werden oder in etwas Schräges hineingezogen – aber seine Augen waren eigentlich sanft und friedlich – gut, den Eindruck können auch irgendwelche Sektierer vortäuschen. Aber vielleicht war er genau mein Retter? Mein Erlöser? War ich zu mißtrauisch? Oder er war der wiedergekommene Messias? Oder säkularer: er wollte mir ein paar Millionen Euro schenken – er hat wirklich nicht heruntergekommen ausgeschaut. Oder wollte mir wenigstens ein paar Hunderttausend schenken. Oder ein paar Zehntausend. Oder ein paar Tausend. Oder er hätte mich gebraucht, um die Welt zu retten. Jetzt ist es zu spät und ich werde ins Zahnambulatorium gehen müssen, denn es ist Zeit und dort wollen sie an meinen Zähnen herummachen.


(4.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

3765 Ich sollte fliehen

 



10:48 a.m. Beim Arzt. Die Patientin vor mir führt sich auf und schreit herum so à la „ich-bin-ganz-besonders-wichtig-und-wenn-ich-komme-müssen-alle-spuren“. Vielleicht sollte ich das auch einmal ausprobieren. Aber das ist nicht meine Art.

Ich schreibe ja nur, um meine Nervösität in Schach zu halten. So Ordinationen haben ja wirklich etwas schwer Erträgliches und sind mit allem Möglichen aufgeladen und voller Aufregung.

Den größten Wirbel habe dann ich selbst inszeniert, weil mein Handy völlig überraschend und wie schon seit Wochen nicht geläutet hat, gerade als ich zum Arzt hineingerufen wurde, dabei mit sehr lautem Klingelton, den ich gar nicht als meinen erkannt habe, und erst mit Verzögerung, aber dann in Panik reagiert habe, schnell, schnell, aber aufgeregt und ohne Brille den Klingelton nicht ausschalten konnte. Mein Wirbel war im Endeffekt größer als der der Patientin vor mir. Vielleicht sollte ich mich korrigieren: es ist nicht meine Art, dies absichtlich zu machen, unabsichtlich geht. Ich glaube, der Arzt war sehr sauer und hat mir nicht mehr zuhören wollen. Darum bin ich mit einem Teil meiner Anliegen nicht durchgekommen.


(2.9.2024)


10:22 a.m. In einer Pilzambulanz warte ich, dass ich mit der Nummer 17 (Mond-Uranus – im Mütterauftrag) aufgerufen werde. Das Wartezimmer ist voll mit dicken, klobigen Reliefs nach Klimtmotiven und da möchte ich davonlaufen, denn ich hasse Klimt und seine Ornamente. Ich habe die Wartezeit unterschätzt, mit mir sind 15 oder 16 Leute im Warteraum (das kann ich nicht so genau sagen, weil einer herumtanzt, wo ich nicht weiß, geht der schon oder kommt er erst und ist noch gar nicht da). Orange 17 ist meine Zahl, wie sich herausstellt spielt auch die Farbe eine Rolle (der Uranus wird mit Orange verstärkt). Ach, wie ich solche Orte und Settings hasse! „Hassen“ ist nicht ganz richtig: eher wird mir mulmig und schlecht und mir ekelt vor mir selbst und meiner systemischen Unterwürfigkeit. Und dann noch dieser Scheiß Klimt. Ornamenttempel, ich sollte fliehen!


(3.9.2024)


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3764 Übertönt

 



7:42 a.m. Die ganze Zeit lärmt und piepst es unten auf der Straße und meine Seele ist aufgeschreckt und in Alarm versetzt. Ich versuche ihr gut zuzureden, dass uns das nichts angeht, dass nur an der Baustelle ein Elkawe rückwärts fährt und sein automatisches Warnsignal losgeht. Ich halte die Augen geschlossen und rühre mich nicht, aber bald gebe ich nach und setze mich auf und akzeptiere, dass das heute der Tagesbeginn ist: laut und mit ständigem Alarmgepiepse: „Gefahr! Ein Elkawe kommt abgerollt und hat hinten keine Augen!“. Inzwischen hat sich die Baustelle beruhigt und ich höre im Hochbett heroben das aufgeregte Geplauder der Kinder am ersten Schultag nach den Ferien, und wenn ich zur Bettkante vor krieche und hinunterschaue, kann ich sie auch unten auf der Straße unter den Bäumen gehen sehen. Das monotone Rufen einer Taube, das sogleich vom neuerlich aufkommenden Verkehrslärm übertönt wird. So weit so üblich.


(2.9.2024)


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