Freitag, 6. September 2024

3770 Bekleckerungsspröde Gesten

 



9:07 a.m. Mir gefällt es, dass einem da eine kleine Karaffe Wasser und ein Glas gebracht werden, schon bevor man etwas bestellt hat. Ich sitze drinnen und bin vorm Handwerker-Fenster-Stress zuhause geflüchtet. Die Buntheit hier gefällt mir auch. Die Blumen, die Kerze und die Zuckerdose, und jetzt mein Wassergedeck plus Besteck und Brotkörbchen schon für mein Frühstück: das alles ist zufällig in einer Reihe genau in der Mitte des Tisches platziert, als wäre es eine Barriere zum gegenüber liegenden Platz, der unbesetzt ist. Ein bißchen so wie das Netz am Tischtennistisch, wenn mir der blöde Vergleich erlaubt ist (und wie willst du dir die Erlaubnis einholen? - der innere Spötter). Ich freue mich schon auf das Mimafrühstück; es wird wohl nicht mehr lange dauern. Mir fällt auf, dass ich hier nach Möglichkeit immer am selben Platz sitze.

Oh! Das herrliche Frühstück wird gebracht. Es ist gar nicht soo viel anders als das, das ich mir zu Hause bereite, dennoch komme ich mir vor wie ein Feudalherr. Ich reibe meine Hände, schiebe die Teller und Schüsselchen hin und her, richte die Kaffeetasse ein – das Wasser vergesse ich zunächst, dem widme ich mich später – blicke aufgeregt, feierlich und stumm am kleinen Tisch herum, nehme ein Brötchen (ich meine ein kleines Stück Brot), beschmiere es mit Butter und grünem Avokadoaufstrich, nachdem ich vorher das kleine Müslischüsselchen für später zur Seite gestellt hatte. Ich beiße ab, spüle gleich mit einem Schluck vom bitteren Kaffee nach, stopfe ein paar Gemüsestückchen (Paprika, Karotte, Gurke, Radieschen) in den Mund und wische mir dann ganz fein die Hände und den Mund mit der beigelegten Papierserviette ab, nicht ohne vorher die Fingerkuppen in bekleckerungsspröder Geste gegeneinander gerieben und dabei die nicht involvierten Finger abgespreizt zu haben. Überhaupt kommt mir der Gedanke, dass ich mein Repertoire an Gesten und die Art ihrer Ausführung als kindlicher Ministrant im katholischen Gottesdienst erlernt habe: vom pikierten Reinigen der Fingerspitzen, dem Herumwischen mit den Tüchlein (mit dem „Korporale“ zum Beispiel) und dem Herumschieben und mehrmaligem Umstellen des heiligen Geschirrs. Ich bin doch – ob es mir passt oder nicht – ein klandestiner Kleriker (vgl. „clerk“ – Schreiber). Dabei hat mein Getue mit dem Essen – wiewohl größtenteils in diese klerikale Gestik eingebettet – durchaus auch vulgäre Züge: der zuerst vermiedene, aber im Verlaufe des Mahles dann doch unvermeidliche Gebrauch der bloßen Finger beim Essen – wie gesagt: schon ein wenig liturgisch eingefangen – der gierige Blick auf die Speisen, das Nachbestellen – also ich brauche immer doppelt so viel Brot wie die zunächst servierte Menge – das Vollstopfen meines Wanstes, das Ganze gewürzt mit kleinbürgerlich-spießigen Elementen: zum Beispiel dass der Teller leergegessen wird; nichts darf übrigbleiben – am liebsten würde ich den Teller noch auslecken – das wäre jedoch zu rustikal und vulgär. Aber zu dieser kleinbürgerlich-verzwickten Marotte stehe ich in Zeiten des massenhaft weggeworfenen Essens, auch wenn sie gar nichts bringt, bestenfalls bloß ein Symbol ist. Außerdem ist es ja mein Leib, den ich da vollstopfe.

Eine leichte Brise (verdammt! Die Brise ist leicht! Halt’s Maul, innerer Kritiker!) kommt bei der offenen Lokaltür herein und kündigt irgendetwas an. Eine leere Vollmilchpackungentransportschachtel (nön – also Kath Kirch und Raiffeisenkonzern, die Österreich und einige Medien – sagen wir ruhig: im Würgegriff haben) steckt kopfüber auf dem Gestänge des Einkaufstrolley. Ein junge Frau im Gastgarten draußen reibt sich die Nase, als würde sie sie jucken. Eine Wespe kommt herein und sucht an „meinem“ Tisch etwas Brauchbares (ich habe keine Angst. Ich habe wieder Würfelzucker bei mir, mit dem ich im Falle eines Stiches das Gift durch festes Auflegen des Zuckerwürfels an der Einstichstelle aus der Wunde sauge; und wenn das rechtzeitig geschieht, bleibt nichts, kein roter Fleck und kein Schmerz zurück). Es wäre besser, wenn ich die Kaffeedosis nicht mehr steigere; heimgehen wäre vernünftig. Eine der Kellnerinnen kann jetzt kurz verschnaufen und schaut verträumt in die Ferne. Auf meinem T-Shirt steht: „Angeblich bin ich freiwillig hier“.


(6.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

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