Donnerstag, 5. September 2024

3768 Mein Mund

 



11:44 a.m. Das Stück Schnitte, das zum Cappuccino gereicht wird, stecke ich ehrfürchtig und in sorgfältig feierlicher Geste in den Mund, als wäre es die Hostie, wobei mir die extreme Süßigkeit sofort viel zu viel ist, diese Süßigkeit, die ich sofort mit einem Schluck bitteren Kaffees neutralisieren muß. Ich bin von Zuhause geflüchtet; ich halte die Hitze in unserer Wohnung und den Lärm dort nicht mehr aus, seitdem sie mit der Flex die hölzernen Fenster und Verbauungen der Außenfassade im Innenhof abschleifen. Wenn sie die Fenster dann endlich gestrichen haben werden, werde ich endlich nach vielen Wochen in mein kleines, kühles, schattiges Zimmer zurück ziehen können, wo ich mich viel besser zurückziehen kann.

Ich habe meine Beine überschlagen und wechsle jetzt die Position von links nach rechts. Anscheinend brauche ich das freundliche Ambiente hier, um meine Lebenstrümmer einigermaßen zusammenklauben zu können. Leichtes Kopfweh. Ich lege den Pilotstift weg, um im Gewinnen von etwas Abstand auf neue Ideen zu kommen oder wenigstens einen annehmbaren Schreibfaden zu finden. Ich wische die Brösel des Schnittenstücks, die ich vermieden zu haben glaubte, von meinem Notizbuch und blicke gerührt und ratlos durch den Raum und durch die großen Fenster auf den Gehsteig und den laubgeschützten Schanigarten hinaus und mit etwas Durchblick auf die vielbefahrene Burggasse: da draußen ist das Leben; hier herinnen, genau dort wo ich sitze, ist der melancholische Schwerpunkt der Welt, wo man nur zuschauen kann. Aber immerhin! Ich trinke vom Wasser, und weil das Glas in einer kleinen Lacke steht und ich nicht will, dass Wasser auf mein Notizbuch tropft, führe ich das Glas etwas umständlich außen um den Tisch herum an meinen Mund. Mein Gott! Was ist los? Wie ich „meinen Mund“ hinschreibe, steigen mir Tränen auf. „Mein Mund!“ - bin ich jetzt völlig verrückt? Und die Nase fängt zu rinnen an. Der innere Spötter lacht sich schon schief im inneren Hintergrund (fast kann ich ihn sehen). Nasenbluten ist es nicht, nur Rotz. Die passend melancholische Gitarrenmusik. Über die Frauen hier will ich nicht schreiben (Zensur!). Der Kaffeerausch ist gerade richtig. Noch einen, und alles kippt. Aber der zweite Kaffee wird nicht zu vermeiden sein und Überdruss wird überhand nehmen. Soll ich wieder ein wenig Zeitunglesen? Mir graut ein wenig vorm Eintippen der handgeschriebenen Texte nachher zu Hause (zu Recht – der Tipper); mit dem hier haben sich fünfe angestaut. Ich hol mir den Falter zur Ablenkung. Ich rotze jetzt richtig, es rinnt herab und beim Schneuzen habe ich mir meinen Mund und sein Umfeld angekleckert; damit bin ich endgültig aus dem Spiel. Ich gehe aufs Klo, um mir das alles abzuwaschen. „Dübeln statt grübeln“ steht auf der Herrentoilette an der Wand aufgepickt. Jetzt weiß ich natürlich nicht, was genau hier mit „dübeln“ gemeint ist, aber ich denke, egal, was gemeint ist, es schaut so aus, dass ich Grübeln bevorzuge.

13:59. Oh! Jetzt zittere ich am ganzen Körper vor Kaffeerausch und seiner Aufregung. Meine Handschrift ist nun doppelt so groß wie vorhin und ich kann mich weder konzentrieren noch beruhigen; mein innerer Redeschwall wirft mich nieder. Ich werde ein Stück zu Fuß gehen müssen. Also los!


(5.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

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