Freitag, 20. September 2024

3780 Oh Gott!

 



10:11 a.m. Beim Herfahren – mit leerem Magen – zum üppigen Frühstück ins Espresso Burggasse fragt mich ein altes, englischsprachiges Paar nach der U4 – ich zeige ihnen den Weg zum richtigen Bahnsteig und schon bin ich fast zu Tränen gerührt (vor Ergriffenheit über deine Menschenfreundlichkeit – der innere Spötter) (nein, davon dass ich gebraucht wurde und zu etwas gut war – der Ich-Autor). An der Umstiegsstelle Bellaria (1 zu 49) spielt ein Straßenmusiker bettelnd mit der Geige. Zuerst ignoriere ich ihn, obwohl er etwas Klassisches – soweit ich das beurteilen kann – sehr gekonnt spielt. Einen zweiten Bettler - dieser ist wirklich an Gesicht und Beinen – letztere zeigt er mit hochgezogenen Hosenröhrln, was echt gräßlich ausschaut – und ich mag solche Mitleidsdemonstriererei nicht – auch wenn es mir nicht zusteht etc etc – von Krankheit und Verfall gezeichnet, ignoriere ich auch. Aber dann spielt der Geiger – übrigens sehr schön! - bella ciao und mir stehen wirklich echte Tränen in den Augen (ist das mutandis mutatis wirkungstechnisch mit ichhateinenKameraden vergleichbar? - der innere Spötter). Ich gehe zum Geiger zurück und gebe beiden etwas.

Das Espresso ist um diese Zeit – sonst bin ich immer später hier – recht voll, aber ich finde zögerlich einen Platz und jetzt nach den ersten Bissen und Schlucken: oh! Wie geht es mir gut! (diese oh!s hast du vom Knausgård gestohlen – der innere Kritiker) (der hat’s aber auch nicht erfunden – der Autor). Mein Gott! Fühl ich mich wohl! Gestern Abend schon habe ich sogar mit den RedHotChiliPeppers laut mitgesungen, obwohl Sturm Graz am Verlieren war. Und jetzt? Jetzt bin ich satt und ständig rinnt mir die Nase. Weil das Lokal voll ist, erlebe ich ein polyphones Sprech-Singsang-Theater in den verschiedensten Interferenzen (bist du sicher, dass du Interferenzen richtig verstanden hast und richtig verwendest? „Literarische Freiheit“ als Ausrede giltet nicht!- der innere Kritiker). Wie auch immer, die Musik „an“ den Boxen ist ja auch noch da. Übrigens: in dieser Woche war ich täglich in Cafés, zweimal mit Frühstück: ich versaufe und verfresse meinen Klimabonus (nachdem ich nie ein Auto besessen habe, steht mir das auch zu).

11:19 a.m. Jetzt sitze ich immer noch auf meinem Platz im Espresso, beim dritten Cappuccino und im vollen Koffeinrausch: aufgeregt, aber situationsglücklich – keine Ahnung warum, aber das kümmert mich nun nicht. Ein Cover oder Remix von Monday, Monday von The Mamas And The Papas (ich trau mich gar nicht zugeben, dass ich zuerst Herman’s Hermits geschrieben habe – welch ein Fauxpas! - gut, No Milk Today hat auch etwas mit Mamas zumindest zu tun – der Tipper) – aber das ist es gar nicht, was mich so euphorisch macht, dass ich sogar bereit wäre hier und jetzt zu sterben (eh nur als phantasierte Vorstellung – nicht in echt), wobei ich mich an dem Bild amüsiere, wie ich hier unter den Bobos, in deren Umgebung ich mich viel weniger vor aggressiven Attacken fürchte als anderswo, mit einem Herzinfarkt zB – Musik jetzt The AnimalsDon`t Let Me Bee Misunderstood – umkippe und sterbe. Ich hoffe, dass ich gegebenenfalls das Geschehen darüber schwebend von oben beobachten kann und darüber lachen (wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass dir dabei aufgehen würde, was für ein fieses, empathieloses Arschloch du bist – der innere Kritiker) – nun Michelle/Beatles – gut, dieser Song leitet mich trotz all seiner Aufladungen von früher wieder etwas herunter auf die rote, bequeme Lokalsitzbank, wo es auch nicht schlecht ist. Schließlich kennt man mich hier. Mein Gebiss beginnt weh zu tun. Vorhin dachte ich, ich werde hier den ganzen Tag sitzen, jetzt denke ich, ich werde mich bald wieder auf die Walz machen – ich, der ewige Lehrling ohne Freisprechung, dürfte das gar nicht. Aber wenn man ohne Lehrabschluß weggejagt worden ist? (ach du Armer! - der innere Spötter) Musik: parole parole - unglaublich, was sich an Mainstreammusik in mir abgelagert und abgespeichert hat – jetzt etwas Französisches, das ich kenne, aber weder Titel noch Interpretin weiß. Das Lokal hat sich weitgehend geleert. Ich werde aufbrechen, wenn es keine Walz ist, ist es eine Wanderung, wenn nicht eine Pilgerreise, bei der ich vom Weg abgekommen bin. Ist das jetzt die Piaf? Mein Gott! War die existentialistische Depression noch herrlich! - im Vergleich zu denen, die heutzutage am Markt sind. Ist das jetzt der Aznavourian? Von der Stimmung der Musik angesteckt schaue ich nun in das Spieglein an der Wand, in dem ich nicht zu sehen bin. Mein Gott! Wie die Geigen jaulen! Offensichtlich sind wir in der Chansonschleife – aber jetzt spielen sie eher ein schwächelndes – also los! Auf! Aufbruch! Raus aus der Komfortzone!

Am Rückweg – zu Fuß – habe ich voll bewußt den Weg durch das Heldentor genommen – ich dachte, das kann ich mir heute erlauben – und habe dann noch die Hofburg mitgenommen.


(20.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

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