Dienstag, 10. September 2024

3774 Landslide

 



12:37. Der große, schwarze Drache hat mich wieder. Und ich gebe zu, ich flüchte von Zuhause; ich halte es dort nicht mehr aus. Zwar habe ich heute seit langem ordentlich ausschlafen können (die Hitze ist vorbei), aber nach dem Aufwachen wußte ich nicht, was mit dem Tag anfangen (und Wohnung putzen wollte ich mitten im Fenstererneuerungschaos auch nicht). Ich hatte eine kleine Wanderung über den Nussberg ganz nach hinten und dann retour durch den finsteren Graben erwogen, aber weil ich im Stiegenhaus realisierte, dass ich dafür die falschen Schuhe anhatte, und außerdem meiner Frau ab 15 Uhr zum Einkaufen zur Verfügung stehen sollte, habe ich den Mut verloren und bin in mein Lieblingscafé gefahren. Dort sitze ich jetzt beim ersten Cappuccino und immer noch die Sechzigerjahre-Mainstream-Musik, die mich ob ihrer Seichte schon etwas nervt und einiges triggert. Jetzt kommt doch ein schönes Lied, ich kenne es und weiß nicht mehr von wem und wie es heißt und vermute aus viel späteren Zeiten (Landslide von Fleetwood Mac, 1975 – da sind Ewigkeiten dazwischen).

Verbitterung hat von mir Besitz ergriffen, ich fühle mich ganz verkannt (solche Gefühle sind meistens ganz unangemessen, und wenn nicht, dann führen sie nicht weiter. Besser du befreist dich davon. Du kennst doch „den Tod als Ratgeber benutzen“! - der innere Kritiker). Es hilft nichts: mir ist zum Heulen (aber ich heule nicht). Ich sehne mich danach, einmal 12 Stunden lang den ganzen Schmerz meines Lebens rauszuweinen, bis nichts mehr übrig ist, aber etwas in mir erlaubt das nicht, als könnte ich mir das nicht leisten, als dürfte ich das nicht, als wäre ich dazu nicht berechtigt! Vielleicht darf ich das im Sterben. (So! Bitte brems dich ein – ein jedes Lebewesen in der Welt ist dem ausgesetzt; freilich darfst du weinen und dich vom – wirklichen! - Schmerz befreien, aber bitte! - verstrick dich nicht darin. Bitte! - der innere Kritiker.) Fast heule ich über den Wind, der die Platanenzweige zum Tanzen bringt. Fast weine ich über den plötzlich leeren Gastgarten draußen, der sich jetzt so sinnlos und vergeblich ausbreitet. Fast weine ich über das schöne Sonnenlicht auf den Fassaden der gegenüber stehenden 19.-Jahrhundert-Häuser. Die Gastgartenlampe – mitten am Tag natürlich nicht aufgedreht – reckt sich auch sinnlos, moderat und bescheiden. Schulkinder mit ihren großen, schweren Schultaschen, den Hoffnungen und Erwartungen am Rücken gehen halbwegs fröhlich vorbei. Es ist das erste Mal, dass mir ein Song von Nina Simone auf die Nerven geht (anscheinend liegt dir mehr der europäische, romantische, weiße, alte Schmerz – der innere Spötter). Greifen wir zum Falter.

Zum Falter gegriffen und auszugsweise gelesen und bei Bob Marley’s Songs of Freedom wieder an den Kleiderhaken gehängt. Und jetzt? Cappuccino zwei oder kleine Stadtwanderung? Stadtwanderung! (Beim Zahlen war schon ein kleiner, freundlicher Scherz möglich.)

14:16. Auf meiner kleinen Stadtwanderung vom Espresso Burggasse nach Hause raste ich Am Gestade, diesmal mit dem schönen Blick auf die frühneuzeitlichen Häuser, weil ich mich getraut habe, die Dame auf der schattigen Bank zu fragen, ob ich hier auch Platz nehmen dürfte. Die Wanderung mit dem Heulwürgen in Brust und Hals und in unrekonstruierbaren Gedankenfluchten (meine Niederlagen, die Attacken, Rechtfertigungen und Verteidigungen vorm inneren Gericht und Ausdenken und Durchspielen von meinen nicht gehaltenen, aber erfolgreichen Vorträgen). Bei einer Kunsthandlung in der Nähe vom Café Zentral habe ich – wie immer – erwartungsvoll in die Auslagen gegafft. Jahrelang waren dort oft und immer wieder Max-Weiler-Arbeiten zu sehen, aber jetzt hat sie sich anscheinend den Touristenbedürfnissen unterworfen und vielleicht auch aus Überlebensnotwendigkeit („Überleben“ vermutlich auf hohem finanziellen Niveau) angepasst und zeigt nur mehr Klimt und Ähnliches. Schade! Sehr schade! Diese Kunsthandlung war immer ein Lichtpunkt auf meinen Stadtwanderungen (und ich habe auch heute nicht zufällig meinen Weg dort vorbeigehen lassen). Ich habe mich eh nie – nur einmal vor vielen Jahren, unterwürfig um Erlaubnis fragend und unter dem sofortigen Bekenntnis, dass ich kein potenter Kunde sein kann – hineingetraut. Schade! Mir geht diese ständige, hysterische Hubschrauberfliegerei über der Stadt auf die Nerven; was geht mich der ganze Scheißdreck an!?! 22°C hat es und ich blicke Richtung 229°SW – um das ganze irgendwie einzuordnen. Der Wind schüttelt die drei krankhaften Bäume hinter mir (jetzt übertreibt er wieder! Wirklich eindeutig krank ist nur das Bäumelein in der Mitte, die anderen zwei Linden könnten noch einigermaßen gesund sein – der innere Korrektor). Träumelein ist keines heruntergefallen und nicht nur Pommerland ist abgebrannt. Die Kirchturmuhr von Miriam am Gestade schlägt halb. „Reiß dich zusammen!“ sagt sie zu mir. Ich will mich nicht mehr zusammenreißen (und tut es doch! Er kann nicht ungehorsam sein – der innere Spötter). In ein paar Tagen werde ich – so Gott will – wieder hier sitzen und auf den Zeitpunkt zum Aufbruch zum Zahntermin warten. Ich gehe weiter. Ich kann mich nicht befreien; ich stecke immer noch im schwarzen Erdrutsch aus Verzweiflung.


(10.9.2024)


©Peter Alois Rumpf September 2024 peteraloisrumpf@gmail.com

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