Ich gehe in der Stadt umher und da fällt mir ein: ich habe
ja noch eine alte Wohnung, wo ich früher in Armut gelebt habe. Ich schaffte es
bisher nicht, das ganze Zeug, das ich dort zurückgelassen habe, zu sichten und
das Unnötige endlich zu entsorgen und die Wohnung aufzulösen. Darum quält mich
sofort schlechtes Gewissen, wenn mir die Wohnung in den Sinn kommt und deshalb
dränge ich den Gedanken daran mit allen Kräften von mir weg. Und weil mir das
Haus als heruntergekommener Bau unsympathisch ist, komme ich nur ungern hin, um
nach dem Rechten zu sehen.
Es ist jedoch höchste Zeit, in dieser winzigen
Souterrain-Einzimmerwohnung wieder einmal Nachschau zu halten, ob alles in
Ordnung ist, ob Ratten eingedrungen sind, um eventuell ein wenig sauber zu
machen, das Postkästchen zu leeren und so weiter. Ich beschließe, jetzt sofort
hinzufahren. Wann, wenn nicht jetzt, wer, wenn nicht ich. Nachher werde ich das
ungute Gefühl los sein.
Weil ich so selten dort bin und mein Gedächtnis schon so
schlecht ist, weiß ich nicht mehr genau, wo diese Wohnung liegt. Im Westen der
Stadt, der untergehenden Sonne zu – das ist klar, aber wie heißt nur die Gasse
und wie komme ich dort hin? Ich habe keine große Lust, in dieser schäbigen,
gesichtslosen Gegend herumzuirren, wo mir alles roh und feindlich
und laut erscheint und ich mich völlig fremd und am falschen Ort fühle. Aber
ich stelle jetzt fest, dass hier einiges umgebaut worden ist, und Gassen neu gestaltet. Ich staune darüber, aber
brauche länger, um mich in der veränderten Umgebung zurecht und meine Wohnung
zu finden.
Doch! Da ist des gesuchte Haus. Ich erinnere mich jetzt,
dass auch die Wohnung vor einigen Monaten renoviert wurde. Ich bin sehr
erleichtert und werfe nur einen kurzen Blick hinein und erkenne, dass der
Türstock erneuert und frisch in schönem dunklem Rot lackiert ist und auch sonst
alles unversehrt. Ich bin sehr erleichtert, alles in verhältnismäßig gutem
Zustand vorzufinden und will trotzdem schnell wieder weg, ganz froh darüber,
einen besseren Unterschlupf gefunden zu haben und nicht mehr halb unter der Erde leben zu
müssen.
Ach ja! Gleich ein paar Gassen weiter ist doch mein altes
Atelier! Das mit der eigenartigen Gasheizung unter dem Plafond. Wie konnte ich
das vergessen? Auch das suche ich nur ungern auf, voller schlechtem Gewissen,
dass ich dort nur wenig gearbeitet habe. Ich bin sehr erleichtert, als mir
die Erinnerung einschießt, dass dort doch zurzeit meine REM-Freunde arbeiten
und Ausstellungen vorbereiten; also muß jetzt ich nicht hingehen.
Dann taucht eine vage Erinnerung wie von Ferne auf: es gibt neben dieser Wohnung und diesem Atelier irgendwo, nicht allzu weit entfernt eine zweite
Wohnung, die mir gehört, und um die – völlig in Vergessenheit geraten -
ich mich schon lange nicht mehr gekümmert habe. Ich weiß nur, dass sie noch
weiter im Westen liegt, noch mehr in Richtung Sonnenuntergang.
Ich marschiere los, diese Wohnung zu finden. Allmählich und
stückweise erinnere ich mich an den Weg. „Da müßte ich weiter gehen“, denke
ich. Zwar bin ich unsicher, aber der gewählte Weg stellt sich immer als der
richtige heraus.
Ich habe schon lange die Stadt verlassen und wandere auf
einer Straße, die durch Wiesen und Wälder führt. Meine Stimmung ist jetzt
Neugier und mich plagt kein ungutes Gefühl oder Abscheu, wenn ich an diese
Wohnung denke. Gerade steige ich auf der schmalen, asphaltierten Landstraße
einen ansteigenden lichten Wald hinauf. Sie führt wieder ein Stück nach Osten.
Es gibt hier im Moment keinen Autoverkehr, weit und breit keine Siedlung.
Rechts befindet sich nun eine Ausweichstelle, wo zwei Arbeiter in blauer Montur
stehen, der eine redet auf seine Schaufel gelehnt zum anderen, der legère und
unangestrengt den angeschwemmten Schotter und Zweige und angemodertes
Blätterzeugs aus der Ausweich- und Parkstelle schaufelt.
Ich gehöre ja zu den Männern, die auch Angst oder zumindest
ein mulmiges Gefühl haben, wenn sie in einsamer Gegend auf einen anderen Mann
oder gar eine Männergruppe stoßen. So ist es auch hier bei den
Straßenarbeitern. Da jedoch helllichter Tag ist, sommerlich, ein schöner,
leicht bewölkter Himmel, und die zwei Männer mit sich und ihrer Arbeit
beschäftigt sind, gerate ich nicht in Panik, sondern fahre bloß alle meine
seelischen Antennen, Fühler und Radar aus, wachsam, aber ohne wirklich Gefahr
zu erwarten und gehe auf der linken Straßenseite bis zur Ausweichstelle. Ich
grüße verstohlen und zu leise die beiden Männer und lege noch ein eher arrogant
rüberkommendes Kopfnicken drauf. Möglichst normal und unauffällig vorbeikommen
ist meine Devise. Gerade rechtzeitig erinnere ich mich, dass ich hier ja nach
links abbiegen muß. So komme ich auf einen gut erkennbaren Pfad, der durch eine
mit Gebüsch und jungen Bäumen bestandene Leite führt.
Jetzt erinnere ich mich besser und während ich diesen Weg
Richtung Norden bergan gehe, dämmert mir, dass es hier nicht bloß um eine
Wohnung, sondern um ein Haus geht, das mir gehört. Ich wandere flott diesen
schönen Weg hinauf, voller Vorfreude und Neugier, es dürfte Nachmittag sein und
nicht mehr sehr weit. Höchstens zehn Minuten.
Und wirklich, bald trete ich auf eine Wiese hinaus, die in
einer sanften, weiten Senke liegt, eingerahmt von grasbewachsenen Bergen – wir
sind hier nicht im Hochgebirge, sondern in einer milden Almlandschaft, in der
sich Wiesen und kleine Laubwäldchen abwechseln. Mitten in dieser schönen,
freien Senke steht das Haus.
Das ist keine auf rustikal getrimmte Jagdhütte mit
Hirschgeweihen, sondern ein schlichter, einstöckiger Ziegelbau, nicht zu groß,
nicht zu klein, in angenehmen, unaufgeregten Proportionen. Ich gehe auf das
Haus zu. Es gibt keine Eingangsstufen, keine Vorbauten oder sonst etwas in der
Art, die Tür führt direkt von der flachen Wiese ins Haus. Diese Tür, die sich
an der Längsseite, also südlich, im linken Drittel befindet, ist angelehnt; ich
öffne sie ganz um in mein Haus einzutreten und bleibe überrascht stehen: in
diesem Raum, der das gesamte Erdgeschoß umfaßt, steht links an der Breitseite
ein riesengroßer Flachbildschirm an der Wand, und ein paar Meter davor sitzt in
einem gepolsterten und mit Decken ausstaffierten Lehnstuhl eine dürre, uralte
Frau. Ein paar Meter hinter ihr, wieder in einem ähnlich zubereiteten Lehnstuhl
sitzt eine weitere, etwas rundlichere uralte Frau.
Ich stutze, trete nicht ein. Die beiden Greisinnen wenden
mir ihre Gesichter zu, aber sie sagen nichts. Auch ich bleibe stumm und schaue
nur entgeistert. Im ersten Moment ist mir der Anblick dieser Greisinnen etwas
unangenehm. Vor allem der der ersten, die direkt vor mir auf Höhe der Tür sitzt
und somit stärker in meinem Fokus, ihre unzähligen Falten und Runzeln in ihrem
ururalten Gesicht irritieren mich anfangs. Die zweite sitzt rechts im dunkleren
Teil des Raumes, der von dem Licht, das durch die geöffnete Tür fällt, nicht so
gut erreicht wird und deshalb undeutlicher bleibt. Wie gesagt, sie ist nicht so
mumienhaft dürr, und könnte im Vergleich zur ersten ein paar Jahrhunderte
jünger sein.
Diese erste, dürre mumienhafte Greisin ist vielleicht schon
Jahrtausende alt, aber bei beiden besteht kein Zweifel, dass sie leben.
Genausowenig besteht ein Zweifel darüber, dass dieses Haus mir gehört. Dennoch
habe ich nicht eine Sekunde den Eindruck, dass die beiden mir das Haus
weggenommen, okkupiert oder besetzt haben. Sie gehören hierher, obwohl ich sie
weder kenne noch erwartet habe. Es geht nichts Schreckliches von ihnen aus, ich
habe überhaupt keine Angst, mein
unangenehmes Gefühl ist einer Haltung respektvoller Höflichkeit den Alten
gegenüber gewichen. Deshalb betrete ich den Raum nicht.
Aber wer sind sie? Ahnfrauen? Haben sie mir etwas zu sagen?
Warten sie auf mich? Warten sie, dass ich eintrete? Ich murmle noch vor mich
hin, dass für jetzt meine Wohnung wohl noch oben im Dachgeschoß ist. Aber ich
bleibe noch in der Tür stehen. Mir gefällt dieser unprätentiöse Eingang von der
Wiese direkt ins den Raum so sehr! Und erst der Raum selbst! Groß für so ein
altes Haus, einfache alte, weiße Wände, kaum Möbel, recht leer und unverstellt.
Ich liebe diesen Raum! Ich bekomme eine unglaubliche Sehnsucht nach diesem
Raum. Ich spüre diese Sehnsucht körperlich als schmerzhaftes Ziehen von meiner
Leibesmitte unterhalb des Nabels aus, als würde sich ein kräftiges Tentakel von
dieser Stelle ins Haus hinein ziehen. Auch die Gegend sagt mir zu: eine offene
Senke, und dennoch von Bergen geschützt. Keine Angst, kein Horror, kein
Zweifel, dass dieses schöne Haus mir gehört. Um in diesem wunderebaren Raum
leben zu können, muß ich noch etwas warten. Das weiß ich jetzt. Es ist wirklich
kein Problem! Für Döbraniten: „Wesentliche Verbesserung der Wohnsituation -
Wohnen im Grünen.“ (Münchner Rhythmen Lehre)
(31.10/1./2.11.2020)
©Peter Alois Rumpf Oktober/November
2020 peteraloisrumpf@gmail.com