Dienstag, 24. November 2020

2080 Mit sanfter Gewalt

 

Das Schönste an meinem Abendritual (heute um 2:17 a.m.) ist das Öffnen des Zimmerfensters zum Zwecke der Frischluftzufuhr. Frischluft ist vielleicht etwas übertrieben, denn der Luft aus dem Lichtschacht haftet immer etwas modriges an. Aber egal. Zwar muß ich mich zum Lüften immer etwas überreden – einer meiner inneren Konsorten sagt: Ach was! Lüft halt nicht! - aber wenn ich dann das Fenster öffne, mach ich es gern.

Mein Zimmerfenster ist ein altes Kastenfenster, zweimal zwei Fensterflügel, und die äußeren zwei sind schon recht lädiert. Ich muß mich über den Schreibtisch gebeugt recht strecken, um die Triebolive (so heißt das Ding zum Auf- und Zumachen des Fensters; habe extra nachgeschaut, ich hätte es provisorisch Fensterschnalle genannt) zu erreichen und durch drehen derselben die Sperre zu öffnen. An und für sich würde man nach der Entsperrung an diesem Drehding den rechten Fensterflügel aufziehen, aber das geht hier nicht, denn das T-förmige Ding ist in der Achse abgebrochen. Das heißt, ich kann das Ding (man merkt, ich bin mit dem gerade gegoogelten Wort „Triebolive“ noch nicht heimisch geworden) zwar zum Öffnen drehen, aber wenn ich anziehe, habe ich den Griff – genauer gesagt: den Querbalken vom T und ein Stück vom Längsbalken – in der Hand und das Fenster ist zu geblieben. Dieses Stück dürfte deshalb abgebrochen sein, weil der verzogene Flügel etwas klemmt. Also kann ich das Fenster auch nicht öffnen, indem ich den Flügel einfach beim Rahmen packe und aufziehe. Ich muß nämlich den Rahmen unten etwas anheben, damit sich das Fenster öffnen läßt. Dieses Anheben sollte recht konzentriert und sanft vor sich gehen. Wirklich sanft, sonst hebe ich den Fensterflügel aus seinen Angeln (wie Tischler sagen: das Weibl vom Mandl) und er kippt bestenfalls mir entgegen, schlimmstenfalls saust er den Lichtschacht hinunter und knallt dort auf. Und meines Wissens sind dort unten auch zwei Wohnungseingangstüren. Gut, um diese Zeit werden eher wenige Leute unterwegs sein. Aber dennoch.

Und genau dieses konzentrierte und wahrlich sanfte, beherrschte Hochheben des Fensterflügels liebe ich: meine Kraft muß genau im richtigen Ausmaß eingesetzt werden. Eine schöne Abendübung, wo ich jedesmal Unlust, Müdigkeit und Ungeduld bezähmen muß und die dabei entstandene Stille genießen darf.

 

 

(23./24.11.2020)

 

©Peter Alois Rumpf   November 2020   peteraloisrumpf@gmail.com

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