Montag, 2. November 2020

2060 Mein Haus

 

Ich gehe in der Stadt umher und da fällt mir ein: ich habe ja noch eine alte Wohnung, wo ich früher in Armut gelebt habe. Ich schaffte es bisher nicht, das ganze Zeug, das ich dort zurückgelassen habe, zu sichten und das Unnötige endlich zu entsorgen und die Wohnung aufzulösen. Darum quält mich sofort schlechtes Gewissen, wenn mir die Wohnung in den Sinn kommt und deshalb dränge ich den Gedanken daran mit allen Kräften von mir weg. Und weil mir das Haus als heruntergekommener Bau unsympathisch ist, komme ich nur ungern hin, um nach dem Rechten zu sehen.
Es ist jedoch höchste Zeit, in dieser winzigen Souterrain-Einzimmerwohnung wieder einmal Nachschau zu halten, ob alles in Ordnung ist, ob Ratten eingedrungen sind, um eventuell ein wenig sauber zu machen, das Postkästchen zu leeren und so weiter. Ich beschließe, jetzt sofort hinzufahren. Wann, wenn nicht jetzt, wer, wenn nicht ich. Nachher werde ich das ungute Gefühl los sein.

Weil ich so selten dort bin und mein Gedächtnis schon so schlecht ist, weiß ich nicht mehr genau, wo diese Wohnung liegt. Im Westen der Stadt, der untergehenden Sonne zu – das ist klar, aber wie heißt nur die Gasse und wie komme ich dort hin? Ich habe keine große Lust, in dieser schäbigen, gesichtslosen Gegend herumzuirren, wo mir alles roh und feindlich und laut erscheint und ich mich völlig fremd und am falschen Ort fühle. Aber ich stelle jetzt fest, dass hier einiges umgebaut worden ist, und Gassen neu gestaltet. Ich staune darüber, aber brauche länger, um mich in der veränderten Umgebung zurecht und meine Wohnung zu finden.

Doch! Da ist des gesuchte Haus. Ich erinnere mich jetzt, dass auch die Wohnung vor einigen Monaten renoviert wurde. Ich bin sehr erleichtert und werfe nur einen kurzen Blick hinein und erkenne, dass der Türstock erneuert und frisch in schönem dunklem Rot lackiert ist und auch sonst alles unversehrt. Ich bin sehr erleichtert, alles in verhältnismäßig gutem Zustand vorzufinden und will trotzdem schnell wieder weg, ganz froh darüber, einen besseren Unterschlupf gefunden zu haben und  nicht mehr halb unter der Erde leben zu müssen.

Ach ja! Gleich ein paar Gassen weiter ist doch mein altes Atelier! Das mit der eigenartigen Gasheizung unter dem Plafond. Wie konnte ich das vergessen? Auch das suche ich nur ungern auf, voller schlechtem Gewissen, dass ich dort nur wenig gearbeitet habe. Ich bin sehr erleichtert, als mir die Erinnerung einschießt, dass dort doch zurzeit meine REM-Freunde arbeiten und Ausstellungen vorbereiten; also muß jetzt ich nicht hingehen.

Dann taucht eine vage Erinnerung wie von Ferne auf: es gibt neben dieser Wohnung und diesem Atelier irgendwo, nicht allzu weit entfernt eine zweite Wohnung, die mir gehört, und um die – völlig in Vergessenheit geraten - ich mich schon lange nicht mehr gekümmert habe. Ich weiß nur, dass sie noch weiter im Westen liegt, noch mehr in Richtung Sonnenuntergang.

Ich marschiere los, diese Wohnung zu finden. Allmählich und stückweise erinnere ich mich an den Weg. „Da müßte ich weiter gehen“, denke ich. Zwar bin ich unsicher, aber der gewählte Weg stellt sich immer als der richtige heraus.

Ich habe schon lange die Stadt verlassen und wandere auf einer Straße, die durch Wiesen und Wälder führt. Meine Stimmung ist jetzt Neugier und mich plagt kein ungutes Gefühl oder Abscheu, wenn ich an diese Wohnung denke. Gerade steige ich auf der schmalen, asphaltierten Landstraße einen ansteigenden lichten Wald hinauf. Sie führt wieder ein Stück nach Osten. Es gibt hier im Moment keinen Autoverkehr, weit und breit keine Siedlung. Rechts befindet sich nun eine Ausweichstelle, wo zwei Arbeiter in blauer Montur stehen, der eine redet auf seine Schaufel gelehnt zum anderen, der legère und unangestrengt den angeschwemmten Schotter und Zweige und angemodertes Blätterzeugs aus der Ausweich- und Parkstelle schaufelt.

Ich gehöre ja zu den Männern, die auch Angst oder zumindest ein mulmiges Gefühl haben, wenn sie in einsamer Gegend auf einen anderen Mann oder gar eine Männergruppe stoßen. So ist es auch hier bei den Straßenarbeitern. Da jedoch helllichter Tag ist, sommerlich, ein schöner, leicht bewölkter Himmel, und die zwei Männer mit sich und ihrer Arbeit beschäftigt sind, gerate ich nicht in Panik, sondern fahre bloß alle meine seelischen Antennen, Fühler und Radar aus, wachsam, aber ohne wirklich Gefahr zu erwarten und gehe auf der linken Straßenseite bis zur Ausweichstelle. Ich grüße verstohlen und zu leise die beiden Männer und lege noch ein eher arrogant rüberkommendes Kopfnicken drauf. Möglichst normal und unauffällig vorbeikommen ist meine Devise. Gerade rechtzeitig erinnere ich mich, dass ich hier ja nach links abbiegen muß. So komme ich auf einen gut erkennbaren Pfad, der durch eine mit Gebüsch und jungen Bäumen bestandene Leite führt.

Jetzt erinnere ich mich besser und während ich diesen Weg Richtung Norden bergan gehe, dämmert mir, dass es hier nicht bloß um eine Wohnung, sondern um ein Haus geht, das mir gehört. Ich wandere flott diesen schönen Weg hinauf, voller Vorfreude und Neugier, es dürfte Nachmittag sein und nicht mehr sehr weit. Höchstens zehn Minuten.

Und wirklich, bald trete ich auf eine Wiese hinaus, die in einer sanften, weiten Senke liegt, eingerahmt von grasbewachsenen Bergen – wir sind hier nicht im Hochgebirge, sondern in einer milden Almlandschaft, in der sich Wiesen und kleine Laubwäldchen abwechseln. Mitten in dieser schönen, freien Senke steht das Haus.

Das ist keine auf rustikal getrimmte Jagdhütte mit Hirschgeweihen, sondern ein schlichter, einstöckiger Ziegelbau, nicht zu groß, nicht zu klein, in angenehmen, unaufgeregten Proportionen. Ich gehe auf das Haus zu. Es gibt keine Eingangsstufen, keine Vorbauten oder sonst etwas in der Art, die Tür führt direkt von der flachen Wiese ins Haus. Diese Tür, die sich an der Längsseite, also südlich, im linken Drittel befindet, ist angelehnt; ich öffne sie ganz um in mein Haus einzutreten und bleibe überrascht stehen: in diesem Raum, der das gesamte Erdgeschoß umfaßt, steht links an der Breitseite ein riesengroßer Flachbildschirm an der Wand, und ein paar Meter davor sitzt in einem gepolsterten und mit Decken ausstaffierten Lehnstuhl eine dürre, uralte Frau. Ein paar Meter hinter ihr, wieder in einem ähnlich zubereiteten Lehnstuhl sitzt eine weitere, etwas rundlichere uralte Frau.
Ich stutze, trete nicht ein. Die beiden Greisinnen wenden mir ihre Gesichter zu, aber sie sagen nichts. Auch ich bleibe stumm und schaue nur entgeistert. Im ersten Moment ist mir der Anblick dieser Greisinnen etwas unangenehm. Vor allem der der ersten, die direkt vor mir auf Höhe der Tür sitzt und somit stärker in meinem Fokus, ihre unzähligen Falten und Runzeln in ihrem ururalten Gesicht irritieren mich anfangs. Die zweite sitzt rechts im dunkleren Teil des Raumes, der von dem Licht, das durch die geöffnete Tür fällt, nicht so gut erreicht wird und deshalb undeutlicher bleibt. Wie gesagt, sie ist nicht so mumienhaft dürr, und könnte im Vergleich zur ersten ein paar Jahrhunderte jünger sein.

Diese erste, dürre mumienhafte Greisin ist vielleicht schon Jahrtausende alt, aber bei beiden besteht kein Zweifel, dass sie leben. Genausowenig besteht ein Zweifel darüber, dass dieses Haus mir gehört. Dennoch habe ich nicht eine Sekunde den Eindruck, dass die beiden mir das Haus weggenommen, okkupiert oder besetzt haben. Sie gehören hierher, obwohl ich sie weder kenne noch erwartet habe. Es geht nichts Schreckliches von ihnen aus, ich habe überhaupt keine Angst,  mein unangenehmes Gefühl ist einer Haltung respektvoller Höflichkeit den Alten gegenüber gewichen. Deshalb betrete ich den Raum nicht.

Aber wer sind sie? Ahnfrauen? Haben sie mir etwas zu sagen? Warten sie auf mich? Warten sie, dass ich eintrete? Ich murmle noch vor mich hin, dass für jetzt meine Wohnung wohl noch oben im Dachgeschoß ist. Aber ich bleibe noch in der Tür stehen. Mir gefällt dieser unprätentiöse Eingang von der Wiese direkt ins den Raum so sehr! Und erst der Raum selbst! Groß für so ein altes Haus, einfache alte, weiße Wände, kaum Möbel, recht leer und unverstellt. Ich liebe diesen Raum! Ich bekomme eine unglaubliche Sehnsucht nach diesem Raum. Ich spüre diese Sehnsucht körperlich als schmerzhaftes Ziehen von meiner Leibesmitte unterhalb des Nabels aus, als würde sich ein kräftiges Tentakel von dieser Stelle ins Haus hinein ziehen. Auch die Gegend sagt mir zu: eine offene Senke, und dennoch von Bergen geschützt. Keine Angst, kein Horror, kein Zweifel, dass dieses schöne Haus mir gehört. Um in diesem wunderebaren Raum leben zu können, muß ich noch etwas warten. Das weiß ich jetzt. Es ist wirklich kein Problem! Für Döbraniten: „Wesentliche Verbesserung der Wohnsituation - Wohnen im Grünen.“ (Münchner Rhythmen Lehre)

 

 

(31.10/1./2.11.2020)

 

©Peter Alois Rumpf   Oktober/November 2020   peteraloisrumpf@gmail.com

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