2059 Das blaue Zimmer
Oder sagt die junge Frau in Vuillards blauem Zimmer „Nein!“
und wendet sich ab? Mir kommt vor, sie tritt mit ihrem linken Fuß auf den
Außenrist auf, den Kopf dreht sie weg. Diese Kopf- und Fußhaltung verraten doch
große Anspannung. Oder ist es Koketterie? Glaubte sie „Ja!“ sagen zu müssen und
ihre innerste Seele sagt „Nein!“? Oder ihr innerster Kern sagt „Ja!“, aber die
Konvention zwingt sie zu äußerlichen Abwehrgesten? Oder sind es gar keine
Abwehrgesten, sondern – wie den Hals darbieten – archaische Gesten der Hingabe?
Oder der Unterwerfung?
Am Boden kriecht – bisher ist mir das gar nicht so
aufgefallen, beziehungsweise habe es für Felle, Decken, Teppiche gehalten – am
Boden kriecht ihr formloses Gelb und Rot entgegen. Entjungferung? Oder sie ist
doch schon schwanger – der weite Morgenmantel zeigt es nicht – und die Geburt
kündigt sich schon an? Ist dieses weiße Licht kein Erz- oder sonstiger Engel im
Prozeß zur Erscheinung zu werden, sondern das begehrlich-übergriffige Gedanken-
und Tatvorbereitungs-Energie-Konglomerat des Malers? Und das formlose Gelb und
Rot sind abgeworfene Kleidungsstücke? Sagt sie ja und es ist ein erotisches
Spiel, sagt sie nein und sie steht in einer inneren und äußeren Falle? Mich
dünkt, die graue Tür ist nur als Scheintür auf die Wand gemalt und läßt sich
gar nicht öffnen? Gibt es für die Frau keinen Ausweg? Oder ist alles ganz
normal – was immer das ist?
Werefkins Nachtschwärmer und Sturmwind. Hier raste ich.
Ersteres Bild: ziemlich Vollmond. Zweites: knapp vor Neumond. Das Café im
zweiten wirkt so modern, auch die Kleidung der drei Figuren. Eine frühe, bunte
Blue-Box am Rande eines Waldes und der Stadt mit einer großen, lichtwerfenden Fensterfront.
Ein Nachtasyl für … alle möglichen Gestalten.
Wie immer setze ich mich andächtig und berührt vor
Kokoschkas Städte und mir fällt nichts mehr ein: so schön! So schön! Das
erlöste London. Das untergangsgeweihte Dresden leuchtet noch von innen heraus
ein wenig auf, die hintergründige Elbe spiegelt bereits den künftigen Schmerz
und die künftige Schuld.
An Boeckls Mädchenbildnis bin ich oft vorbeigegangen und
habe es nur am Rande registriert, von den Kokoschkas noch ganz voll. Heute bin
ich endlich stehen geblieben: ein wunderschönes, kraftvoll-zartes Bild.
Vorm Spiegel hinterm depperten Kardinal – den ich wegen
meiner ständigen Beschimpfungen schon fast lieb gewinne – mach ich zwei Selfies
für mein Facebook-Album „Albertina“, oder eventuell für das „Zur Feier des
Eigendünkels“. Das muß ich erst entscheiden.
Die Klees in diesem Gang: heute bleibe ich bei seiner
„Krähenlandschaft“ stehen und kichere innerlich bei seinem „Blau Mantel“.
Vorm „gotischen“ Arbeiter der Motesiczky bleibe ich wieder
sitzen. An und für sich finde ich „gotisch“ als zu Recht ein Schimpfwort – nur
hier wende ich es wirklich positiv an (und ich meine nicht, dass der Mann wie
eine gotischen Menschengestalt gemalt ist, sondern den Zug nach oben , die
Schlankheit und die Konstruktion eines gotischen Bauwerks hat), also positiv,
denn der Arbeiter hat in seiner Schlichtheit etwas Prophetisches. Oder etwas
vom Wundertäter, der kein Wunder vollbringt. Aber – im Gegensatz zur Gotik –
nichts Leidensmanisches. Sein Kopf ist groß und wirklichkeitsvoll. Von mir aus
dürfte er auch saufen – wofür überhaupt keine Anzeichen zu sehen sind – ich
meine nur: das würde seinem prophetischen Habitus keinen Abbruch tun. Ein
freundlicher, klarer Mann. (Ich glaub, ich bin der subjektivistischeste Bildbeschreiber,
den man sich vorstellen kann: total narzisstisch verblendet und schamlos
projizierend.) Und ihr Kröpflsteig bei Hinterbrühl.
Giacomettis vier Frauen, ihre Schatten und seine Landschaft.
Ich werde nervös und schaue nach der Zeit, weil ich anschließend einen Termin
habe. Ich hatte mich heute gezwungen, früh aufzustehen und nach Erledigungen in
die Albertina zu fahren, weil ein neuer Lockdown zu drohen scheint. Nicht, dass
es mir schwer fällt, die Wohnung nicht zu verlassen; im Gegenteil. Aber die Albertina
ist zur Zeit mein einziges Ausflugsziel, das zu erreichen ich schaffe. Mein
Geist fliegt dann wirklich aus, bis soweit, dass ich die Schatten der
großartigen Skulpturen mehr auf mich wirken lasse, als die Figuren selbst. (Bei
seiner „Schmalen Büste auf Sockel“ - ein Selbstporträt? - die recht breit
aufgestellt ist, ergibt der transparent leuchtende Schatten nur einen schmalen
Zapfen.)
(30.10.2020)
©Peter Alois Rumpf
Oktober 2020
peteraloisrumpf@gmail.com
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