Freitag, 30. Oktober 2020

2059 Das blaue Zimmer

 

Oder sagt die junge Frau in Vuillards blauem Zimmer „Nein!“ und wendet sich ab? Mir kommt vor, sie tritt mit ihrem linken Fuß auf den Außenrist auf, den Kopf dreht sie weg. Diese Kopf- und Fußhaltung verraten doch große Anspannung. Oder ist es Koketterie? Glaubte sie „Ja!“ sagen zu müssen und ihre innerste Seele sagt „Nein!“? Oder ihr innerster Kern sagt „Ja!“, aber die Konvention zwingt sie zu äußerlichen Abwehrgesten? Oder sind es gar keine Abwehrgesten, sondern – wie den Hals darbieten – archaische Gesten der Hingabe? Oder der Unterwerfung?

Am Boden kriecht – bisher ist mir das gar nicht so aufgefallen, beziehungsweise habe es für Felle, Decken, Teppiche gehalten – am Boden kriecht ihr formloses Gelb und Rot entgegen. Entjungferung? Oder sie ist doch schon schwanger – der weite Morgenmantel zeigt es nicht – und die Geburt kündigt sich schon an? Ist dieses weiße Licht kein Erz- oder sonstiger Engel im Prozeß zur Erscheinung zu werden, sondern das begehrlich-übergriffige Gedanken- und Tatvorbereitungs-Energie-Konglomerat des Malers? Und das formlose Gelb und Rot sind abgeworfene Kleidungsstücke? Sagt sie ja und es ist ein erotisches Spiel, sagt sie nein und sie steht in einer inneren und äußeren Falle? Mich dünkt, die graue Tür ist nur als Scheintür auf die Wand gemalt und läßt sich gar nicht öffnen? Gibt es für die Frau keinen Ausweg? Oder ist alles ganz normal – was immer das ist?

 

Werefkins Nachtschwärmer und Sturmwind. Hier raste ich. Ersteres Bild: ziemlich Vollmond. Zweites: knapp vor Neumond. Das Café im zweiten wirkt so modern, auch die Kleidung der drei Figuren. Eine frühe, bunte Blue-Box am Rande eines Waldes und der Stadt mit einer großen, lichtwerfenden Fensterfront. Ein Nachtasyl für … alle möglichen Gestalten.

 

Wie immer setze ich mich andächtig und berührt vor Kokoschkas Städte und mir fällt nichts mehr ein: so schön! So schön! Das erlöste London. Das untergangsgeweihte Dresden leuchtet noch von innen heraus ein wenig auf, die hintergründige Elbe spiegelt bereits den künftigen Schmerz und die künftige Schuld.

 

An Boeckls Mädchenbildnis bin ich oft vorbeigegangen und habe es nur am Rande registriert, von den Kokoschkas noch ganz voll. Heute bin ich endlich stehen geblieben: ein wunderschönes, kraftvoll-zartes Bild.

 

Vorm Spiegel hinterm depperten Kardinal – den ich wegen meiner ständigen Beschimpfungen schon fast lieb gewinne – mach ich zwei Selfies für mein Facebook-Album „Albertina“, oder eventuell für das „Zur Feier des Eigendünkels“. Das muß ich erst entscheiden.

Die Klees in diesem Gang: heute bleibe ich bei seiner „Krähenlandschaft“ stehen und kichere innerlich bei seinem „Blau Mantel“.

 

Vorm „gotischen“ Arbeiter der Motesiczky bleibe ich wieder sitzen. An und für sich finde ich „gotisch“ als zu Recht ein Schimpfwort – nur hier wende ich es wirklich positiv an (und ich meine nicht, dass der Mann wie eine gotischen Menschengestalt gemalt ist, sondern den Zug nach oben , die Schlankheit und die Konstruktion eines gotischen Bauwerks hat), also positiv, denn der Arbeiter hat in seiner Schlichtheit etwas Prophetisches. Oder etwas vom Wundertäter, der kein Wunder vollbringt. Aber – im Gegensatz zur Gotik – nichts Leidensmanisches. Sein Kopf ist groß und wirklichkeitsvoll. Von mir aus dürfte er auch saufen – wofür überhaupt keine Anzeichen zu sehen sind – ich meine nur: das würde seinem prophetischen Habitus keinen Abbruch tun. Ein freundlicher, klarer Mann. (Ich glaub, ich bin der subjektivistischeste Bildbeschreiber, den man sich vorstellen kann: total narzisstisch verblendet und schamlos projizierend.) Und ihr Kröpflsteig bei Hinterbrühl.

 

Giacomettis vier Frauen, ihre Schatten und seine Landschaft. Ich werde nervös und schaue nach der Zeit, weil ich anschließend einen Termin habe. Ich hatte mich heute gezwungen, früh aufzustehen und nach Erledigungen in die Albertina zu fahren, weil ein neuer Lockdown zu drohen scheint. Nicht, dass es mir schwer fällt, die Wohnung nicht zu verlassen; im Gegenteil. Aber die Albertina ist zur Zeit mein einziges Ausflugsziel, das zu erreichen ich schaffe. Mein Geist fliegt dann wirklich aus, bis soweit, dass ich die Schatten der großartigen Skulpturen mehr auf mich wirken lasse, als die Figuren selbst. (Bei seiner „Schmalen Büste auf Sockel“ - ein Selbstporträt? - die recht breit aufgestellt ist, ergibt der transparent leuchtende Schatten nur einen schmalen Zapfen.)

 

 

 

 

(30.10.2020)

 

©Peter Alois Rumpf   Oktober 2020   peteraloisrumpf@gmail.com

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