Donnerstag, 22. Oktober 2020

2050 Der innere Wecker

 

Offiziell war ich damals in den frühen Siebzigerjahren ein Klassenfeind, aber inoffiziell wurde ich doch Wahlbeisitzer. Das war das einzige Mal, dass ich einen Termin verschlafen hatte und mein innerer Wecker nicht funktioniert hat. Das einzige Mal. Sonst mußte ich mir nur vorm Einschlafen in Gedanken vorsagen: „um X-Uhr aufwachen!“ - und ich bin um X-Uhr aufgewacht. Egal, wie besoffen ich am Vorabend war. Auch bei diesem einzigen Mal, wo es nicht funktioniert hat, war ich am Vorabend ordentlich besoffen (Tanzen auf der Balustrade im ersten oder zweiten Stock der Eingangshalle der Universität Graz), aber das konnte nicht der Grund sein. Vielleicht doch eine mentale Reserve dagegen, auf der Liste der stalinistischen Maoisten als Beisitzer bei der Hochschülerschaftswahl zu fungieren. Weil sie nicht mehr genug Leute hatten, um die ihnen zustehenden Sitze in den Wahllokalen und Wahlkomissionen zu besetzen, haben sie auch linke klassenfeindliche Fraktionen gebeten, auszuhelfen.

Heute funktioniert der innere Wecker überhaupt nicht mehr. Ich habe keinen mich überzeugenden Grund, aufzuwachen. Selbst jetzt, nachdem mich meine Katze um 6 Uhr nach vierstündigem Schlaf aufgeweckt hat, und ich ihr Frühstück gemacht habe und bei der Gelegenheit unten in der Küche – wenn ich schon da bin – den Geschirrspüler ausgeräumt habe, was so lange gedauert hat, dass ich damit in einen passablen Wachzustand gekommen bin, und damit endlich die Chance besteht, meinen jahrelangen Vorsatz, früh am Morgen aufzustehen und zum offiziellen Tagesbeginn auch meinen Tag zu beginnen, durchzuführen, da weiß ich nicht, wieso ich das tun sollte. Die Idee wäre gewesen, den Optimismus der aufsteigenden Sonne fürs Tagewerk zu nützen – und dafür hätte ich mir sogar einen Mittagsschlaf erlaubt – was traumtechnisch ja auch ergiebig wäre. Aber ich stehe in der Küche und weiß nicht, was ich mit dem Vormittag anfangen könnte. In der Albertina war ich gestern und die sperrt erst um 10 Uhr auf. Und sonst? Ins Café gehen, um zu schreiben? Ich kann nicht so viel Geld ausgeben. Staubsaugen? Ist das um diese Zeit erlaubt? Ach, es ist noch so finster! Den Bücherberg neben meinem Bett einschlichten? Kein Platz mehr in den Bücherregalen. Kein Platz mehr für ein weiteres Regal in meinem Kemenatenreich. In der Stadt flanieren? Jetzt? Und ohne in Buchhandlungen und Antiquariaten zu stöbern? Wozu dann?

Nein, ich kann mir keinen überzeugenden Grund ausdenken, warum ich aufstehen sollte.

 

 

(22.10.2020)


©Peter Alois Rumpf   Oktober 2020   peteraloisrumpf@gmail.com

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