Ich steige heute in die U-Bahn. Nun, mit Bettlern und
Obdachlosenzeitungsverkäufern habe ich so ein eigenes Verhältnis. Auf Grund
eines Schlüsselerlebnisses vor Jahren in Berlin, nach einem Tensegrityworkshop
auf einer anderen Spur des Wahrnehmens und Empfindens, wo ich einem
heruntergekommenem Bettler – ob auf Alkohol oder anderen Drogen könnte ich
nicht sagen – der um ein paar Cent gebettelt hat, spontan ein paar Euromünzen
gegeben habe, aus dem tiefsten Empfinden heraus, daß wir gleich sind, nämlich
Lebewesen, die überleben wollen, und er mich groß angeschaut hat und sich
bedankt und schöne Weihnachten gewünscht hat, aus seiner verletzten Seele
heraus sicher aufrichtig, seitdem also gebe ich öfters Bettlern eine Münze. Das
ist inzwischen freilich etwas anderes geworden; diese „Erleuchtung“ stellt sich
nicht mehr ein; ich bin zum Teil in innere Zwänge geraten, so, daß ich manchmal
nur mehr schwer nein sagen kann – kurz, mein Geben hat seine Unschuld verloren.
Trotzdem habe ich auf meinen Wegen zu manchen Bettlern und Zeitungsverkäufern,
die in ihrer Ausstrahlung meist nichts mit meinem Berliner Freund zu tun haben,
eine akzeptable Beziehung. Ich gebe manchmal gerne eine Kleinigkeit, wir
verneigen uns dabei, oder ich schlage ein (orthodoxes) Kreuz, um dem ganzen
Vorgang einen nicht-dualen Anstrich zu geben, über das Ich – Du hinaus,
hinweisend auf den dritten Punkt im Unendlichen.
Aggressives oder anjammerndes Betteln mag ich nicht, auch
kein überfreundliches, lobhudelndes Getue, und Musikanten in der U-Bahn sind
für mich auch heikel, weil ich bei Musik sehr empfindlich sein kann und mir
alles Aufdringliche zuwider ist.
Heute also steige ich in die U-Bahn und setze mich. Es kommt
ein Mann herein, der sein Akkordeon auspackt – Akkordeonmusik kann mich sehr
schnell nerven – der Mann schaut mich an, aha, denke ich, der taxiert seine
potentiellen Opfer, ich gehe innerlich auf Abwehr und nehme mir vor: der
bekommt nichts. Außerdem weiß ich, daß ich keine Münzen eingesteckt habe. Ich
merke schon, daß der Blick dieses Menschen eigentlich nichts Verstecktes oder
Verschlagenes hat, sondern ganz offen wirkt. Er fängt zu spielen an und er
spielt gut. Es singt dabei ein schönes – wie ich vermute - rumänisches Lied,
flicht in die Melodie aber auch andere, bekanntere Melodien ein, wie zum
Beispiel Sous le ciel de Paris von der Piaf oder Que sera. Ja, sein Spiel
berührt mein Herz und mein Widerstand schmilzt. Noch während er spielt krame
ich einen Fünfeuroschein heraus.
Meine Lehrerin in Gewaltfreie Kommunikation hatte mir einmal
gezeigt – nachdem ich bei der Bezahlung der Stunde den Geldschein – wie ich es
gewohnt war – verschämt zusammengenudelt hatte, also zigmal gefaltet, anscheinend
um die Gabe oder mich selbst „kleiner“ und unauffälliger zu machen – sie hat
mir also gezeigt, wie man „richtig“ Geld gibt: auf jedem Euroschein ist eine
Brücke, und wenn man den Schein auseinandergefaltet so gibt, daß die Brücke
oben und sichtbar ist, dann stellt man über die Brücke eine Verbindung vom
Geber zum Nehmer her oder zeigt sie und bekennt sich zu ihr und offen zu dem
Geschäft, Handel oder was auch immer die Geldübergabe besiegelt. Man zeigt
damit, daß man das Geschäft, die Verbindung akzeptiert und würdigt.
So gebe ich dem Akkordeonspieler den Schein. Er verneigt
sich – ich tue mir immer noch schwer, den Menschen ins Gesicht zu blicken – so
nicke auch ich verlegen und er spielt weiter.
Sein Spiel berührt mich wirklich und mir steigen die Tränen
in die Augen. Ich schaue zu Boden, aber ich glaube, er hat es gemerkt. Der
Schmerz in meinem Leben steigt in meiner Seele hoch – es ist ja nicht ganz
leicht, mit diesem Friedhof an zerstörten Träumen und gescheiterten Hoffnungen
herumzulaufen – aber Gottseidank, es ist immer gut, wenn er herauskommt.
Der Akkordeonspieler hat inzwischen sein Spiel beendet, geht
mit seinem Becher durch die Reihen, bringt seine Bitte begleitet von guten
Wünschen im mehreren Sprachen vor und für mich ist es Zeit auszusteigen. Ich
stehe auf und gehe zur Waggontür. Wie ich zum Aussteigen ansetze kommt der
Akkordeonspieler her, bedankt sich nochmals bei mir – ich bin jetzt sicher, er
hat meine Trauer bemerkt – und berührt mich dabei mit einer zarten, feinen
Geste seiner Hand an der Schulter. In dieser Geste war nichts Aufdringliches,
Grenzüberschreitendes, nichts Distanzloses. Ich habe sie als echt und ehrlich
empfunden und sehr einfühlsam.
Wen das wundert oder unglaubwürdig vorkommt – vielleicht
kann ich das etwas näherbringen, wenn ich erzähle, wie ich es bei meiner Arbeit
im Callcenter mache. Wenn mir jemand ein Interview gegeben hat, dann sage ich
am Schluß immer „ … und ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend und alles
Gute für Sie!“ Bei mir nenne ich das immer meinen Schlußsegen. Und obwohl ich
mich über das Interview freue, weil es meine firmeninterne Statistik aufbessert
und ich daran verdiene, so meine ich es trotzdem ehrlich, egal, ob mir der
Mensch sehr oder weniger sympathisch war. Dieser „Segen“ ist das, was ich als
Dank zurückgeben kann. Ich freue mich wirklich und bin wirklich dankbar.
Ich steige mit dem Nachhall dieser Berührung aus der U-Bahn und ich muß
weinen. Ich steige nicht in die Straßenbahn, sondern gehe zu Fuß weiter. Die
Sonne scheint und wärmt und mir laufen ein paar Tränen die Wangen hinunter.
Nicht so viel, daß ich damit richtig angeben kann. Ich bedanke mich bei den
Kräften, die das Leben regieren, für diese Begegnung und den schönen Tag.
Später sitze ich in einem Café
um zu schreiben. Und zum Thema passend kommen zwei junge Frauen zum Betteln
herein. Ich will ihnen nichts geben und ich gebe ihnen auch nichts, eine jedoch
versucht mich heftig gestikulierend zu überreden und stößt dabei unabsichtlich
das Wasserglas vom Tischchen, es fällt hinunter und zerbricht. Sie lachen
verlegen. Der Kellner und der Besitzer des Cafés,
ein Ägypter, kommen und kehren die Scherben auf. Mir war die Bettelei dieser
jungen Frauen unangenehm, aber dennoch bin ich beeindruckt, daß der Besitzer
des Cafés die Bettler und
Zeitungsverkäufer zuläßt. Und ich finde es sehr angenehm, daß die ganze Szene
ohne Aggressionen abgegangen ist. Kein Geschimpfe, kein „Raus mit euch“, kein
„was habt ihr da angestellt!“ Nein, die Atmosphäre ist friedlich und
menschenfreundlich geblieben; davon könnte unsereiner einiges lernen.
Die Begegnung mit dem Akkordeonspieler wäre übrigens ein
gutes Beispiel für die Rekapitulation im Tod. Wenn ich beim Anschauen des
Lebensfilms an diese Stelle komme, was wird sich herausstellen? Daß ich mich
mit billiger Sentimentalität abfüttern habe lassen? Ich glaube es nicht, aber
es könnte sich herausstellen. Ich gehe nicht davon aus, daß ich bis in die
tiefsten Abgründe meiner Seele hinabsehe. Oder daß ich über nichts Erhabenes,
nichts Echtes geweint habe, sondern aus Selbstmitleid oder indem ich mich zum
Gutmenschen hochstilisiert von mir selber gerührt war. Oder daß ich, wenn ich
einem Bettler etwas gebe, mich überlegen fühle? Dann wäre meine Bezahlung dafür
immer zu wenig. Oder daß es dabei um Selbstbespiegelung geht; ich als einer,
der um Interviews bittet, hm, bettelt, sehe im Bettler mich selber. Oh, es gibt
viele Möglichkeiten für Selbstbetrug und Lebenslügen.
Es kann sich aber auch herausstellen, daß diese Begegnung in
Ordnung war, daß so, wie sie abgelaufen ist, jeder seine Würde behalten konnte
und wir einander das Leben ein wenig bereichert haben. Das muß auch betont
werden.
Das weiß ich jedoch: ich möchte mein Lebenslicht nicht
abgeben, ohne hinter die Fassaden meines Handelns geblickt zu haben.
(17.3.2017)
©Peter Alois Rumpf März
2017 peteraloisrumpf@gmail.com