Freitag, 17. März 2017

635 Der Akkordeonspieler

Ich steige heute in die U-Bahn. Nun, mit Bettlern und Obdachlosenzeitungsverkäufern habe ich so ein eigenes Verhältnis. Auf Grund eines Schlüsselerlebnisses vor Jahren in Berlin, nach einem Tensegrityworkshop auf einer anderen Spur des Wahrnehmens und Empfindens, wo ich einem heruntergekommenem Bettler – ob auf Alkohol oder anderen Drogen könnte ich nicht sagen – der um ein paar Cent gebettelt hat, spontan ein paar Euromünzen gegeben habe, aus dem tiefsten Empfinden heraus, daß wir gleich sind, nämlich Lebewesen, die überleben wollen, und er mich groß angeschaut hat und sich bedankt und schöne Weihnachten gewünscht hat, aus seiner verletzten Seele heraus sicher aufrichtig, seitdem also gebe ich öfters Bettlern eine Münze. Das ist inzwischen freilich etwas anderes geworden; diese „Erleuchtung“ stellt sich nicht mehr ein; ich bin zum Teil in innere Zwänge geraten, so, daß ich manchmal nur mehr schwer nein sagen kann – kurz, mein Geben hat seine Unschuld verloren. Trotzdem habe ich auf meinen Wegen zu manchen Bettlern und Zeitungsverkäufern, die in ihrer Ausstrahlung meist nichts mit meinem Berliner Freund zu tun haben, eine akzeptable Beziehung. Ich gebe manchmal gerne eine Kleinigkeit, wir verneigen uns dabei, oder ich schlage ein (orthodoxes) Kreuz, um dem ganzen Vorgang einen nicht-dualen Anstrich zu geben, über das Ich – Du hinaus, hinweisend auf den dritten Punkt im Unendlichen.

Aggressives oder anjammerndes Betteln mag ich nicht, auch kein überfreundliches, lobhudelndes Getue, und Musikanten in der U-Bahn sind für mich auch heikel, weil ich bei Musik sehr empfindlich sein kann und mir alles Aufdringliche zuwider ist.

Heute also steige ich in die U-Bahn und setze mich. Es kommt ein Mann herein, der sein Akkordeon auspackt – Akkordeonmusik kann mich sehr schnell nerven – der Mann schaut mich an, aha, denke ich, der taxiert seine potentiellen Opfer, ich gehe innerlich auf Abwehr und nehme mir vor: der bekommt nichts. Außerdem weiß ich, daß ich keine Münzen eingesteckt habe. Ich merke schon, daß der Blick dieses Menschen eigentlich nichts Verstecktes oder Verschlagenes hat, sondern ganz offen wirkt. Er fängt zu spielen an und er spielt gut. Es singt dabei ein schönes – wie ich vermute  - rumänisches Lied, flicht in die Melodie aber auch andere, bekanntere Melodien ein, wie zum Beispiel Sous le ciel de Paris von der Piaf oder Que sera. Ja, sein Spiel berührt mein Herz und mein Widerstand schmilzt. Noch während er spielt krame ich einen Fünfeuroschein heraus.

Meine Lehrerin in Gewaltfreie Kommunikation hatte mir einmal gezeigt – nachdem ich bei der Bezahlung der Stunde den Geldschein – wie ich es gewohnt war – verschämt zusammengenudelt hatte, also zigmal gefaltet, anscheinend um die Gabe oder mich selbst „kleiner“ und unauffälliger zu machen – sie hat mir also gezeigt, wie man „richtig“ Geld gibt: auf jedem Euroschein ist eine Brücke, und wenn man den Schein auseinandergefaltet so gibt, daß die Brücke oben und sichtbar ist, dann stellt man über die Brücke eine Verbindung vom Geber zum Nehmer her oder zeigt sie und bekennt sich zu ihr und offen zu dem Geschäft, Handel oder was auch immer die Geldübergabe besiegelt. Man zeigt damit, daß man das Geschäft, die Verbindung akzeptiert und würdigt.

So gebe ich dem Akkordeonspieler den Schein. Er verneigt sich – ich tue mir immer noch schwer, den Menschen ins Gesicht zu blicken – so nicke auch ich verlegen und er spielt weiter.
Sein Spiel berührt mich wirklich und mir steigen die Tränen in die Augen. Ich schaue zu Boden, aber ich glaube, er hat es gemerkt. Der Schmerz in meinem Leben steigt in meiner Seele hoch – es ist ja nicht ganz leicht, mit diesem Friedhof an zerstörten Träumen und gescheiterten Hoffnungen herumzulaufen – aber Gottseidank, es ist immer gut, wenn er herauskommt.

Der Akkordeonspieler hat inzwischen sein Spiel beendet, geht mit seinem Becher durch die Reihen, bringt seine Bitte begleitet von guten Wünschen im mehreren Sprachen vor und für mich ist es Zeit auszusteigen. Ich stehe auf und gehe zur Waggontür. Wie ich zum Aussteigen ansetze kommt der Akkordeonspieler her, bedankt sich nochmals bei mir – ich bin jetzt sicher, er hat meine Trauer bemerkt – und berührt mich dabei mit einer zarten, feinen Geste seiner Hand an der Schulter. In dieser Geste war nichts Aufdringliches, Grenzüberschreitendes, nichts Distanzloses. Ich habe sie als echt und ehrlich empfunden und sehr einfühlsam.

Wen das wundert oder unglaubwürdig vorkommt – vielleicht kann ich das etwas näherbringen, wenn ich erzähle, wie ich es bei meiner Arbeit im Callcenter mache. Wenn mir jemand ein Interview gegeben hat, dann sage ich am Schluß immer „ … und ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend und alles Gute für Sie!“ Bei mir nenne ich das immer meinen Schlußsegen. Und obwohl ich mich über das Interview freue, weil es meine firmeninterne Statistik aufbessert und ich daran verdiene, so meine ich es trotzdem ehrlich, egal, ob mir der Mensch sehr oder weniger sympathisch war. Dieser „Segen“ ist das, was ich als Dank zurückgeben kann. Ich freue mich wirklich und bin wirklich dankbar.

Ich steige mit dem Nachhall dieser Berührung aus der U-Bahn und ich muß weinen. Ich steige nicht in die Straßenbahn, sondern gehe zu Fuß weiter. Die Sonne scheint und wärmt und mir laufen ein paar Tränen die Wangen hinunter. Nicht so viel, daß ich damit richtig angeben kann. Ich bedanke mich bei den Kräften, die das Leben regieren, für diese Begegnung und den schönen Tag.

Später sitze ich in einem Café um zu schreiben. Und zum Thema passend kommen zwei junge Frauen zum Betteln herein. Ich will ihnen nichts geben und ich gebe ihnen auch nichts, eine jedoch versucht mich heftig gestikulierend zu überreden und stößt dabei unabsichtlich das Wasserglas vom Tischchen, es fällt hinunter und zerbricht. Sie lachen verlegen. Der Kellner und der Besitzer des Cafés, ein Ägypter, kommen und kehren die Scherben auf. Mir war die Bettelei dieser jungen Frauen unangenehm, aber dennoch bin ich beeindruckt, daß der Besitzer des Cafés die Bettler und Zeitungsverkäufer zuläßt. Und ich finde es sehr angenehm, daß die ganze Szene ohne Aggressionen abgegangen ist. Kein Geschimpfe, kein „Raus mit euch“, kein „was habt ihr da angestellt!“ Nein, die Atmosphäre ist friedlich und menschenfreundlich geblieben; davon könnte unsereiner einiges lernen.


Die Begegnung mit dem Akkordeonspieler wäre übrigens ein gutes Beispiel für die Rekapitulation im Tod. Wenn ich beim Anschauen des Lebensfilms an diese Stelle komme, was wird sich herausstellen? Daß ich mich mit billiger Sentimentalität abfüttern habe lassen? Ich glaube es nicht, aber es könnte sich herausstellen. Ich gehe nicht davon aus, daß ich bis in die tiefsten Abgründe meiner Seele hinabsehe. Oder daß ich über nichts Erhabenes, nichts Echtes geweint habe, sondern aus Selbstmitleid oder indem ich mich zum Gutmenschen hochstilisiert von mir selber gerührt war. Oder daß ich, wenn ich einem Bettler etwas gebe, mich überlegen fühle? Dann wäre meine Bezahlung dafür immer zu wenig. Oder daß es dabei um Selbstbespiegelung geht; ich als einer, der um Interviews bittet, hm, bettelt, sehe im Bettler mich selber. Oh, es gibt viele Möglichkeiten für Selbstbetrug und Lebenslügen.

Es kann sich aber auch herausstellen, daß diese Begegnung in Ordnung war, daß so, wie sie abgelaufen ist, jeder seine Würde behalten konnte und wir einander das Leben ein wenig bereichert haben. Das muß auch betont werden.



Das weiß ich jedoch: ich möchte mein Lebenslicht nicht abgeben, ohne hinter die Fassaden meines Handelns geblickt zu haben.






(17.3.2017)















©Peter Alois Rumpf    März 2017     peteraloisrumpf@gmail.com

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]

<< Startseite