Freitag, 17. März 2017

634 Ach, Herr (den Namen will ich nicht in die Überschrift schreiben)

Ach, Herr Döbereiner, wo geistern Sie jetzt herum? Ich muß noch oft an Sie denken. Immer noch rede ich mit Ihnen und versuche mich zu verteidigen. Und Sie hören mir wirklich zu dabei – in meiner Phantasie kommen Sie dem nicht aus. Und wenn es sein muß, schimpfe ich mit Ihnen; ich sage Ihnen alles rein; Punkt für Punkt zähle ich Ihnen auf. Ja, wo treiben Sie sich jetzt herum? Der Himmel ist es nicht, hätte ich gesagt. Ist es die Hölle? Ist es das Fegefeuer? Ich tippe auf Fegefeuer. Oder ist es möglich, daß dieser ganze Kordon an Verehrern und vor allem Verehrerinnen mit ihrer Verehrung einen solchen Schirm um Sie baut, daß Sie sich selbst im Tod nicht Ihrer Wirklichkeit stellen müssen? Daß Sie beziehungsweise Ihre Seele in ihren Vorstellungen von sich selbst weiterschweben kann, weil vom Irdischen her ständig energetischer Verehrungsnachschub kommt? Ich mache mich über diese VerehrerInnen und ihre Verehrung nicht lustig – ich war ja selber einer von diesen. Ich habe ja selber geglaubt, daß Sie einem die absolute Wahrheit – wie haben Sie immer gesagt? Absolvere, absolutum, losgelöst von den Subjektivismen und der Verstelltheit und Ellbogenmentalität der Dualität – vermitteln können. Werch ein Illtum! (Zitat Ernst Jandl). Ich habe auch eingesehen, daß Ihnen vor mir geekelt  hat – nein, nein, das ist es nicht.

Ich würde so gerne wissen, ob wirklich jeder Mensch im Tod die vollständige Rekapitulation seines Lebens erlebt, wie ich es mir immer vorgestellt habe. Und zwar vom Anfang bis zum Ende; alles anschauen, alles sehen, alles begreifen. Oder ob es sein kann, daß da eine Lebenslüge zum Beispiel aufplatzt, explodiert mit solcher Wucht, daß das Licht gleich ausgeblasen ist, bevor die Besichtigungstour zu Ende ist (vgl. das Gedicht I have longed to move away von Dylan Thomas).
Oder daß eben die ständige Zufuhr von lebendiger Energie aus der irdischen Menschenwelt, aus ihren brennenden Herzen den herumschwebenden Geist ernährt und damit in seiner unerlösten Gestalt halten kann. Ich weiß es nicht.

Ich war jahrelang davon überzeugt, daß jeder Mensch in seinem Tod seinen vollständigen, ganzen, unzensurierten Lebensfilm anschauen darf, kann, muß; egal, in welchem Zustand er seine endgültige Reise angetreten hat. Das kann je schmerzhafter sein, je mehr Lebenslügen aufgedeckt werden müssen, aber mir war das immer ein tröstender Gedanke, so in dem Sinn: gleich, wie ich mein Leben hinbringe, erfolgreich oder gescheitert, glücklich oder verzweifelt, gleich wie ich in den Tod gehe, gefaßt oder in Panik, loslassend oder anklammernd: ich kann mein ganzes Leben sehen, erkennen, letztlich verstehen. Und, so habe ich mir das vorgestellt, wenn man mit allem durch ist, dann ist man – weil man ja durch die Erkenntnisse mit sich und der Welt versöhnt ist - auch in der Lage, friedlich und demütig sein Licht abzugeben.
Also das Zuschauen und die Erkenntnis der Folgen unserer Handlungen kann schmerzhaft sein. Aber am Ende hat man alles verstanden und ist mit sich und der Welt im Reinen, obwohl man es damit nicht geschafft hat, sein Lebenslicht zu behalten. (Diese Möglichkeit steht uns via „Himmelfahrt“ nämlich auch offen, wo man keinen Leichnam auf Erden zurückläßt und sich als Ganzheit des Selbst mit der Unendlichkeit vereinigt, ohne sein individuelles Bewußtsein aufgeben zu müssen. Wenn man schon im vollen Leben die Rekapitulation durchführt, von sich aus, und sich damit von den Fesseln der Sozialisation befreit, kann man seinen Körper mit Seele und allem Drum und Dran mit seinem mit dem Unendlichen verbundenen „anderen“ Energiekörper vereinigen, sodaß sie nicht - wie beim sogenannten „natürlichen“ Tod – auseinander gerissen werden. „Natürlich“ unter Anführungszeichen, weil das nicht der ursprüngliche Abgang aus dieser Welt ist, sondern die „Himmelfahrt“. Das nur nebenbei. Ich verweise auf Carlos Castaneda.)

Wie gesagt, das war für mich immer ein beruhigender Gedanke, vorm Auslöschen noch alles sehen und verstehen zu können.

Aber in letzter Zeit bin ich unsicher geworden, ob es nicht doch möglich ist, daß das beschränkte individuelle Bewußtsein den unzensurierten Lebensfilm nicht aushält und vorzeitig in seine Auflösung flüchtet. Ich hoffe nicht. Ich hoffe es für mich nicht. Ich hoffe, ich werde alles anschauen dürfen, und müssen, wenn ich es nicht kann, bis ich alles verstanden habe. Dumm zu sterben und dabei noch dumm bleiben – das ist für mich eine furchtbare Vorstellung. Das wäre ein unwürdiger Tod, eine Farce!





(17.3.2017)















©Peter Alois Rumpf    März 2017     peteraloisrumpf@gmail.com

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