634 Ach, Herr (den Namen will ich nicht in die Überschrift schreiben)
Ach, Herr Döbereiner, wo geistern Sie jetzt herum? Ich muß
noch oft an Sie denken. Immer noch rede ich mit Ihnen und versuche mich zu
verteidigen. Und Sie hören mir wirklich zu dabei – in meiner Phantasie kommen
Sie dem nicht aus. Und wenn es sein muß, schimpfe ich mit Ihnen; ich sage Ihnen
alles rein; Punkt für Punkt zähle ich Ihnen auf. Ja, wo treiben Sie sich jetzt
herum? Der Himmel ist es nicht, hätte ich gesagt. Ist es die Hölle? Ist es das
Fegefeuer? Ich tippe auf Fegefeuer. Oder ist es möglich, daß dieser ganze
Kordon an Verehrern und vor allem Verehrerinnen mit ihrer Verehrung einen
solchen Schirm um Sie baut, daß Sie sich selbst im Tod nicht Ihrer Wirklichkeit
stellen müssen? Daß Sie beziehungsweise Ihre Seele in ihren Vorstellungen von
sich selbst weiterschweben kann, weil vom Irdischen her ständig energetischer
Verehrungsnachschub kommt? Ich mache mich über diese VerehrerInnen und ihre
Verehrung nicht lustig – ich war ja selber einer von diesen. Ich habe ja selber
geglaubt, daß Sie einem die absolute Wahrheit – wie haben Sie immer gesagt?
Absolvere, absolutum, losgelöst von den Subjektivismen und der Verstelltheit
und Ellbogenmentalität der Dualität – vermitteln können. Werch ein Illtum!
(Zitat Ernst Jandl). Ich habe auch eingesehen, daß Ihnen vor mir geekelt hat – nein, nein, das ist es nicht.
Ich würde so gerne wissen, ob wirklich jeder Mensch im Tod
die vollständige Rekapitulation seines Lebens erlebt, wie ich es mir immer
vorgestellt habe. Und zwar vom Anfang bis zum Ende; alles anschauen, alles
sehen, alles begreifen. Oder ob es sein kann, daß da eine Lebenslüge zum
Beispiel aufplatzt, explodiert mit solcher Wucht, daß das Licht gleich
ausgeblasen ist, bevor die Besichtigungstour zu Ende ist (vgl. das Gedicht I
have longed to move away von Dylan Thomas).
Oder daß eben die ständige Zufuhr von lebendiger Energie aus
der irdischen Menschenwelt, aus ihren brennenden Herzen den herumschwebenden
Geist ernährt und damit in seiner unerlösten Gestalt halten kann. Ich weiß es
nicht.
Ich war jahrelang davon überzeugt, daß jeder Mensch in
seinem Tod seinen vollständigen, ganzen, unzensurierten Lebensfilm anschauen
darf, kann, muß; egal, in welchem Zustand er seine endgültige Reise angetreten
hat. Das kann je schmerzhafter sein, je mehr Lebenslügen aufgedeckt werden
müssen, aber mir war das immer ein tröstender Gedanke, so in dem Sinn: gleich,
wie ich mein Leben hinbringe, erfolgreich oder gescheitert, glücklich oder
verzweifelt, gleich wie ich in den Tod gehe, gefaßt oder in Panik, loslassend
oder anklammernd: ich kann mein ganzes Leben sehen, erkennen, letztlich
verstehen. Und, so habe ich mir das vorgestellt, wenn man mit allem durch ist,
dann ist man – weil man ja durch die Erkenntnisse mit sich und der Welt
versöhnt ist - auch in der Lage, friedlich und demütig sein Licht abzugeben.
Also das Zuschauen und die Erkenntnis der Folgen unserer
Handlungen kann schmerzhaft sein. Aber am Ende hat man alles verstanden und ist
mit sich und der Welt im Reinen, obwohl man es damit nicht geschafft hat, sein
Lebenslicht zu behalten. (Diese Möglichkeit steht uns via „Himmelfahrt“ nämlich
auch offen, wo man keinen Leichnam auf Erden zurückläßt und sich als Ganzheit des Selbst mit der Unendlichkeit
vereinigt, ohne sein individuelles Bewußtsein aufgeben zu müssen. Wenn man
schon im vollen Leben die Rekapitulation durchführt, von sich aus, und sich
damit von den Fesseln der Sozialisation befreit, kann man seinen Körper mit
Seele und allem Drum und Dran mit seinem mit dem Unendlichen verbundenen
„anderen“ Energiekörper vereinigen, sodaß sie nicht - wie beim sogenannten
„natürlichen“ Tod – auseinander gerissen werden. „Natürlich“ unter
Anführungszeichen, weil das nicht der ursprüngliche Abgang aus dieser Welt ist,
sondern die „Himmelfahrt“. Das nur nebenbei. Ich verweise auf Carlos
Castaneda.)
Wie gesagt, das war für mich immer ein beruhigender Gedanke,
vorm Auslöschen noch alles sehen und verstehen zu können.
Aber in letzter Zeit bin ich unsicher geworden, ob es nicht
doch möglich ist, daß das beschränkte individuelle Bewußtsein den
unzensurierten Lebensfilm nicht aushält und vorzeitig in seine Auflösung
flüchtet. Ich hoffe nicht. Ich hoffe es für mich nicht. Ich hoffe, ich werde
alles anschauen dürfen, und müssen, wenn ich es nicht kann, bis ich alles
verstanden habe. Dumm zu sterben und dabei noch dumm bleiben – das ist für mich
eine furchtbare Vorstellung. Das wäre ein unwürdiger Tod, eine Farce!
(17.3.2017)
©Peter Alois Rumpf
März 2017
peteraloisrumpf@gmail.com
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