650 Ich kratze mich am Kopf
Ich kratze mich am Kopf. Zuerst hinten rechts über dem Ohr
und dann vorne an der Stirn leicht rechts in der Mitte. Aha! Die rechte Seite
wird bevorzugt. Aber wen interessiert das? Wir werden sehen, wie oft der Text
angeklickt, geliket und geteilt wird. Jetzt hält sich meine rechte Hand mit dem
Kugelschreiber zwischen den Fingern am Handgelenk meiner linken Hand relativ
fest an.
Gut, es gibt Kritik von berufener und prominenter Stelle
(Alfred Kolleritsch) an Texten, bei denen es um die Schwierigkeiten beim
Aufstehen geht. Ja, ja, ich weiß schon, die Schreiberei jetzt findet beim
Hinlegen statt, aber auf die Kritik bezogen ist das doch wurscht. Kopfkratzen gilt
genauso. Außerdem sind die Texte vorm Aufstehen bei mir geradezu eine
literarische Kategorie. Also: die Kritik. Was sag ich jetzt? Ja, da ist was
dran.
Andrerseits: wo kann man heutzutage anfangen, wenn nicht bei
sich selbst? Die Gesellschaft hat sich längst in atomisierte Einzelwesen
aufgelöst. Der sozusagen strukturell vorgegebene Bezug aufeinander existiert
nur in Resten. Man kann das an den vielen Menschen beobachten, die in der
Öffentlichkeit mit sich selber reden, oder sichtbar in Erklärungen, Anklagen,
Rechtfertigungen etcetera vertieft sind, während sie die Straße entlang gehen.
Die Kopf-Hörer sowieso. Keiner erlebt sich mehr auf der Straße in einem
gemeinsamen Raum, wo alle vor jeder aktuellen Kommunikation schon gleichsam
„apriori“ über die Gesellschaft miteinander verbunden sind. Sondern sie
scheinen sich als Einzelwesen zu fühlen, sich selbst überlassen, die durch
einen Dschungel streifen.
In meiner Jugend war ich noch geschockt über einen Mann, der
allein auf der Straße leise vor sich hingelacht hat, offensichtlich in einer
Erinnerung oder Ähnlichem versunken. Ich dachte damals wirklich, der ist
verrückt, oder knapp davor. Heute würde ich sagen, der Mann hatte überhaupt
nichts Verrücktes an sich, überhaupt nichts. Ich will damit herausstreichen, daß dieses
Phänomen enorm zugenommen hat. Ich selber rede inzwischen dauernd mit mir
selbst, beziehungsweise mit den Personen, die ich mir im Geist her hole. Dabei
versuche ich ein neutrales, gleichgültiges, ernstes Gesicht aufzusetzen, aber
das gelingt selten. Manchmal verzerrt sich mein Gesicht unwillkürlich, während
ich im Inneren eine Brandrede halte oder jemanden zurecht weise oder
zurückschlage, oder ich schüttle mißbilligend mit geschürzten Lippen den Kopf,
oder lächle sogar.
Wo sollen wir anfangen, wenn nicht bei uns selbst, die wir
nicht mehr verbunden, ja, verloren sind? Auch wenn wir das Verbunden-Sein
suchen, müssen wir bei uns selber beginnen, uns unser vergewissern, bevor wir
losziehen können.
Ja, ja, ich weiß schon, die Politik; aber ich kann diese
ganzen intellektuellen Statements dazu kaum noch lesen. Nein, da ist keine
Rettung mehr zu erwarten. Wir sind nur mehr Einzelkämpfer ums Überleben.
Aber mir kann das egal sein. Ich schreibe nur, um mir meinen
Lebensabend zu verschönen schicke keine Texte an Verlage und Lektoren. Und daß
ich sie ins Internet stelle – gut, ich lasse halt meine Papierschiffchen das
Bächlein hinunter schwimmen, so weit sie halt kommen. Mir kann es wirklich egal
sein.
Jetzt juckt es mich am Hinterkopf (meine erste Option war „Hinterhaupt“
- zu Fleiß! zu Fleiß! - aber das war mir dann doch zu geschwollen und zu
ironisch!)
Ich bin müde. Ich werde bald mein Haupt auf den Kopfpolster
legen.
Ob diese Vereinzelung gut oder schlecht ist, weiß ich nicht.
Vielleicht gehört sie schon zur Geburt des Individuums oder zu deren
Vorbereitung. Als ein notwendiges Stadium der Herauslösung, damit sich dann die
Individuen frei und aus eigener Intention heraus sich als solche verbinden
können. Vielleicht. Was weiß denn ich, welche Gestalt sich da entwickeln will.
(30.3.2017)
©Peter Alois Rumpf
März 2017
peteraloisrumpf@gmail.com
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