Wie soll ich ihn nennen? Professor Serbiak oder Sorbinak?
Zwar sind in seinem Namen weder das Volk der Serben, noch das der Sorben
anwesend gewesen, aber doch ein anderes slawisches Volk.
Er war am Gymnasium einer meiner liebsten Lehrer – was immer
die mitunter recht widersprüchlichen und leicht verrückten Gründe für
Sympathien eines pubertierenden Schülers für seine Lehrer oder Lehrerinnen sein
können – apropos Lehrerin: eine Professorin hat mir so gut gefallen – und das hier ist einfacher und
verständlicher – daß ich sie genau angeschaut habe, so gut es halbwegs
unauffällig ging, ihre Kleidung, ihre Bewegungen, Gesten usw., ob sich
irgendetwas abzeichnete etcetera etcetera … etcetera. Und dann ging ich soweit,
daß ich in meinem Schulheft, in das wir ihren Vortrag mitschreiben oder in
Stichworten notieren mußten – auf einer Seite einzelne Buchstaben zu Hause dann
so verstärkt und damit dicker und dunkler hervorgehoben habe, daß alle die so
markierten Buchstaben zusammengefügt und zusammengelesen „ich liebe Sie“
ergaben. Dieses Spiel betrieb ich auf mehreren Seiten – also jede so markierte
Seite ein eigener „Liebesbrief“ mit derselben Botschaft, bis dann eine Schulheftkontrolle
drohte, denn dann bekam ich es mit der Angst zu tun und habe schnell noch
weitere Buchstaben nach der gleichen Methode, aber wahllos „markiert“, um das
„ich liebe Sie“ unkenntlich zu machen und in einer sinnlosen Buchstabenreihe
aufzulösen. Der Erfolg war, daß dann mein Heft der ganzen Klasse als Beispiel
eines scheußlichen – wie sage ich? - Layouts präsentiert wurde, mit dem
geschimpften Kommentar: „ So eine Schmiererei muß nicht sein!“ - „Hast du eine
Ahnung“ würde ich heute als Damaliger sagen, aber zurück zu Professor Sorbinak
– ich muß ja auch meine Ablenkungsmanöver nicht übertreiben.
Professor Sorbinak war ein Gymnasiallehrer fast der alten
Schule: streng, korrekt – auch in seiner Kleidung – nie ohne Sakko, und als
einmal eine besonders große Hitze herrschte, frage er zuerst die anwesenden
Schülerinnen, ob es sie störe, wenn er sein Sakko ausziehe – er wirkte
unbestechlich, sehr diszipliniert, beherrscht, rational, ein leidenschaftlicher
Lateiner und Anhänger der klassischen humanistischen Schule und Bildung, ich
vermutete immer, sehr kulturkonservativ etcetera. „Fast“, weil ich doch immer
wieder den Eindruck hatte, er spielt das bloß, zumindest wie einer, der weiß,
daß seine Anliegen und seine Welt schon aus der Zeit gefallen sind oder zu fallen
drohen und deswegen seinen „Glauben“ hinsichtlich dessen Wirkung nach außen und
auf die Gesellschaft schon ein wenig fallen gelassen hat und eher nur mehr
„privat“ beibehielt.
Und er war ein grandioser Schauspieler: als wir als Klasse
ihn einmal mit vielen schlechten Noten auf eine Schularbeit (oder war es war
anderes?) schwer „beleidigt“ hatten, spielte er auf ganz streng und
unerbittlich. Wenn er die Tür zur Klasse öffnete, um zum Unterricht
hereinzukommen, aber noch mit einem Kollegen, einer Kollegin draußen am Gang
redete, konnten wir sehen, wie er noch lachte, aber in dem Moment, in dem er
sich der Klasse zuwandte um einzutreten, verfinsterte sich seine Miene
plötzlich, sein Gesicht wurde unbewegt und starr, er selbst streng, keine
Scherze mehr, kein Smalltalk, kein Lehrer-Schüler-vorallem-Innen-Geplänkel (die
Mädchen in den ersten Reihen waren Spezialistinnen, vor allem die männlichen
Lehrer abzulenken, über Fragen in Gespräche und abschweifende Erklärungen zu
verwickeln und somit Zeit zu schinden), nur der strenge, pure Unterricht, die
Hefte, die zurückgegeben wurden, wurden den ÜbeltäterInnen aus mehreren Metern
Entfernung auf die Schulbank geschleudert, gespickt mit vernichtenden,
akustischen Kommentaren („blühender Blödsinn“, eine seiner Lieblingsredewendungen
war noch das Zärtlichste) – alles ohne mit der Wimper zu zucken.
Aber wie gesagt, man spürte, er spielt das mit Genuß, nimmt
es jedoch nicht ganz ernst: er spielte eine Rolle.
Ich liebte ihn, immerhin verdankte ich ihm den Hinweis auf
die Etymologie, eine meiner Leidenschaften bis heute. Vor Professor Sorbinak
war mir die Tatsache, daß Wörter eine Geschichte haben und daß diese sehr
interessant sein kann noch nicht voll aufgegangen – das kann auch mit meinem
Alter und meine geistige Entwicklung zusammenhängen.
Das kam so: Professor Sorbinak leitete so nebenbei und über
den eigentlichen Lehrgegenstand hinausschießend irgendein Wort ab – für mich
eröffnete sich damit eine ganz neue Welt: die Sprache nicht nur als
Kommunikationsmittel, sondern als Darstellung unserer Wirklichkeit – und ich
begann regelrecht zu staunen, denn dies wäre mein Zugang zu Sprache gewesen –
da machte Professor Sorbinak jedoch eine wegwerfende Handbewegung und sagt:
„aber das interessiert euch eh nicht!“ und brach seinen etymologischen Vortrag
ab (und mir klappte – im übertragenen Sinn – der zuerst vor Erstaunen offene
Mund wieder zu und ich ließ mich – wieder im übertragenen Sinn – von seiner
wegwerfenden Geste mit-wegwerfen. Schade! Für mich als extrem schüchternen Menschen
war die Sprache als Kommunikation eher schwerst angstbesetzt – ich erinnere
mich an einen Dialog im Englischbuch: Pat spricht was weiß ich wo ein Mädchen
an – das nachsprechen zu müssen oder mich da nur hineinzudenken: vor lauter Verlegenheit ein Gräuel
für mich! - aber Sprache als Darstellung und wie ich viel später lernte: als
(Mit-)Konstrukteur der Wirklichkeit (Berger/Luckmann) – das war ein Forschungsbereich wie für mich geschaffen! Den konnte ich jedoch nur mehr als
Dilettant in laienhafter Manier beackern, nicht als Studierter.)
(Nebenbei gesagt: weil ich beim Aufstehen und Herumgehen
unabsichtlich immer an die schräg gestellten Füße der Kaffeetischchen hier in
der Espressobar Paim stoße: könnte man nicht auch Schuhe mit Sensoren erfinden,
so wie die Einparkhilfen bei Autos? Oder – weil die Kaffeetischbeine aus
jeweils vier dünnen Metallstäben bestehen: vielleicht könnte man diese so bauen
und stimmen, daß sie beim Anstoßen einen schönen, saitenartigen Klang erzeugen?
Das nur so nebenbei.)
Professor Sorbinak – wir hatten ihn auch als Sublierer in
Deutsch, als unsere Deutschprofessorin länger krank war – vertrat also ein eher
konservatives Weltbild – soweit ich es mitbekommen hatte. Einmal hatte ich auch
den Verdacht, er könnte national und antisemitisch (das wäre etwas anderes als
einfach konservativ, besonders bei uns in Österreich) sein, weil er
kritisierte, daß Heine, der sich als Deutscher gebe, die Idee eines deutschen
Nationalstaates kritisiere, beziehungsweise diese Idee für ihn nicht sakrosankt
sei, während Kishon die eines jüdischen Nationalstaates nicht kritisiere und
sich nie darüber lustig mache. Mir kam damals schon diese „Kritik“ als ziemlich
an den Haaren herbeigezogen und willkürlich vor, also nicht rational, also von
Ressentiments getragen.
Ich weiß bis heute nicht, ob ich damals alles richtig
mitbekommen oder überinterpretiert habe – jedenfalls wäre er damit nicht der
einzige unter den Professoren unseres Gymnasiums mit solchen Anwandlungen
gewesen, aber ich möchte niemandem Falsches unterstellen. Jedenfalls mir
kamen solche Gedanken und Assoziationen und die machten mich – obwohl selber
noch unausgegoren und voller innerer Widersprüche, geistig ungefestigt und
schwankend – mißtrauisch.
Ein andermal lasen wir im Lateinunterricht ein Liebesgedicht
von Catull an einen Mann. Und Professor Sorbinak sprach dazu über die Dekadenz
der damaligen Zeit und daß sie jetzt wieder aufkomme – es gab damals die ersten
Anläufe, das bestehende Verbot der Homosexualität und deren Kriminalisierung aufzuheben,
was er auch ansprach als Beispiel für die jetzt bei uns umsichgreifende
Dekadenz.
Und doch kam mir in der ganzen Szene etwas komisch vor:
irgendetwas am Sound, am Tempo, an Ausdruck und Klang seiner Stimme ließ mit
alle Sensoren und Antennen ausfahren. Und er hört mit dem Thema nicht auf; er
verbleibt auffällig lange dabei und so kam mir der Verdacht, er habe selbst
etwas mit Homosexualität am Hut (was damals noch strafrechtlich verfolgt werden
konnte). Er war zwar verheiratet und der Widerspruch zwischen offizieller
Stellungnahme und heimliche Anziehung wäre für die damalige Zeit (und für viele
Fundamentalisten bis heute) nicht gerade untypisch.
Für mich damals reichte dieser mein Verdacht – warum tut er
mit dem Thema so lange herum? Sonst ist er mit seinen Nebenthemen schneller
fertig – zu einem ordentlichen Schock. Der Professor, den ich gern habe, könnte
schwul sein? Da ich mir jedoch nicht sicher war, beließ ich es damit und
allmählich vergaß ich die Szene.
Dann waren wir einmal als Klasse in der Stadt – ich weiß
nicht mehr ob Theater oder Oper – eine Reise mit Übernachtung. In der Klasse
gab es auch Schüler mit Ehrenrunden und einer war zwei Jahre älter als die
meisten von uns. Der war körperlich schon männlich, mit starkem Bartwuchs. Nach
der Morgentoilette mit rasieren für uns Burschen (Mädchen rasierten sich damals
noch nicht) plauderte Professor Sorbinak mit diesem Schüler – so weit ich es
richtig mitbekommen habe und mich richtig erinnere: darüber, daß dieser
schlecht rasiert sei – aber nicht als kritisierender Lehrer, sondern mehr als
Geplauder – jedenfalls antwortete der Schüler, er könne sich nicht besser
rasieren, es werde einfach nicht besser, die Bartstoppel unterm Kinn bekomme er
einfach nicht weg. Professor Sorbinak fragte den Schüler, ob er es probieren
dürfe und versuchte, ihm die Bartstoppel wegzurasieren, was - glaube ich – nicht gelang. Ich schaue zu
und mir wird ganz mulmig, wie ich sie so beieinander stehen sehe und wie der
Professor den Schüler im Gesicht berührt, die Haut glatt spannt – alles, was
ein Friseur beim Rasieren auch täte, aber ich bekomme ein komisches Gefühl und
mir bleibt fast das Herz stehen: mein Verdacht aus der Catull-Szene fällt mir
wieder ein und ich sehe mich bestätigt: Professor Sorbinak ist heimlich schwul.
Ein voller Schock für mich damals! Ich hatte in diesem Moment keinen Zweifel
mehr und war völlig irritiert: Also doch!
Lange hatte ich dann mit mir gerungen. Ich denke nicht, daß
diese innere Auseinandersetzung mehrere
Tage gedauert hat, möglicherweise nicht einmal Stunden. Dann habe ich eine
Entscheidung getroffen: ich stehe trotzdem dazu, daß ich Professor Sorbinak
mag. Das war für mich damals regelrecht eine mir und meinem damaligen Weltbild
mühsam abgerungene Richtungsentscheidung.
Diese Richtungsentscheidung habe ich beibehalten, als ich in
Graz studiert habe und immer mehr psychologische, politische, emanzipatorische
Literatur gelesen habe, war es für mich klar, daß ich Homosexualität moralisch
nicht verurteilen brauche, ich habe mich auch tapfer gefragt, ob auch ich
homosexuelle Anteile in mir trage und so weiter. Erst in der Zeit der
döbranitischen Gefangenschaft und des daraus angestoßenen Versuchs, zur
katholischen Kirche zurückzukommen, meinte ich, die Homosexualität wieder – wie
ich es in meiner Fünfzigerjahrewelt mitbekommen hatte – verurteilen zu müssen.
Viele Jahre später, beim letzten Klassentreffen vor ein paar
Jahren, habe ich einer Schulkollegin diese Geschichte erzählt – überzeugt
davon, mit meiner Wahrnehmung recht zu haben – und sie hat ganz erschrocken
erwidert: „zerstör mir nicht mein Bild von Professor Sorbinak!“ Ich war
sogleich selber erschrocken – ich will ja niemandem seine/ihre Bilder zerstören
– immer noch in der Meinung, mich nicht getäuscht zu haben – und habe gleich alles
auf mich genommen: „Entschuldige! Vielleicht ist das eine Projektion
meinerseits; schließlich wurde ich ja als Kind mißbraucht – vielleicht sehe
deswegen überall Homosexualität.“
Und heute? Heute bin ich mir gar nicht mehr sicher! Alles
ist möglich! Ich weiß nicht, was Wahrnehmung, was Projektion ist.
Nachzutragen wäre noch, daß ich beim vorletzten
Klassentreffen ein paar Jahre früher meine bemerkt zu haben, daß mich einige
der KlassenkollegInnen für schwul gehalten hatten. Das wäre nichts Neues, das
haben auch meine Eltern, Kollegen in Jobs und so weiter, einem schüchternen
Mann passieren solche Zuordnungen recht leicht. (Vor der döbranitischen
Gefangenschaft haben mich solche Verdächtigungen bloß amüsiert.) Aber auch da
gilt die Frage: wenn ich so einen „Verdacht“ wahrzunehmen glaube – was daran
ist Wahrnehmung, was Projektion?
(18.6.2019)
©Peter Alois
Rumpf Juni 2019 peteraloisrumpf@gmail.com