Dienstag, 18. Juni 2019

1390 Professor Sorbinak


Wie soll ich ihn nennen? Professor Serbiak oder Sorbinak? Zwar sind in seinem Namen weder das Volk der Serben, noch das der Sorben anwesend gewesen, aber doch ein anderes slawisches Volk.
Er war am Gymnasium einer meiner liebsten Lehrer – was immer die mitunter recht widersprüchlichen und leicht verrückten Gründe für Sympathien eines pubertierenden Schülers für seine Lehrer oder Lehrerinnen sein können – apropos Lehrerin: eine Professorin hat mir so  gut gefallen – und das hier ist einfacher und verständlicher – daß ich sie genau angeschaut habe, so gut es halbwegs unauffällig ging, ihre Kleidung, ihre Bewegungen, Gesten usw., ob sich irgendetwas abzeichnete etcetera etcetera … etcetera. Und dann ging ich soweit, daß ich in meinem Schulheft, in das wir ihren Vortrag mitschreiben oder in Stichworten notieren mußten – auf einer Seite einzelne Buchstaben zu Hause dann so verstärkt und damit dicker und dunkler hervorgehoben habe, daß alle die so markierten Buchstaben zusammengefügt und zusammengelesen „ich liebe Sie“ ergaben. Dieses Spiel betrieb ich auf mehreren Seiten – also jede so markierte Seite ein eigener „Liebesbrief“ mit derselben Botschaft, bis dann eine Schulheftkontrolle drohte, denn dann bekam ich es mit der Angst zu tun und habe schnell noch weitere Buchstaben nach der gleichen Methode, aber wahllos „markiert“, um das „ich liebe Sie“ unkenntlich zu machen und in einer sinnlosen Buchstabenreihe aufzulösen. Der Erfolg war, daß dann mein Heft der ganzen Klasse als Beispiel eines scheußlichen – wie sage ich? - Layouts präsentiert wurde, mit dem geschimpften Kommentar: „ So eine Schmiererei muß nicht sein!“ - „Hast du eine Ahnung“ würde ich heute als Damaliger sagen, aber zurück zu Professor Sorbinak – ich muß ja auch meine Ablenkungsmanöver nicht übertreiben.

Professor Sorbinak war ein Gymnasiallehrer fast der alten Schule: streng, korrekt – auch in seiner Kleidung – nie ohne Sakko, und als einmal eine besonders große Hitze herrschte, frage er zuerst die anwesenden Schülerinnen, ob es sie störe, wenn er sein Sakko ausziehe – er wirkte unbestechlich, sehr diszipliniert, beherrscht, rational, ein leidenschaftlicher Lateiner und Anhänger der klassischen humanistischen Schule und Bildung, ich vermutete immer, sehr kulturkonservativ etcetera. „Fast“, weil ich doch immer wieder den Eindruck hatte, er spielt das bloß, zumindest wie einer, der weiß, daß seine Anliegen und seine Welt schon aus der Zeit gefallen sind oder zu fallen drohen und deswegen seinen „Glauben“ hinsichtlich dessen Wirkung nach außen und auf die Gesellschaft schon ein wenig fallen gelassen hat und eher nur mehr „privat“ beibehielt.
Und er war ein grandioser Schauspieler: als wir als Klasse ihn einmal mit vielen schlechten Noten auf eine Schularbeit (oder war es war anderes?) schwer „beleidigt“ hatten, spielte er auf ganz streng und unerbittlich. Wenn er die Tür zur Klasse öffnete, um zum Unterricht hereinzukommen, aber noch mit einem Kollegen, einer Kollegin draußen am Gang redete, konnten wir sehen, wie er noch lachte, aber in dem Moment, in dem er sich der Klasse zuwandte um einzutreten, verfinsterte sich seine Miene plötzlich, sein Gesicht wurde unbewegt und starr, er selbst streng, keine Scherze mehr, kein Smalltalk, kein Lehrer-Schüler-vorallem-Innen-Geplänkel (die Mädchen in den ersten Reihen waren Spezialistinnen, vor allem die männlichen Lehrer abzulenken, über Fragen in Gespräche und abschweifende Erklärungen zu verwickeln und somit Zeit zu schinden), nur der strenge, pure Unterricht, die Hefte, die zurückgegeben wurden, wurden den ÜbeltäterInnen aus mehreren Metern Entfernung auf die Schulbank geschleudert, gespickt mit vernichtenden, akustischen Kommentaren („blühender Blödsinn“, eine seiner Lieblingsredewendungen war noch das Zärtlichste) – alles ohne mit der Wimper zu zucken.
Aber wie gesagt, man spürte, er spielt das mit Genuß, nimmt es jedoch nicht ganz ernst: er spielte eine Rolle.

Ich liebte ihn, immerhin verdankte ich ihm den Hinweis auf die Etymologie, eine meiner Leidenschaften bis heute. Vor Professor Sorbinak war mir die Tatsache, daß Wörter eine Geschichte haben und daß diese sehr interessant sein kann noch nicht voll aufgegangen – das kann auch mit meinem Alter und meine geistige Entwicklung zusammenhängen.
Das kam so: Professor Sorbinak leitete so nebenbei und über den eigentlichen Lehrgegenstand hinausschießend irgendein Wort ab – für mich eröffnete sich damit eine ganz neue Welt: die Sprache nicht nur als Kommunikationsmittel, sondern als Darstellung unserer Wirklichkeit – und ich begann regelrecht zu staunen, denn dies wäre mein Zugang zu Sprache gewesen – da machte Professor Sorbinak jedoch eine wegwerfende Handbewegung und sagt: „aber das interessiert euch eh nicht!“ und brach seinen etymologischen Vortrag ab (und mir klappte – im übertragenen Sinn – der zuerst vor Erstaunen offene Mund wieder zu und ich ließ mich – wieder im übertragenen Sinn – von seiner wegwerfenden Geste mit-wegwerfen. Schade! Für mich als extrem schüchternen Menschen war die Sprache als Kommunikation eher schwerst angstbesetzt – ich erinnere mich an einen Dialog im Englischbuch: Pat spricht was weiß ich wo ein Mädchen an – das nachsprechen zu müssen oder mich da nur hineinzudenken: vor lauter Verlegenheit ein Gräuel für mich! - aber Sprache als Darstellung und wie ich viel später lernte: als (Mit-)Konstrukteur der Wirklichkeit (Berger/Luckmann) – das war ein Forschungsbereich wie für mich geschaffen! Den konnte ich jedoch nur mehr als Dilettant in laienhafter Manier beackern, nicht als Studierter.)
(Nebenbei gesagt: weil ich beim Aufstehen und Herumgehen unabsichtlich immer an die schräg gestellten Füße der Kaffeetischchen hier in der Espressobar Paim stoße: könnte man nicht auch Schuhe mit Sensoren erfinden, so wie die Einparkhilfen bei Autos? Oder – weil die Kaffeetischbeine aus jeweils vier dünnen Metallstäben bestehen: vielleicht könnte man diese so bauen und stimmen, daß sie beim Anstoßen einen schönen, saitenartigen Klang erzeugen? Das nur so nebenbei.)

Professor Sorbinak – wir hatten ihn auch als Sublierer in Deutsch, als unsere Deutschprofessorin länger krank war – vertrat also ein eher konservatives Weltbild – soweit ich es mitbekommen hatte. Einmal hatte ich auch den Verdacht, er könnte national und antisemitisch (das wäre etwas anderes als einfach konservativ, besonders bei uns in Österreich) sein, weil er kritisierte, daß Heine, der sich als Deutscher gebe, die Idee eines deutschen Nationalstaates kritisiere, beziehungsweise diese Idee für ihn nicht sakrosankt sei, während Kishon die eines jüdischen Nationalstaates nicht kritisiere und sich nie darüber lustig mache. Mir kam damals schon diese „Kritik“ als ziemlich an den Haaren herbeigezogen und willkürlich vor, also nicht rational, also von Ressentiments getragen.
Ich weiß bis heute nicht, ob ich damals alles richtig mitbekommen oder überinterpretiert habe – jedenfalls wäre er damit nicht der einzige unter den Professoren unseres Gymnasiums mit solchen Anwandlungen gewesen, aber ich möchte niemandem Falsches unterstellen. Jedenfalls mir kamen solche Gedanken und Assoziationen und die machten mich – obwohl selber noch unausgegoren und voller innerer Widersprüche, geistig ungefestigt und schwankend – mißtrauisch.

Ein andermal lasen wir im Lateinunterricht ein Liebesgedicht von Catull an einen Mann. Und Professor Sorbinak sprach dazu über die Dekadenz der damaligen Zeit und daß sie jetzt wieder aufkomme – es gab damals die ersten Anläufe, das bestehende Verbot der Homosexualität und deren Kriminalisierung aufzuheben, was er auch ansprach als Beispiel für die jetzt bei uns umsichgreifende Dekadenz.
Und doch kam mir in der ganzen Szene etwas komisch vor: irgendetwas am Sound, am Tempo, an Ausdruck und Klang seiner Stimme ließ mit alle Sensoren und Antennen ausfahren. Und er hört mit dem Thema nicht auf; er verbleibt auffällig lange dabei und so kam mir der Verdacht, er habe selbst etwas mit Homosexualität am Hut (was damals noch strafrechtlich verfolgt werden konnte). Er war zwar verheiratet und der Widerspruch zwischen offizieller Stellungnahme und heimliche Anziehung wäre für die damalige Zeit (und für viele Fundamentalisten bis heute) nicht gerade untypisch.
Für mich damals reichte dieser mein Verdacht – warum tut er mit dem Thema so lange herum? Sonst ist er mit seinen Nebenthemen schneller fertig – zu einem ordentlichen Schock. Der Professor, den ich gern habe, könnte schwul sein? Da ich mir jedoch nicht sicher war, beließ ich es damit und allmählich vergaß ich die Szene.

Dann waren wir einmal als Klasse in der Stadt – ich weiß nicht mehr ob Theater oder Oper – eine Reise mit Übernachtung. In der Klasse gab es auch Schüler mit Ehrenrunden und einer war zwei Jahre älter als die meisten von uns. Der war körperlich schon männlich, mit starkem Bartwuchs. Nach der Morgentoilette mit rasieren für uns Burschen (Mädchen rasierten sich damals noch nicht) plauderte Professor Sorbinak mit diesem Schüler – so weit ich es richtig mitbekommen habe und mich richtig erinnere: darüber, daß dieser schlecht rasiert sei – aber nicht als kritisierender Lehrer, sondern mehr als Geplauder – jedenfalls antwortete der Schüler, er könne sich nicht besser rasieren, es werde einfach nicht besser, die Bartstoppel unterm Kinn bekomme er einfach nicht weg. Professor Sorbinak fragte den Schüler, ob er es probieren dürfe und versuchte, ihm die Bartstoppel wegzurasieren, was  - glaube ich – nicht gelang. Ich schaue zu und mir wird ganz mulmig, wie ich sie so beieinander stehen sehe und wie der Professor den Schüler im Gesicht berührt, die Haut glatt spannt – alles, was ein Friseur beim Rasieren auch täte, aber ich bekomme ein komisches Gefühl und mir bleibt fast das Herz stehen: mein Verdacht aus der Catull-Szene fällt mir wieder ein und ich sehe mich bestätigt: Professor Sorbinak ist heimlich schwul. Ein voller Schock für mich damals! Ich hatte in diesem Moment keinen Zweifel mehr und war völlig irritiert: Also doch!

Lange hatte ich dann mit mir gerungen. Ich denke nicht, daß diese innere Auseinandersetzung  mehrere Tage gedauert hat, möglicherweise nicht einmal Stunden. Dann habe ich eine Entscheidung getroffen: ich stehe trotzdem dazu, daß ich Professor Sorbinak mag. Das war für mich damals regelrecht eine mir und meinem damaligen Weltbild mühsam abgerungene Richtungsentscheidung.

Diese Richtungsentscheidung habe ich beibehalten, als ich in Graz studiert habe und immer mehr psychologische, politische, emanzipatorische Literatur gelesen habe, war es für mich klar, daß ich Homosexualität moralisch nicht verurteilen brauche, ich habe mich auch tapfer gefragt, ob auch ich homosexuelle Anteile in mir trage und so weiter. Erst in der Zeit der döbranitischen Gefangenschaft und des daraus angestoßenen Versuchs, zur katholischen Kirche zurückzukommen, meinte ich, die Homosexualität wieder – wie ich es in meiner Fünfzigerjahrewelt mitbekommen hatte – verurteilen zu müssen.

Viele Jahre später, beim letzten Klassentreffen vor ein paar Jahren, habe ich einer Schulkollegin diese Geschichte erzählt – überzeugt davon, mit meiner Wahrnehmung recht zu haben – und sie hat ganz erschrocken erwidert: „zerstör mir nicht mein Bild von Professor Sorbinak!“ Ich war sogleich selber erschrocken – ich will ja niemandem seine/ihre Bilder zerstören – immer noch in der Meinung, mich nicht getäuscht zu haben – und habe gleich alles auf mich genommen: „Entschuldige! Vielleicht ist das eine Projektion meinerseits; schließlich wurde ich ja als Kind mißbraucht – vielleicht sehe deswegen überall Homosexualität.“

Und heute? Heute bin ich mir gar nicht mehr sicher! Alles ist möglich! Ich weiß nicht, was Wahrnehmung, was Projektion ist.

Nachzutragen wäre noch, daß ich beim vorletzten Klassentreffen ein paar Jahre früher meine bemerkt zu haben, daß mich einige der KlassenkollegInnen für schwul gehalten hatten. Das wäre nichts Neues, das haben auch meine Eltern, Kollegen in Jobs und so weiter, einem schüchternen Mann passieren solche Zuordnungen recht leicht. (Vor der döbranitischen Gefangenschaft haben mich solche Verdächtigungen bloß amüsiert.) Aber auch da gilt die Frage: wenn ich so einen „Verdacht“ wahrzunehmen glaube – was daran ist Wahrnehmung, was Projektion?









(18.6.2019)










 ©Peter Alois Rumpf  Juni 2019  peteraloisrumpf@gmail.com


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