Es war in der Zeit meiner größten
Armut, ich hatte nicht genug Geld, mir im Winter das Einheizen
regelmäßig leisten zu können. Ich war etwas über Vierzig und
dabei, mein abgebrochenes Theologiestudium fertig zu bringen, mit
unsäglichen inneren Kämpfen, ob ich dahin gehöre oder nicht.
Nebenbei jobbte ich als Taglöhner, ohne Kranken- und
Sozialversicherung, geschweige denn Pensionsversicherung. Manchmal
half mir auch jemand.
Da bildete ich mir ein, ich muß einmal
in ein Casino gehen. (Das hatte auch mit dem Astrologen Döbereiner
zu tun.) Diese allmählich fix gewordene Idee hatte mit zwei Gedanken
zu tun. Erstens, daß man ein Casino kennen gelernt haben muß, wenn
man etwas vom Leben verstehen will. Vor allem ein so lebensfremder
Mensch wie ich.
Zweitens, daß ich es auch auf diesem
Weg versuchen muß, aus
meiner schwierigen Lage herauszukommen. Ja, daß ich regelrecht
verpflichtet bin, alles, also auch das Casino, auszuprobieren. Vor
allem so ein lebensuntüchtiger Mensch wie ich.
Ich
lebte damals in einer ganz kleinen, ebenerdigen Wohnung, deren
einfach auf die Erde verlegter Holzboden sich straßenseitig schon zu
einem erdartigen Gebrösel verwandelt hatte. Ich habe dann
eine Spannplatte darüber genagelt; das war's dann.
Die
Toilette befand sich am Gang; Bad oder Dusche gab es nicht, auch das
Wasser war am Gang, und einen Abfluß für das Wasser gab es in der
Wohnung auch nicht. Ich mußte das Wasser in einem Krug hereintragen
und das Abwasser in Kübeln in den Hof bringen und dort in den Kanal
schütten. Das hat mir übrigens durchaus gefallen; das hatte schon
„etwas“!
Die
Stromleitungen waren so schwach, daß ich weder Kühlschrank, noch
Kochplatte, noch Bügeleisen anstecken konnte, ohne einen Kurzschluß
auszulösen. Gekocht habe ich auf einem primitiven Campingkocher mit
Gaskartusche; meine Kleidung war „konsequent“ ungebügelt; zum
Wäschewaschen mußte ich die Wäsche in einer Reisetasche eine halbe
Stunde zu Fuß durch die Gegend schleppen, um zum nächsten
Automatenwaschsalon zu kommen, indem sich oft eine Gruppe Junkies
aufhielt.
Entsprechend
gekleidet bin ich herumgelaufen. Sicher, ein lebenstüchtiger, gut in
dieser Welt verankerter Mensch hätte das auch unter diesen
Bedingungen viel besser hinbekommen, aber ich war in unglaublichen
Windmühlenkämpfen verstrickt, achtzig Prozent meiner wachen Zeit
war ich mit der Frage beschäftigt, ob und wenn ja, wie ich zur
Kirche passe. Dies deshalb, weil ich das Ergebnis der Beratung beim
Astrologen Döbereiner so aufgefaßt hatte, daß ich als
Ausgetretener zur Kirche zurückfinden und als Theologe arbeiten muß.
Das war in meinem Leben der härteste, langwierigste Kampf um
geistige Klarheit und hat Jahre, wenn nicht Jahrzehnte meiner
Lebenszeit gekostet und mindestens geschätzte achtzig Prozent meiner
Lebenenergie damals.
In
dieser Situation bildete ich mir also ein, nicht so arrogant und
überheblich sein zu dürfen, es nicht auch über das Casino zu
versuchen, meine Lage zu verbessern, weil mir ja auch nicht zusteht,
diese Szene zu verurteilen. Ist das verständlich? Ich fühlte mich
verpflichtet, alles zu probieren.
Nicht
daß ich wirklich geglaubt habe, daß das klappen wird, wiewohl sich,
je mehr ich entschlossen war, dies zu machen, desto stärker im
Hintergrund eine irreale, atemberaubende Hoffnung aufbaute, ob nicht
doch ein Wunder geschehen könnte. Mein Gott! Wenn dies möglich
wäre....!
Jedenfalls:
probieren muß ich es.
In ein
Casino zu gehen, das war für mich eine große Herausforderung, denn
mit dieser Szene hatte ich absolut nichts zu tun. Ich kann mir wenig
für mich mehr Verunsicherndes vorstellen, als in diese Welt von Geld
und Glücksspiel einzutreten. (Höchstens in ein Puff zu gehen wäre
eine größere Herausforderung.) Ich laufe ja nicht mit dem Gefühl
herum, ein souveräner und freier Bürger und gesellschaftlich
selbstverständlicher und mehr oder weniger relevanter Mitspieler zu
sein, sondern als einer, den die Götter aus irgendeiner
Unachtsamkeit übersehen haben, rechtzeitig auszusortieren, wehrlos gegen jeden Übergriff. Dem also
gar nichts zusteht, schon gar nicht Geld und respektables Auftreten.
Aber
ich wollte – wie schon gesagt – diese Herausforderung unbedingt
annehmen und kratze mein letztes Geld zusammen, ziehe mein bestes
Gewand an – ich weiß nicht mehr, war das ein abgetragener Anzug
oder ein abgewetztes Sakko – und, weil ich von einer
Krawattenpflicht gehört hatte, stecke ich mir eine vernudelte
Krawatte ein. Aus irgendeinem Grund hatte ich nicht den Mut, mir
diese verdammte Krawatte gleich umzubinden. So breche ich vom
fünfzehnten Wiener Gemeindebezirk in den ersten auf. Aufgeregt,
voller Angst, unsicher, aber in gewisser Weise auch tapfer (gegen das
eigene Empfinden).
Vorm
Casino wacht ein Türsteher. Ich war ja nicht in der Lage, so zu tun
als ob, darum sagte ich ihm gleich, mit naiver, fast schon rührender
Unbeholfenheit und kindlicher Ehrlichkeit, ganz direkt, daß ich zum
erstenmal in ein Casino gehe, mich in dieser Welt nicht auskenne und
fragte dann, ob ich in dieser Kleidung ins Casino hinein darf. Und
tatsächlich meinte er „ja“, wenn ich noch eine Krawatte umbinde.
Ich ging drei Schritte zur Seite, zog die zerknitterte Krawatte aus
der rechten Sakkotasche und band sie mir um. Dann stellte ich mich
wieder vor ihn hin und fragte, ob es jetzt geht, ihm dabei genügend
Zeit lassend, mich ausreichend prüfend in Augenschein nehmen zu
können. Er sagte aber gleich „ja“ und ließ mich passieren.
Um das
unzweifelhaft klarzustellen, in dieser kabaretthaften Szene war
meinerseits überhaupt nichts Provozierendes, Spöttelndes,
Verarschendes, nein, ich war wirklich so. Das bin ich. So bin ich
wirklich.
Also
ging ich hinein, zitternd vor Angst, und wieder fragte ich brav, wie
das hier geht. Ob und was ich mir für ein Getränk geleistet habe,
weiß ich nicht mehr. Nur, daß ich, als ich es endlich wagte, an
einen der Roulettische zu treten, den Croupier mit meinen Fragen, wie
das gehe, nervte, nicht ohne gleich wieder von vornherein „demütig“
bekannt zu haben, zum erstenmal in einem Casino zu sein. (mitten
unter den umstehenden Pokerfaces, als wäre das nicht
offensichtlich!)
Ich
glaube, meine Jetons reichten aus, um drei, viermal zu setzten -
sollen es fünf, sechsmal gewesen sein - dann hatte ich alles
verspielt. Ich war regelrecht erleichtert! Versuch gescheitert, das
kann ich endlich abhaken. Es war zu erwarten, aber ich habe es
probiert.
Jetzt
nahm ich mir noch die Zeit, in den Räumen herumzuschlendern und den
Spielern zuzuschauen. Erinnern kann ich mich an eine Chinesin in
Jeans, die sagenhafte Summen setzte, und an ein Paar, das leichenblaß
Richtung Ausgang wankte, mühsam bemüht, die letzte Fassung zu
bewahren; er sagt dann zu ihr. „macht's was?“ und sie murmelt
irgendetwas Unverständliches.
Fast
pflichtbewußt schaue ich mich noch eine zeitlang um, bis ich mir
dann endlich erlaube, den unangenehmen Ort zu verlassen.
Erleichtert
in der frischen Luft draußen durchatmend mache ich mich auf den Weg
in meine Einsiedelei. Ein Casino habe ich nie mehr betreten.
©Peter
Alois Rumpf September 2015 peteraloisrumpf@gmail.com