Dienstag, 15. September 2015

191 Mein Casinobesuch


Es war in der Zeit meiner größten Armut, ich hatte nicht genug Geld, mir im Winter das Einheizen regelmäßig leisten zu können. Ich war etwas über Vierzig und dabei, mein abgebrochenes Theologiestudium fertig zu bringen, mit unsäglichen inneren Kämpfen, ob ich dahin gehöre oder nicht. Nebenbei jobbte ich als Taglöhner, ohne Kranken- und Sozialversicherung, geschweige denn Pensionsversicherung. Manchmal half mir auch jemand.

Da bildete ich mir ein, ich muß einmal in ein Casino gehen. (Das hatte auch mit dem Astrologen Döbereiner zu tun.) Diese allmählich fix gewordene Idee hatte mit zwei Gedanken zu tun. Erstens, daß man ein Casino kennen gelernt haben muß, wenn man etwas vom Leben verstehen will. Vor allem ein so lebensfremder Mensch wie ich.
Zweitens, daß ich es auch auf diesem Weg versuchen muß, aus meiner schwierigen Lage herauszukommen. Ja, daß ich regelrecht verpflichtet bin, alles, also auch das Casino, auszuprobieren. Vor allem so ein lebensuntüchtiger Mensch wie ich.

Ich lebte damals in einer ganz kleinen, ebenerdigen Wohnung, deren einfach auf die Erde verlegter Holzboden sich straßenseitig schon zu einem erdartigen Gebrösel verwandelt hatte. Ich habe dann eine Spannplatte darüber genagelt; das war's dann.
Die Toilette befand sich am Gang; Bad oder Dusche gab es nicht, auch das Wasser war am Gang, und einen Abfluß für das Wasser gab es in der Wohnung auch nicht. Ich mußte das Wasser in einem Krug hereintragen und das Abwasser in Kübeln in den Hof bringen und dort in den Kanal schütten. Das hat mir übrigens durchaus gefallen; das hatte schon „etwas“!
Die Stromleitungen waren so schwach, daß ich weder Kühlschrank, noch Kochplatte, noch Bügeleisen anstecken konnte, ohne einen Kurzschluß auszulösen. Gekocht habe ich auf einem primitiven Campingkocher mit Gaskartusche; meine Kleidung war „konsequent“ ungebügelt; zum Wäschewaschen mußte ich die Wäsche in einer Reisetasche eine halbe Stunde zu Fuß durch die Gegend schleppen, um zum nächsten Automatenwaschsalon zu kommen, indem sich oft eine Gruppe Junkies aufhielt.

Entsprechend gekleidet bin ich herumgelaufen. Sicher, ein lebenstüchtiger, gut in dieser Welt verankerter Mensch hätte das auch unter diesen Bedingungen viel besser hinbekommen, aber ich war in unglaublichen Windmühlenkämpfen verstrickt, achtzig Prozent meiner wachen Zeit war ich mit der Frage beschäftigt, ob und wenn ja, wie ich zur Kirche passe. Dies deshalb, weil ich das Ergebnis der Beratung beim Astrologen Döbereiner so aufgefaßt hatte, daß ich als Ausgetretener zur Kirche zurückfinden und als Theologe arbeiten muß. Das war in meinem Leben der härteste, langwierigste Kampf um geistige Klarheit und hat Jahre, wenn nicht Jahrzehnte meiner Lebenszeit gekostet und mindestens geschätzte achtzig Prozent meiner Lebenenergie damals.

In dieser Situation bildete ich mir also ein, nicht so arrogant und überheblich sein zu dürfen, es nicht auch über das Casino zu versuchen, meine Lage zu verbessern, weil mir ja auch nicht zusteht, diese Szene zu verurteilen. Ist das verständlich? Ich fühlte mich verpflichtet, alles zu probieren.

Nicht daß ich wirklich geglaubt habe, daß das klappen wird, wiewohl sich, je mehr ich entschlossen war, dies zu machen, desto stärker im Hintergrund eine irreale, atemberaubende Hoffnung aufbaute, ob nicht doch ein Wunder geschehen könnte. Mein Gott! Wenn dies möglich wäre....!
Jedenfalls: probieren muß ich es.

In ein Casino zu gehen, das war für mich eine große Herausforderung, denn mit dieser Szene hatte ich absolut nichts zu tun. Ich kann mir wenig für mich mehr Verunsicherndes vorstellen, als in diese Welt von Geld und Glücksspiel einzutreten. (Höchstens in ein Puff zu gehen wäre eine größere Herausforderung.) Ich laufe ja nicht mit dem Gefühl herum, ein souveräner und freier Bürger und gesellschaftlich selbstverständlicher und mehr oder weniger relevanter Mitspieler zu sein, sondern als einer, den die Götter aus irgendeiner Unachtsamkeit übersehen haben, rechtzeitig auszusortieren, wehrlos gegen jeden Übergriff. Dem also gar nichts zusteht, schon gar nicht Geld und respektables Auftreten.

Aber ich wollte – wie schon gesagt – diese Herausforderung unbedingt annehmen und kratze mein letztes Geld zusammen, ziehe mein bestes Gewand an – ich weiß nicht mehr, war das ein abgetragener Anzug oder ein abgewetztes Sakko – und, weil ich von einer Krawattenpflicht gehört hatte, stecke ich mir eine vernudelte Krawatte ein. Aus irgendeinem Grund hatte ich nicht den Mut, mir diese verdammte Krawatte gleich umzubinden. So breche ich vom fünfzehnten Wiener Gemeindebezirk in den ersten auf. Aufgeregt, voller Angst, unsicher, aber in gewisser Weise auch tapfer (gegen das eigene Empfinden).

Vorm Casino wacht ein Türsteher. Ich war ja nicht in der Lage, so zu tun als ob, darum sagte ich ihm gleich, mit naiver, fast schon rührender Unbeholfenheit und kindlicher Ehrlichkeit, ganz direkt, daß ich zum erstenmal in ein Casino gehe, mich in dieser Welt nicht auskenne und fragte dann, ob ich in dieser Kleidung ins Casino hinein darf. Und tatsächlich meinte er „ja“, wenn ich noch eine Krawatte umbinde. Ich ging drei Schritte zur Seite, zog die zerknitterte Krawatte aus der rechten Sakkotasche und band sie mir um. Dann stellte ich mich wieder vor ihn hin und fragte, ob es jetzt geht, ihm dabei genügend Zeit lassend, mich ausreichend prüfend in Augenschein nehmen zu können. Er sagte aber gleich „ja“ und ließ mich passieren.

Um das unzweifelhaft klarzustellen, in dieser kabaretthaften Szene war meinerseits überhaupt nichts Provozierendes, Spöttelndes, Verarschendes, nein, ich war wirklich so. Das bin ich. So bin ich wirklich.

Also ging ich hinein, zitternd vor Angst, und wieder fragte ich brav, wie das hier geht. Ob und was ich mir für ein Getränk geleistet habe, weiß ich nicht mehr. Nur, daß ich, als ich es endlich wagte, an einen der Roulettische zu treten, den Croupier mit meinen Fragen, wie das gehe, nervte, nicht ohne gleich wieder von vornherein „demütig“ bekannt zu haben, zum erstenmal in einem Casino zu sein. (mitten unter den umstehenden Pokerfaces, als wäre das nicht offensichtlich!)
Ich glaube, meine Jetons reichten aus, um drei, viermal zu setzten - sollen es fünf, sechsmal gewesen sein - dann hatte ich alles verspielt. Ich war regelrecht erleichtert! Versuch gescheitert, das kann ich endlich abhaken. Es war zu erwarten, aber ich habe es probiert.

Jetzt nahm ich mir noch die Zeit, in den Räumen herumzuschlendern und den Spielern zuzuschauen. Erinnern kann ich mich an eine Chinesin in Jeans, die sagenhafte Summen setzte, und an ein Paar, das leichenblaß Richtung Ausgang wankte, mühsam bemüht, die letzte Fassung zu bewahren; er sagt dann zu ihr. „macht's was?“ und sie murmelt irgendetwas Unverständliches.
Fast pflichtbewußt schaue ich mich noch eine zeitlang um, bis ich mir dann endlich erlaube, den unangenehmen Ort zu verlassen.

Erleichtert in der frischen Luft draußen durchatmend mache ich mich auf den Weg in meine Einsiedelei. Ein Casino habe ich nie mehr betreten.







©Peter Alois Rumpf September 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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