Dienstag, 22. September 2015

195 Plötzlicher Einbruch


Wolken machen den Himmel teilweise weiß, teilweise milchig blau. Der vordere Essigbaum schaut direkt zum Fenster herein, der Weidenbaum links hinterm Nachbarhaus lugt schräg über das Dach her. Sie bewegen sich leicht, als würden sie miteinander reden. Was sehen sie?
Eine Katze am Fenster. Sie springt gleich hinunter und kommt zu mir her.
Verschiedene Pflanzen in Blumentöpfen am Fensterbrett, darunter ein „Lebensbaum“, der schon ganz gelb wird. (Wir nennen ihn Lebensbaum, vermutlich ist das nicht sein richtiger Name, aber er treibt jedes Frühjahr aus und geht dann im Herbst ein und verdorrt, um dann im Frühjahr wieder auszutreiben.)

Als die Katze auf die Rücklehne der Couch springt, auf der ich sitze, werden die Bäume ganz aufgeregt und schütteln ihre Zweige. Vermutlich haben sie erwartet, daß die Katze mir die Glatze abschleckt, wie sie es oft macht, und wollten sich darüber amüsieren. Aber die Katze scheint das durchschaut zu haben und ist wieder hinuntergesprungen und hat sich im Wäschekorb versteckt, wo sie die Bäume nicht sehen können.
Da die Bäume nicht herumgehen können, haben sie eine besondere Fähigkeit entwickelt, sich an den Kleinigkeiten zu erfreuen, die sich um sie herum abspielen. (Denke ich mir zumindest.)

Jetzt beobachten sie mich wieder ganz ruhig. Dann führen die zwei wieder ihren Bewegungsdialog. Der Essigbaum scheint mir etwas erzählen zu wollen, aber was?

Die Schatten haben sich inzwischen verändert. Da das Sonnenlicht leicht trüb ist, sind es auch die Schatten.

Was sehen die Bäume jetzt, wenn sie hereinschauen? In diesem Fenster immer noch mich auf der Couch an der Rückwand sitzen. Schreibend. Nicht ganz glücklich, weil ich meinem Tagesplan hinterher bin; es geht sich nicht mehr alles aus, was ich mir für heute vorgenommen habe. Die Bäume schütteln ihre Häupter: „Nein, das macht nichts! Schau uns an!“

Ich schaue sie an. Auch sie wissen, daß sie bald ihre Blätter verlieren werden und wiegen sich dennoch sanft im Wind. Und genießen es.

Die Essigbäume, die hinter dem ersten stehen, fast zur Gänze verdeckt, wollen mir unbedingt etwas zurufen, denn sie wedeln ganz aufgeregt mit den Zweigen und winken mir durch die Lücke in der Krone des ersten zu.

Aber was? Trau nicht dem Frieden? Absterben ist nicht lustig? Von andern verdeckt werden auch nicht? Ich weiß es nicht!


Jetzt weiß ich es! Ich habe im Hof das Geräusch von Motoren gehört und bin zum Fenster gegangen um hinunterzuschauen. Arbeiter sind gekommen und haben angefangen, die Büsche mit Heckenschneidern zurückzustutzen.
Der plötzliche und völlig unerwartete Einbruch der Brutalität.
Ich gehe nochmals ans Fenster. Die Arbeiter haben keine Leitern dabei. Anscheinend werden die Bäume noch geschont. Es trifft nur die niederen Büsche und Pflanzen.

Die Bäume verharren in gequälter Stille, bis sie es nicht mehr aushalten und unruhig zittern.
Jetzt sind die Schatten scharf geworden und der Himmel blau.
Jetzt sehe ich es an den Blättern – der Essigbaum ist müde geworden.
Und immer wieder das Aufheulen der Motoren. Als wären sie es, die den Schmerz erleiden. Mit einem sogenannten Rasentrimmer – was für ein häßliches Wort! - haben die Arbeiter noch die Pflanzen in den Beeten gestutzt, dann sind sie mit ihrer Arbeit fertig und wieder weg. Das ist jetzt schnell gegangen.

Nun ist es still. Aber diese Stille gellt immer noch laut und schrill.











©Peter Alois Rumpf September 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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