195 Plötzlicher Einbruch
Wolken machen den Himmel teilweise
weiß, teilweise milchig blau. Der vordere Essigbaum schaut direkt
zum Fenster herein, der Weidenbaum links hinterm Nachbarhaus lugt
schräg über das Dach her. Sie bewegen sich leicht, als würden sie
miteinander reden. Was sehen sie?
Eine Katze am Fenster. Sie springt
gleich hinunter und kommt zu mir her.
Verschiedene Pflanzen in Blumentöpfen
am Fensterbrett, darunter ein „Lebensbaum“, der schon ganz gelb
wird. (Wir nennen ihn Lebensbaum, vermutlich ist das nicht sein
richtiger Name, aber er treibt jedes Frühjahr aus und geht dann im
Herbst ein und verdorrt, um dann im Frühjahr wieder auszutreiben.)
Als die Katze auf die Rücklehne der
Couch springt, auf der ich sitze, werden die Bäume ganz aufgeregt und schütteln ihre Zweige.
Vermutlich haben sie erwartet, daß die Katze mir die Glatze
abschleckt, wie sie es oft macht, und wollten sich darüber
amüsieren. Aber die Katze scheint das durchschaut zu haben und ist
wieder hinuntergesprungen und hat sich im Wäschekorb versteckt, wo
sie die Bäume nicht sehen können.
Da die Bäume nicht herumgehen können,
haben sie eine besondere Fähigkeit entwickelt, sich an den
Kleinigkeiten zu erfreuen, die sich um sie herum abspielen. (Denke
ich mir zumindest.)
Jetzt beobachten sie mich wieder ganz
ruhig. Dann führen die zwei wieder ihren Bewegungsdialog. Der
Essigbaum scheint mir etwas erzählen zu wollen, aber was?
Die Schatten haben sich inzwischen
verändert. Da das Sonnenlicht leicht trüb ist, sind es auch die
Schatten.
Was sehen die Bäume jetzt, wenn sie
hereinschauen? In diesem Fenster immer noch mich auf der Couch an der
Rückwand sitzen. Schreibend. Nicht ganz glücklich, weil ich meinem
Tagesplan hinterher bin; es geht sich nicht mehr alles aus, was ich
mir für heute vorgenommen habe. Die Bäume schütteln ihre Häupter:
„Nein, das macht nichts! Schau uns an!“
Ich schaue sie an. Auch sie wissen, daß
sie bald ihre Blätter verlieren werden und wiegen sich dennoch sanft
im Wind. Und genießen es.
Die Essigbäume, die hinter dem ersten
stehen, fast zur Gänze verdeckt, wollen mir unbedingt etwas zurufen,
denn sie wedeln ganz aufgeregt mit den Zweigen und winken mir durch
die Lücke in der Krone des ersten zu.
Aber was? Trau nicht dem Frieden?
Absterben ist nicht lustig? Von andern verdeckt werden auch nicht?
Ich weiß es nicht!
Jetzt weiß ich es! Ich habe im Hof das
Geräusch von Motoren gehört und bin zum Fenster gegangen um
hinunterzuschauen. Arbeiter sind gekommen und haben angefangen, die
Büsche mit Heckenschneidern zurückzustutzen.
Der plötzliche und völlig unerwartete
Einbruch der Brutalität.
Ich gehe nochmals ans Fenster. Die
Arbeiter haben keine Leitern dabei. Anscheinend werden die Bäume
noch geschont. Es trifft nur die niederen Büsche und Pflanzen.
Die Bäume verharren in gequälter
Stille, bis sie es nicht mehr aushalten und unruhig zittern.
Jetzt sind die Schatten scharf geworden
und der Himmel blau.
Jetzt sehe ich es an den Blättern –
der Essigbaum ist müde geworden.
Und immer wieder das Aufheulen der
Motoren. Als wären sie es, die den Schmerz erleiden. Mit einem
sogenannten Rasentrimmer – was für ein häßliches Wort! - haben
die Arbeiter noch die Pflanzen in den Beeten gestutzt, dann sind sie mit ihrer
Arbeit fertig und wieder weg. Das ist jetzt schnell gegangen.
Nun ist es still. Aber diese Stille
gellt immer noch laut und schrill.
©Peter
Alois Rumpf September 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
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