192 Der dünne Firnis
„Wenn ich das in die Diskussion
einbringe, ziehe ich immer den Kürzeren“, sagt mir eine Stimme am
Ohr. Was, das weiß ich nicht mehr.
Eine junge Krähe sitzt in der
Windstille oben am Rauchfang und putzt ihr Gefieder. Möglicherweise
hat sie mich gesehen, denn sie agiert vorsichtiger, wirft immer
wieder Blicke in meine Richtung und bewegt sich langsam, gleichsam
noch spielerisch, aus meinem Gesichtsfeld. Nur ihren Kopf sehe ich
manchmal noch hinter ihrer Deckung auftauchen.
Die Nachbilder meiner Blicke scheinen
dunkle und helle Rechtecke voller Bedeutung in mein Notizbuch zu
brennen, bevor sich diese dann doch auflösen.
Die Krähe ist verschwunden, nichts
bewegt sich mehr. Nur die fahrenden Autos hinter mir, hinterm anderen
Zimmer draußen auf der Straße, und der kleine Springbrunnen im Hof
erzeugen rein akustische Bewegungen. Jetzt erbarmt sich ein leichter
Windhauch und streicht zwei Sekunden lang durch die Blätter der
Bäume im Hof.
Die Kinder sind angekommen und reden
und singen und rufen.
Die weltliche Sonne teilt den Hof in
einen hellen und einen dunklen Teil. Divide et impera.
Wie ein gedankenverlorener Katzenfreund
seine Katze, so streichelt ein scheinanwesender Wind seine Bäume von
Zeit zu Zeit. Nur manchmal wendet er sich voll den Bäumen zu und ist
ganz bei der Sache. Dann verliert er sich wieder in der Ferne, im
Narrenkastl oder wo auch immer.
Die wie ein junges Gebirgsbächlein
dahinspringenden und dahinfließenden Stimmen und Geräusche von
unten stehen in fröhlicher Spannung zu Ruhe und Stille hier oben bei
mir. Das regelmäßig geordnete Plätschern des Springbrunnens im Hof
unterstützt sie dabei.
Ich habe ein Gefühl, als würde der
Durchbruch unmittelbar bevorstehen; gleich passiert es. Gleich wird
sich mir die Welt in ihrem wirklichen Wesen offenbaren. Gleich werde
ich alles ohne Worte verstehen. Nur noch eine dünne Membran trennt
mich von dieser Erfahrung Erkenntnis Wahrnehmung. Ich werde wissen,
weil ich gesehen haben werde. Eine ruhige Aufgeregtheit – wenn es
so etwas gibt – erfaßt mich, nimmt sich regelrecht meiner an.
Mein ungläubiger, spöttischer
Intellekt rümpft im Hintergrund seine Nase und deutet im Abwenden
an, daß das nur überdrehtes Getue ist. Dabei weiß er schon, daß
es solche Erfahrungen gibt, aber er traut sie mir niemals zu. Du
nicht!, sagt er.
Aber
ich fühle alles, was mich umgibt, die Bilder der sinnlichen
Wahrnehmung vor allem, etwas schwächer auch die anbrandenden
Geräusche, von einer dichten Unmittelbarkeit unterlegt. Berstend
voll mit etwas Unaussprechlichem, das von unten, oder vom Innersten
der Welt an die Oberfläche der Bilder und Geräusche herandrängt.
Gleich ist der dünne Firnis des Vertrauten weggeschmolzen und das
Wunder des Seins liegt offen vor mir.
Doch
dann nimmt der Druck des Unmittelbaren wieder ab, sinkt ab wie der
Grundwasserspiegel bei Trockenheit und die Bilder werden wieder so,
wie ich sie kenne. Und dennoch, der Wind erscheint mir immer noch
mehr als das Spiel komplexer Luftbewegungen, nur bin ich wieder weit
davon entfernt, das Wunder dahinter zu erfahren.
Erst
jetzt bemerke ich, daß meine Ohren ganz wild singen, summen und
surren. Wie nach dem Besuch eines überlauten Popkonzerts.
Ich bin sehr ruhig, wie die Windstille draußen. Ich schaue auf die Schatten der Rauchfänge und Entlüftungsrohre. Zuerst, dann schaue ich auf die Schatten, die unter den Dachziegeln hervorquellen, und auf die, die in den Kronen der Bäume hängen.
Ich bin sehr ruhig, wie die Windstille draußen. Ich schaue auf die Schatten der Rauchfänge und Entlüftungsrohre. Zuerst, dann schaue ich auf die Schatten, die unter den Dachziegeln hervorquellen, und auf die, die in den Kronen der Bäume hängen.
©Peter
Alois Rumpf September 2015 peteraloisrumpf@gmail.com
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]
<< Startseite