Mittwoch, 16. September 2015

192 Der dünne Firnis


„Wenn ich das in die Diskussion einbringe, ziehe ich immer den Kürzeren“, sagt mir eine Stimme am Ohr. Was, das weiß ich nicht mehr.


Eine junge Krähe sitzt in der Windstille oben am Rauchfang und putzt ihr Gefieder. Möglicherweise hat sie mich gesehen, denn sie agiert vorsichtiger, wirft immer wieder Blicke in meine Richtung und bewegt sich langsam, gleichsam noch spielerisch, aus meinem Gesichtsfeld. Nur ihren Kopf sehe ich manchmal noch hinter ihrer Deckung auftauchen.

Die Nachbilder meiner Blicke scheinen dunkle und helle Rechtecke voller Bedeutung in mein Notizbuch zu brennen, bevor sich diese dann doch auflösen.
Die Krähe ist verschwunden, nichts bewegt sich mehr. Nur die fahrenden Autos hinter mir, hinterm anderen Zimmer draußen auf der Straße, und der kleine Springbrunnen im Hof erzeugen rein akustische Bewegungen. Jetzt erbarmt sich ein leichter Windhauch und streicht zwei Sekunden lang durch die Blätter der Bäume im Hof.

Die Kinder sind angekommen und reden und singen und rufen.

Die weltliche Sonne teilt den Hof in einen hellen und einen dunklen Teil. Divide et impera.
 
Wie ein gedankenverlorener Katzenfreund seine Katze, so streichelt ein scheinanwesender Wind seine Bäume von Zeit zu Zeit. Nur manchmal wendet er sich voll den Bäumen zu und ist ganz bei der Sache. Dann verliert er sich wieder in der Ferne, im Narrenkastl oder wo auch immer.

Die wie ein junges Gebirgsbächlein dahinspringenden und dahinfließenden Stimmen und Geräusche von unten stehen in fröhlicher Spannung zu Ruhe und Stille hier oben bei mir. Das regelmäßig geordnete Plätschern des Springbrunnens im Hof unterstützt sie dabei.

Ich habe ein Gefühl, als würde der Durchbruch unmittelbar bevorstehen; gleich passiert es. Gleich wird sich mir die Welt in ihrem wirklichen Wesen offenbaren. Gleich werde ich alles ohne Worte verstehen. Nur noch eine dünne Membran trennt mich von dieser Erfahrung Erkenntnis Wahrnehmung. Ich werde wissen, weil ich gesehen haben werde. Eine ruhige Aufgeregtheit – wenn es so etwas gibt – erfaßt mich, nimmt sich regelrecht meiner an.
Mein ungläubiger, spöttischer Intellekt rümpft im Hintergrund seine Nase und deutet im Abwenden an, daß das nur überdrehtes Getue ist. Dabei weiß er schon, daß es solche Erfahrungen gibt, aber er traut sie mir niemals zu. Du nicht!, sagt er.

Aber ich fühle alles, was mich umgibt, die Bilder der sinnlichen Wahrnehmung vor allem, etwas schwächer auch die anbrandenden Geräusche, von einer dichten Unmittelbarkeit unterlegt. Berstend voll mit etwas Unaussprechlichem, das von unten, oder vom Innersten der Welt an die Oberfläche der Bilder und Geräusche herandrängt. Gleich ist der dünne Firnis des Vertrauten weggeschmolzen und das Wunder des Seins liegt offen vor mir.

Doch dann nimmt der Druck des Unmittelbaren wieder ab, sinkt ab wie der Grundwasserspiegel bei Trockenheit und die Bilder werden wieder so, wie ich sie kenne. Und dennoch, der Wind erscheint mir immer noch mehr als das Spiel komplexer Luftbewegungen, nur bin ich wieder weit davon entfernt, das Wunder dahinter zu erfahren.

Erst jetzt bemerke ich, daß meine Ohren ganz wild singen, summen und surren. Wie nach dem Besuch eines überlauten Popkonzerts.
Ich bin sehr ruhig, wie die Windstille draußen. Ich schaue auf die Schatten der Rauchfänge und Entlüftungsrohre. Zuerst, dann schaue ich auf die Schatten, die unter den Dachziegeln hervorquellen, und auf die, die in den Kronen der Bäume hängen.












©Peter Alois Rumpf September 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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