Samstag, 26. September 2015

199 „What a wonderfull world!“


Interessant! Da schaue ich aus einem Fenster, aus dem ich schon oft geschaut habe, und sehe ein Haus, das ich noch nie gesehen habe. Ich kann mich nicht erinnern, es je gesehen zu haben. Ich suche irgendwelche Kennzeichen, die auf einen Neubau, oder wenigstens einen Umbau hindeuten. Aber im Gegenteil, nichts deutet darauf hin. Habe ich es immer übersehen? Einfach nie in die Richtung geschaut? Oder vergessen? Dabei bin ich fast wöchentlich hier.


Langsam beginnt die Droge zu wirken. Ich habe schon begonnen, viel zu reden und bin im Redefluß kaum zu bremsen. Das ist immer die Wirkung von Kaffee auf mich. Weil ich mich dauernd ins Gespräch der anderen einmische, komme ich mit dem Schreiben nicht weiter. Abgelenkt und unkonzentriert. Euphorisch auf eigenwillige Art, wie eine aufgeregte Müdigkeit. Ich meine, in der Müdigkeit fokussiert man nicht mehr so gut und die Eindrücke stürzen gleichberechtigt auf einen ein und neutralisieren sich gegenseitig. Das ergibt dann einen anders strukturierten Umraum. Ich rede soviel wie hier in den letzten Monaten nicht mehr.

Zirka eine halbe, dreiviertel Stunde nach der Einnahme fühle ich – wie fast immer – etwas wie ein steckengebliebenes Weinen knapp hinter meinen Augenhöhlen. Dort schwebt es, und es geht ein sehnsüchtiges Ziehen davon aus.


Vorher bin ich eine halbe Stunde in einer U-Bahnstation gesessen und habe gelesen. Endlich ist der heißersehnte neue, fünfte Band von Knausgårds Kampf auf Deutsch erschienen und ich hatte ihn gerade abgeholt. Träumen. Ich habe das Buch zu lesen begonnen und gleich hat sich in mir etwas zurechtgerückt – das ist für mich das Beste, was ich über ein Buch sagen kann. Und ich war glücklich. Auf der ganzen Herfahrt. Ich habe den Weg über die Vorortelinie genommen, meine Lieblingsstrecke hier in Wien. Ich habe vom Fenster des Zuges aus die vielen Gärten angeschaut, die an mir vorübergezogen sind, und interessante Häuser und Bauwerke. Hier hat Wien – zumindest von der S-Bahn aus – etwas Optimistisches.


Jetzt liege ich auf der Couch. Es ist ganz still in unserer Wohnung. Ungewöhnlich ist das für mich am Abend. In der Küche köchelt ein Gemüsetopf vor sich hin, im Rohr trocknet und röstet Buchweizen. Ich habe versprochen, am Sonntag zu kochen und arbeite schon etwas für morgen vor. Ich bin sehr müde und glücklich. Es macht mir nichts aus, wenn ich mein Leben verpfuscht haben sollte. Die Stille jetzt nimmt mir niemand. Alles ist richtig und am richtigen Platz. Ich muß lächeln, auch mein scheiterndes Leben finde ich gelungen. Es geht dem Ende zu. Ich mag ja noch einige Jahre oder gar Jahrzehnte Zeit haben, aber mein Leben geht dem Ende zu. Nein, nein, ich weiß von keiner Krankheit. Einfach nur so. Ich werde älter und alt. Herbst.

Die Sonnenblumen in der Vase auf dem Ofen sind schon etwas welk, aber immer noch schön. Die zwei Bilder an der Wand hinterm schwarzen Ofen, links und rechts vom Ofenrohr, von mir selber gemalt, gefallen mir in ihrer raffinierten Unbeholfenheit. Das schöne, dunkle Blau der kleinen Plastikgießkanne, der Holzschemel, das zusammengestellte, gefaltete Holzgitter, die großen Körbe für das Holz, die alten, lebenserfahrenen Wände, die Holztreppe... Mein Gott! Wie das alles schön ist! Die alte, fleckige, vertrocknete, braune Tür in ihrem schleißig weiß angestrichenen Türrahmen, mit der Kreideschrift C+M+B 2008, der Achter verwischt – so schön! so schön! Die Schatten der Sonnenblumen an der Wand hinterm Ofen – was für ein zartes Gebilde aus dunkleren und transparenteren Schattenblütenblättern!

Der Blick durch die offene Tür in den dunklen Raum dahinter.

Alle Geräusche, die es bis zu mir schaffen, haben etwas Singendes. Das passt gut zum Singen in meinen Ohren.

Und die schräg abfallenden Schatten der Treppenstaffeln – welch ein kraftvolles und sensibles Muster, duchbrochen von zwei querlaufenden, ganz schmalen Lichtstreifen; keine Ahnung, woher die kommen.

Und das freihängende Kabel einer Lampe wirft zwei Schatten, einer dunkler, einer etwas heller, die drei bilden die drei Kurven eines unbekannten Diagramms. Erst jetzt bemerke ich – ein dritter Schatten versteckt sich direkt an der Unterseite des Kabels und klammert sich da an. Was für eine interessante Welt!

Ich atme tief ein und lang und erleichtert aus.

Das Rot des Staubsaugers, der hinter einem weißen Kasten hervorschaut, und die roten Ringe, die vom Türrahmen herunterhängen.

Eine violette Handtasche mit Glitzer.

Pölster.

Das Schnurren der Katze.











©Peter Alois Rumpf September 2015 peteraloisrumpf@gmail.com

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