Ich hatte mich so darauf gefreut, eine Woche allein in der
Wohnung zu sein. Ich hatte mir vorgestellt, ich werde herumspringen und singen.
Nichts da! Alle meine Anläufe endeten in verhaltenem, erbärmlichem, gequältem
Gewinsel. Und fürs Herumhüpfen konnte ich meine verklemmte Körperlichkeit nicht
überwinden.
Als Kind war ich nicht nur Ministrant, sondern auch in der
katholischen Jungschar. Wir reden hier von den frühen Sechzigerjahren und da
gab es sogenannte Heimabende, wo wir auch Lieder gesungen haben. Da waren auch
welche dabei, die heutzutage unmöglich wären und dort sicher nicht mehr
gesungen werden. Von „Wir lagen vor Madagaskar, und hatten die Pest an Bord“
bis „Wildgänse rauschen durch die Nacht, mit schrillem Schrei nach Norden … die
Welt ist voller morden“; von „Im Frühtau zu Berge“ bis „Und die Morgenfrühe,
das ist unsere Zeit“. Von „Dona nobis Pacem“ bis „Negeraufstand ist in Kuba,
Schüsse gellen durch die Nacht“; von „Abendstille überall“ bis „der Mond ist
aufgegangen“. Dann gab es noch ein Almlied, das ich sehr mochte und mir nicht
einfallen will, und ein kirchliches, das ich gern hatte und mir ebenfalls
entfallen ist.
Aber ein Lied hatte mir damals besonders gefallen, und
seinen Titel habe ich vergessen. Es ging mit „umba umba umba“ - also mit
lautlicher Imitation von Trommeln – an – und wenn genug Buben in der Gruppe
waren, hat ein Teil dies als Rhythmusgruppe weiter gesungen. Dann kam ein
monotoner Singsang mit folgendem Text (alles aus dem Gedächtnis zitiert): „Heiß
brennt die Äquatorsonne auf die öde Steppe nieder, nur im Kraale der Owambo
singt der Häuptling seine Lieder“ - die Melodie geht einfach rauf und runter.
Dann singt der Häuptling: „kaulitschka kauka tschulema“, dann höher
„kaulitschka kauka tschulema“ herabsteiged: „kaulitschka kauka, kaulitschka
kauka kaulitschka kauka tschulema“. Ein etwas diffenzierteres Auf und ab, das
wohl Stimme und Montagepunkt in Bewegung setzt.
Und dann kommt die Passage, deretwegen ich das Lied so
geliebt habe und die wie eine kleine Offenbarung für mich war: der Häuptling
singt weiter: „Eeebelemeee Eeebelemeee“ (und dann ging es wieder mit „umba
umba“ wieder von Vorne weiter).
Bei diesem langsam und getragen gesungenem „Eeebelemeee
Eeebelemeee“ hatte ich immer den Häuptling vor Augen, wie er da am Dorfplatz
sitzt und voller Inbrunst seine Lebensfreude und sein Glück, auf dieser
wunderbaren Welt zu sein, seine Ehrfurcht vor Mutter Erde und seine
Ergriffenheit, als endliches, sterbliches Wesen der Unendlichkeit gegenüber zu
stehen, hinaussingt.
Das sind natürlich meine heutigen Worte, mit denen ich meine
damalige kindliche Berührtheit zu beschreiben versuche.
Bei aller Fragwürdigkeit der romantischen Idealisierung der
„Wilden“ würde ich dennoch sagen: damals bin ich zum ersten Mal mit dem
Schamanischen und meiner Sehnsucht danach in Berührung gekommen.
Gestern in der Therapie habe ich davon erzählt und es ist
mir aufgefallen, daß auch auf meinem liebsten Bild aller meiner Bildwerke die
Lieblingsszene die ist, wie ein – diesmal – Amazonasschamane unter Einfluß von
Kraftpflanzen auf seinem Dorfplatz tritt und unter Tränen und mit rotzender
Nase – die Hände leicht ausgebreitet – in all seinem schönen Schmuck voller Inbrunst
sein Lied in diese Unendlichkeit hinaussingt.
Nach der Therapiestunde bin ich direkt nach Haus gefahren,
habe die Wohnungstür versperrt, die Fenster zum Hof geschlossen und begonnen:
„umba umba umba umba“ und bei „Eeebelemeee Eeebelemeee“ hat sich in mir Einiges
zu lösen und zu öffnen begonnen. Nach ein paar Wiederholungen des Liedes habe
ich angefangen, das „Eeebelemeee“ auszuzieren und zu variieren, habe es einfach
weitergesungen, frei, wie es gekommen ist, mit fester Stimme ohne Unsicherheit,
ob ich dabei in der Küche hantiert habe oder wie ein Idiot herumgehüpft bin
oder andächtig und fromm mit leicht ausgebreiteten Armen, das Gesicht ein wenig
zum Himmel gerichtet, dagestanden bin. Ich habe gesungen und gesungen, die
Melodien und Töne sich nur so aus mir herausgeflossen, ich habe aus mir
herausgesungen, meine eigenen Lieder (Ψάλμόι ιδιωτες) und ich war glücklich!
Glücklich!
(8.7.2020)
©Peter Alois Rumpf, Juli 2020
peteraloisrumpf@gmail.com