1919 Ein kranker Esel
Nachdem ich mir wochenlang gut zugeredet habe, wie einem
kranken Esel, habe ich es heute endlich geschafft: ich bin in der Albertina!
Gestern hatte ich die Wohnung nicht verlassen, die Tür blieb
den ganzen Tag verschlossen. Anscheinend habe ich da seelischen Anlauf genommen
und heute bis hierher.
Alles scheint umgehängt. Die drei Frauenköpfe vom Katz, vor
denen ich mich auf meinem heutigen Kunstweg zum ersten Mal niedergelassen habe,
sind mir im Moment zu nah, ich fürchte mich fast. Allmählich kann ich mich auf
sie besser einstellen.
Im Vorbeigehen habe ich den ersten Warhol gesehen, der mir
gefallen hat: Crosses. Aber: bloß im Vorbeigehen (ansonsten mag ich den
Warholic gar nicht!).
Schaue ich wieder auf das Katzsche Trio 4 und lasse meinen
Blick nur eine Sekunde lang dort, ist die Magie wieder da, sie ist mir heute
jedoch nicht ganz geheuer. Ich gehe weiter.
Das erste Mal überhaupt – auch im Vorbeigehen –
Baselitzzeichnungen zur Kenntnis genommen. Ja, gehen rein – im Vorbeigehen!
Aber das ist jetzt gut und habe ich mir schon lange
gewünscht: dass man vor den Richters sitzen kann! (Weil's die Wahrheitsfindung
und den Blick auf die Trinkende Frau nicht stört.)
Aber ich bin zu aufgeregt und zu nervös um richtig genießen
zu können. Fast sehne ich mich nach meiner Zelle zurück. Aber es wird schon
gehen! Marschiere ich halt heute flott durch. Zum langsamen Wiederanfreunden.
Es wird mit der Kunst nicht viel werden, denn ich bin viel
zu sehr mit mir und meinem Hiersein beschäftigt, viel zu aufgeregt, unruhig und
ungeduldig - kann meinen Blick kaum auf den Bildern halten. Und schon gar nicht
fühlen, was sie sind; oder auch nur empfinden, was sie in mir auslösen.
Auch jetzt bei den Sphinxen stellt sich keine Ruhe oder
Erholung ein (als die fragenden, tötenden Sphinxe kann ich diese schwindlichen
Figuren nicht ernst nehmen, da sind sie mir viel zu dekadent).
Nun bei meinen Klassikern (Batliner). Die Bilder, die ich
bei früheren Besuchen schon oft und lange angeschaut hatte, beruhigen mich auch
jetzt ein wenig. Vuillards Blauer Salon lädt mich zum Stehenbleiben ein. Ein
wenig kann ich aufnehmen.
Aber jetzt bin ich schon seelisch erschöpft. Und oder
körperlich. Nehme nur mehr minimal auf.
Vor meinen Lieblingsbildern, den zwei Kokoschkastädten: ein
wenig Verweilen, ein wenig Erholung. Aber nicht mehr! (ganz klar: das liegt an
mir und nur an mir und meiner seelischen und sozialen Verschlossenheit).
Ich bin so ausgepowert, dass es mich ein wenig erschreckt:
verliere ich einen der wenigen Nervenstränge in die Welt hinaus? Mein Gerede,
mein Geblödel vom Ausgedinge – ist es viel realer, als mir lieb ist? Schalten
sich meine Synapsen ab? Will ich oder muß ich wirklich mein Leben nur mehr
auslaufen lassen? Vertrage ich keine Erschütterungen, Hoffnungen, Aufwühlungen,
Konfrontationen mehr? Ist es nicht eigenartig, wegen eines Besuches in einem
Museum zuerst so aus dem Häuschen und dann so erledigt zu sein?
Trauer.
(6.7.2020)
©Peter Alois Rumpf, Juli 2020
peteraloisrumpf@gmail.com
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