Als ich 1972 nach Graz ging, um das
Theologiestudium aufzunehmen, versuchte ich, wieder richtig fromm zu
werden. Ich hörte mir - beeinflußt von einem Priester - keine
Popmusik mehr an – beziehungsweise ganz selten und mit schlechtem
Gewissen – und horchte nicht mehr andächtig die „Musicbox“,
eine gehobene Jugendsendung auf Ö 3 damals, die ich mir vorher
nahezu täglich angehört hatte. Ich versuchte regelmäßig die Bibel
zu lesen, zu beten, besuchte regelmäßig die Heilige Messe; meine
ersten literarischen Versuche, die sogar in der Musicbox vorgelesen
wurden, verwarf ich – ich hörte mir nicht einmal die Sendung an,
in der mein Text vorgelesen wurde – und verfolgte das Schreiben
auch nicht weiter.
Ich versuchte also mein bisheriges
Leben – mit einem Bein in Kirche und Christentum, mit dem anderen
in der Popkultur mit allen ihren Zeitgeisterscheinungen –
dahingehend zu ordnen, daß ich mir das „Popbein“ abzuhacken
versuchte, um nur mehr im kirchlichen Katholizismus meinen Stand zu
haben. Das war natürlich ein von außen und vom Kopf her
aufgesetztes Programm, das die vielen Persönlichkeitsanteile, die
sich von dieser neu aufbrechenden Zeit angesprochen und auch
ausgesprochen fühlten, zu ignorieren und zu unterdrücken versuchte.
Ich war ja über die Popmusik von diesem Zeitgeist des Aufbruchs
erfüllt gewesen, was immer auch für problematische Mechanismen –
innerpersönlich wie auch sozial – dahinter wirksam gewesen sein
mögen.
Ich soll vielleicht noch betonen, wie
widersprüchlich meine Liebe zur Popmusik und die Aufnahme der für
mich vor allem durch die Musicbox transportierten Ansichten und
Ideologien verlief. Ich hörte als Gymnasiast diese Sendung täglich,
liebte die Musik, aber manche Statements und Geschichten lösten
durchaus kleine oder größere Schocks aus, die ich immer erst
verarbeiten mußte; so in dem Sinn: darf man das sagen? Geht das
nicht zu weit? Ich konnte das oft nicht mehr richtig in meinen
katholisch geprägten Sinnhorizont einbauen und war immer stärker
sozusagen zweigleisig unterwegs. Eine Zweigleisigkeit, die übrigens
anfänglich auch in der Musicbox selber spürbar war, den nicht
wenige Mitarbeiter der Sendung kamen aus der reformkatholischen Ecke.
Aber mein Herzblut war schon sehr bei
dieser Musik! Es war das das einzige Gebiet, wo ich mir Urteile
darüber, ob etwas gut oder schlecht ist, zutraute und diese durchaus
auch anderen gegenüber vertreten konnte – natürlich beeinflußt
von der Musicbox und durch sie sozusagen den Rücken gestärkt.
Zu dieser Stimmung der Zeitenwende –
die sie ja wirklich war – gehörte auch – wie ja jeder weiß –
daß der Gebrauch von Drogen zumindest als interessant erschien und
die damit erreichbare Bewußtseinserweiterung als faszinierend. Das
mußte gar nicht regelrecht „verkündet“ werden; es genügte, daß
man wußte, die bewunderten oder geliebten Musiker nahmen sie und die
Musik war davon beeinflußt.
Das alles war für mich als Gymnasiast
nur theoretisch „nah“; im realen Leben war ich ein braver Sohn
und Schüler und diese Popwelt war woanders, nicht hier, wo ich bin;
sie kam nur aus dem Radio zu mir. Um beim Thema zu bleiben – der
Gebrauch von illegalen Drogen mag aus der Distanz eine gewisse
angsterfüllte Faszination auf mich ausgeübt haben, aber ich war
weit davon entfernt, damit zu experimentieren. Und beim Studienbeginn
in Graz mit meinem „abgehackten Popbein“ war ich erst recht weit
davon entfernt.
Natürlich war der „popige“ Anteil
meiner Persönlichkeit nicht verschwunden, sondern bloß verdrängt
und sobald ich mich von Christentum und Kirche entfernte, wieder voll
da. Dann war es für mich theoretisch durchaus denkbar, mit Drogen zu
experimentieren, obwohl ich in der Praxis eine große Scheu davor
beibehielt. Das kann ohne weiteres mit meinen „braven“,
autoritätsgläubigen Persönlichkeitsanteilen zu tun haben, die
natürlich auch nicht schliefen und die daraus resultierende Angst
davor, Gesetze zu brechen und erwischt zu werden – denn beim
Alkohol gab es diese Ängste nicht – oder auch damit, daß ich tief
in mir wußte, daß meine Persönlichkeit sowieso nicht sehr fest
gebaut ist und nicht gut im Leben sitzt, sodaß solche Experimente
Dinge in Bewegung bringen können, die ich dann - wie eine Lawine –
nicht mehr beherrschen kann. Ich probierte es zwar einige wenige Male
aus, Haschisch zu rauchen, aber es zeigte sich bei mir keine Wirkung.
Offensichtlich waren meine Rauschvorstellungen und -erwartungen vom
Alkohol geprägt, sodaß ich sozusagen einen „falschen Rausch“
intendierte, der sich dann nicht einstellte.
Es kam noch dazu, daß ich mit zirka
Vierundzwanzig Carlos Castaneda zu lesen und zu lieben begann und den
Schluß, den ich aus dieser Lektüre zog, war, mit Drogen nicht
herumzuspielen. Ich weiß, daß
sich Tausende und Abertausende bei ihrem Drogenkonsum auf Castaneda
berufen oder sich von seinen Büchern dazu angeregt gefühlt haben,
aber für mich waren das Leute, die offensichtlich nicht lesen
konnten, was dort in den Büchern steht, sondern ihre subjektiven
Geschichten in das Gelesene hineinprojizierten. Ich war verwundert
und irritiert darüber, aber mir in dieser Sache trotzdem ganz
sicher. Mit dieser Auffassung stand ich absolut alleine da und ich
wundere mich noch heute, woher ich diese Sicherheit nahm, aber ich
denke noch jetzt, bei allem, was ich heute über Castaneda weiß, ich
habe recht gehabt. Wenn ich dann – jetzt schon in Wien in der
Künstlerszene lebend - trotzdem wieder versucht habe, einen Joint
zu rauchen, dann im Bewußtsein, daß ich mich dabei nicht auf
Castaneda berufen kann.
Ich war erst
ungefähr neunundzwanzig oder dreißig Jahre alt, als es zum
erstenmal richtig funktionierte und ich einen solchen Rausch erlebte;
der war dann allerdings sehr, sehr toll und ich habe dabei –
ausgelöst von einer konkreten Szene, die ich beobachtete –
Einsichten in die menschliche Seele und ihre sozialen Spielchen
gehabt, die mich heute noch staunen machen, vor allem, wie prägnant
und treffend ich sie benennen konnte.
Um die
Zweiunddreißig herum habe ich dann ein paarmal Haschisch geraucht;
in dieser kurzen Phase ohne größere Bedenken, aber durchaus im
Bewußtsein, daß es eigentlich nicht so gut ist, solche Abkürzungen
zu den angestrebten Zuständen der Bewußtseinserweiterung zu nehmen.
Genossen habe ich es trotzdem und ich bereue es auch heute nicht,
wiewohl ich froh war und bin, diese Erfahrungen erst in diesem Alter
und nicht früher gemacht zu haben.
Ich hatte also eine
sehr zurückhaltende Einstellung zum Gebrauch von Drogen, allerdings
nicht auf den Alkohol bezogen. Den zu konsumieren hielt ich zwar auch
für fragwürdig, aber ich tat es trotzdem, obwohl ich dabei selten
eine Erweiterung, meistens eher eine Einschränkung, Trübung,
„Verdumpfung“ des Bewußtseins erlebte, um nicht zu sagen, eine
„Verprimitivierung“. Diese Einschränkung kann jedoch als
Befreiung vom Druck des „Überichs“ - ich glaube nicht an das
Freud'sche Schema, aber sei's drum! - empfunden werden. Zumindest ich
empfand es so und führte mich oft - in die dumpfen Regionen meiner
Seele hinuntergezogen - entsprechend auf. Die Rauscherlebnisse mit
Haschisch habe ich immer als subtiler, feiner erlebt, mit einem Zug
eher nach oben.
Mit Vierunddreißig
unternahm ich eine Reise nach Spanien, von österreichischen
Künstlerfreunden, die sich bei spanischen Künstlerfreunden
aufhielten, eingeladen. Wir trafen uns in Salamanca. Zu meinem
Erstaunen – denn ich hatte von Spanien das Bild eines strengen
Staates mit strenger Polizei – wurde dort ziemlich offen Haschisch
geraucht. Wegen meiner reservierten Haltung dazu machte ich
anfänglich nicht mit, sondern blieb beim Trinken, und man könnte
sagen, wir bewegten uns in einer Wolke aus Euphorie und Lachen.
Anscheinend hatte ich eine solch starke Affinität zu diesen
Zuständen, daß ich mich allein schon durch meine Anwesenheit in
dieser Wolke manchmal anders als bloß alkoholisch berauscht fühlte.
Ach, war das schön!
Es gab auch
ernüchternde Momente, als ich zum Beispiel auf einem Familienfest
eines der spanischen Freunde zum erstenmal in meinem Leben mich
selber auf einem Video – von irgendwem dort auf dem Fest einfach so
dokumentarisch aufgenommen – sah und dachte: „Was?! Der gespreizt
herumsteigende und verlegen grinsende, total verspannte Idiot bin
ich?!“ Das war schockierend. Oder beim Aufwachen nach einem
ordentlichen, richtig alkoholischen Rausch, in dem ich totalmente
borracho, also komplett betrunken, einer Spanierin an der Bar auf den
Hintern griff. Solch ein dumpfes Alpindodelverhalten ist für einen
stolzen und auf seine Würde bedachten Spanier völlig undenkbar;
niemals würde er sich so gehen lassen und niemals sich so betrinken,
daß er nicht mehr weiß, was er tut. Ein absolutes No-Go.
Trotzdem oder
gerade deswegen, die Wolke war stärker und ich stieg für ein paar
Tage auf das hellere und erhabenere Rauschmittel Haschisch um. Da
saßen wir nun, alle illuminiert, auf der Plaza Mayor im Freiluftbereich
eines Cafés und redeten,
blödelten und lachten. Freund Bruntomeff hantierte mit irgendwelchen
Zetteln herum, auf die er irgendwas notierte, und hielt kurz inne, um
sie dann – im Scherz – zu paraphieren und abzuhaken. Also, er
machte ein Hakerl auf dem Papier und setzte sein Namenszeichen
daneben. Das weitete er dann aus und begann alle Gegenstände am
Tisch imaginär – ich meine, in der Luft – mit seinem
Abhak-Hakerl und seinem Namenskürzel zu versehen, auch den Wein im
Glas, indem er den Kugelschreiber eintauchte und abhakte und
signierte.
Vielleicht wer es
der Wein, der ihn – oder war ich es? Ich weiß es nicht mehr –
auf die Idee brachte, ihn auch noch mit einem Kreuzzeichen zu
versehen. Ja, ja, das war schon die Idee von Bruntomeff! Ich stieg
jedenfalls begeistert darauf ein. Das neue Spiel lautete jetzt:
abhaken, paraphieren, segnen. Wir lachten sowieso schon die ganze
Zeit, aber wir beide trieben das Spiel noch mehr ins Absurde. Jeder
Brösel auf dem Teller wurde angehakt, paraphiert, gesegnet. Der
Tisch als ganzes und so weiter.
Wenn ich mich
richtig erinnere – und meine Erinnerung ist schlecht – verlagerte
sich der Schwerpunkt unserer Arbeit immer mehr aufs Segnen. Wir
segneten alles. Wir, das waren vor allem Freund Bruntomeff und ich.
Das Tischtuch, die Spatzen, das Besteck, die Tassen, die Untertassen,
die Blumentöpfe, die Pflanzen, den Mist am Boden, die Speisen
sowieso, die Speisekarten, die Werbungsschilder, Hundstrümmerln kann
ich mich nicht erinnern, aber hätten wir auch gesegnet, die
einzelnen Pflastersteine, die Zigaretten, die Zünder, den
Aschenbecher, die Zigarettenstummel, alles, alles, was es um uns
herum gab. Als es zu regnen begann, kamen wir in einen ziemlichen
Stress, weil wir jeden einzelnen Regentropfen am Tisch segnen wollten
und wir dafür bald viel zu langsam waren, der Regen war nicht mehr
zu dersegnen. Wir steigerten uns in unserem Rausch regelrecht in
einen Segnungswahn hinein. Wir standen vom Tisch auf und gingen
herum, segneten jede Säule des Arkadenganges, jedes Blatt am Boden,
jeden Mistkübel, jedes Steinchen, alles, alles, alles was uns in die
Augen fiel. Schließlich wollten wir die Plaza Mayor als ganzes,
sozusagen in einem Zug segnen. Freund Bruntomeff übernahm die eine
Linie, ich die andere. Wir gingen jeder in eine Ecke des riesigen
Platzes und marschierten jeder in die ihm gegenüber liegende Ecke,
dabei die rechte Hand starr in der Geste des Segnens haltend, denn
das war als ein ganzes, riesiges Kreuzzeichen gedacht, das wir
da machten. In der Mitte kreuzten sich natürlich unsere Wege.
Die Stimmung war
unbeschreiblich! Wir lachten und lachten, andererseits hatte uns,
beziehungsweise mich – von Freund Bruntomeff weiß ich es nicht so
genau – ein „heiliger“ Ernst erfaßt. Ich empfand, was ich da
machte, durchaus – wie kann ich das sagen? - tief. Ich segnete die
Welt und alles, was in ihr in meiner Reichweite war. Dieser „heilige
Ernst“ kollidierte durchaus nicht mit unserem Lachen; im Gegenteil,
für mich ergänzten sie sich großartig. Zwei lachende Narren, die
glücklich die ganze Welt segnen und das Leben feiern.
Später fuhren wir
mit dem Auto – in Spanien geht man nicht gern zu Fuß – zum Fluß
hinunter, dem Rio Tormes, und feierten weiter. Ich ging am Ufer herum
und war von einer großen Ergriffenheit erfüllt. Dann setze ich mich
wieder hinten ins geparkte Auto. Ich schwebte in einem Gefühl, von
einer massiven Unmittelbarkeit, einer unglaublichen Intensität
umgeben zu sein. Ich starrte auf einen Faden, der von der Polsterung
der Rückenlehne vor mir abstand; ich schaute und schaute und ich
fühlte und begriff, daß dieses kleine Stück Faden ein Universum
für sich ist. Ich schaute lange hin und staunte. Ich war ergriffen
und dankbar, so ein Wunder schauen zu dürfen. Ich wollte Gott dafür
danken, daß es das gibt, daß er dieses kleine Fädchen erschaffen
hat, in seiner Schönheit und Existenz alleine schon die ganze
Schöpfung rechtfertigend, egal, was da alles in ihr sonst noch
passierte. Ich stieg wieder aus dem Auto und ging bei der
aufgehenden Sonne am Ufer herum. Mit Tränen der Freude und des
Glücks in den Augen wollte ich beten, ich war in mich versunken und
versuchte, das Vaterunser zu beten, aber der Text fiel mir nur mehr
bruchstückhaft ein. „Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt
werde...“, wie geht es weiter? Angestrengt, aber vergeblich
versuchte ich mich zu erinnern. Egal, dann stammle ich halt bloß.
Inzwischen war es
kalt geworden und ich wandte mich wieder meinen Freunden zu und wir
beschlossen, in ein Café
frühstücken zu gehen. Ich lief in der Stimmung eines andächtigen
Gewahrseins herum, von dieser Intensität wie in einem Kokon
eingehüllt. Möglicherweise erlebten die anderen ähnliches, denn
wir wurden alle eine zeitlang ganz still.
Im Café
tranken wir Kakao und aßen so gebackene Teigstangerl dazu, deren
Oberfläche gerillt war und ich erinnere mich, daß wir uns über
diese Teigstangerl und ihre Unregelmäßigkeiten fast zu Tode
lachten. Einer hielt zum Beispiel ein Stangerl in die Höhe, und wir
sahen, daß das Ende etwas gebogen war – und wir lachten. Ein
anderer zeigte uns ein Stangerl, dessen Rillen leicht verdreht waren
– und wir lachten. Wir lachten und lachten und lachten.
Irgendwann werden
wir uns wohl verausgabt haben und werden nach Hause gegangen oder
gefahren sein und uns ausgeschlafen haben – ich kann mich an den
weiteren Verlauf nicht mehr erinnern. Ich weiß noch, daß am
nächsten Tag bei mir diese ehrfürchtige Stimmung noch angehalten
hat.
Und ich habe dann,
wieder zurück in Wien, tatsächlich das Vaterunser auswendig
gelernt.
©Peter
Alois Rumpf November 2015 peteraloisrumpf@gmail.com