Ich sitze und schräg rechts gegenüber
steht ein Lastwagen. Seine graue Plane über der Ladefläche macht
Falten und erzeugt so im schrägen Sonnenlicht ein schönes Licht-
und Schattenspiel, das der Wind – manchmal ganz sanft sich
anschmiegend, manchmal kraftvoll zupackend – auf wunderbare Weise
bewegt.
Heute bin ich schon in der U-Bahn
gesessen. Auf dem Weg zum großen, schlanken Mann. In den
U-Bahnstationen und auf den Straßen habe ich den Frauen auf den
Hintern gegafft. Aber jetzt trete ich beim großen, schlanken Mann
ein und setzte mich hin. Ich sitze und erzähle vom Gaffen. Dann
schließe ich die Augen und werde ganz ruhig. Ich spüre den Druck
der immensen Luftsäule über mir mich niederdrücken. Und die Erde
mich anziehen.
Es drückt mit zusammen und ich bringe
immer weniger Widerstand gegen diesen Druck auf. Ich werde immer mehr
zusammengekrümmt, lasse den Kopf nach vorne sinken, beuge mich
tiefer und tiefer und werde immer kleiner. Jetzt bin ich nur mehr ein
Tropfen. Der Tropfen spürt keinen Druck. Es ist ein angenehmer
Zustand. Ich habe diese Welt der Schwerkraft verlassen.
Aber dann kehre ich wieder zurück. Ich
dehne mich aus, zuerst strecke ich mich in die Arme hinein, dann
stütze ich mich mit den Beinen nach unten ab und spüre den Boden
gegen die Fußsohlen drücken. Das gibt mir den Halt zum Aufrichten.
Ich hebe wieder den Kopf. Ich stütze die Arme auf die Oberschenkel und richte den Oberkörper auf, dehne die
Brust und sitze. Ich sitze wie auf einem Thron. In dieser Welt der
Schwerkraft. Ich habe meine Gestalt wieder von innen ausgefüllt.
Jetzt werde ich etwas größenwahnsinnig
und fühle mich, als wäre ich ein Papst. Ich sitze auf dem Thron und
segne die Welt. Urbi et orbi. Mir ist ganz feierlich zumute.
Da spricht der große, schlanke Mann
mitten in mein Segnen hinein: „Und was ist, wenn jetzt eine Frau
mit schönem Hintern vorbeikommt?“
Ich muß lachen. Ich muß viel lachen.
Nun, vielleicht kann ich sie segnen. Der Mann sagt: „vielleicht hat
sie eine verletzte Seele, die des Segens bedarf!“ Kurz bin ich erschrocken, als wäre ich zum erstenmal damit konfrontiert, daß Frauen eine Seele haben; und
muß dann weiterlachen. So schön an der Nase herumgeführt worden zu
sein! Da bin ich um die Ecke gebogen, und da ...
Wieder muß ich lachen.
Vergnügt sitze ich am Thron. Ich
genieße den Zustand. Wellen von Energie gehen durch mich hindurch
und schaukeln mich sanft. Je nachdem, wie ich mich in diese Wellen
stelle, sind sie kürzer oder größer, sanfter oder stärker. Ich
spiele mit ihnen. Ich lasse mich schaukeln. Die Wellen kommen aus dem
Universum und sind unwandelbar und stetig.
Jetzt fährt die Plane mit dem
Lichtspiel weg. Sie bleibt nochmals direkt vor mir kurz stehen um
sich zu verabschieden. Als sie weg ist, stinkt es nach Autoabgasen.
Ich gehe zurück zum Thron. Mein Kopf
ist etwas zu schwer. Er hält schlecht. Gehalten wird er nur mehr von
so metallenen Strängen, wie Saiten, die von unten aus dem Rumpf
kommen, durch den Hals gehen und innen im Hohlraum des Kopfes
festgemacht sind. Die Drehverbindung zwischen Kopf und Hals ist schon
aufgeschraubt. Deswegen taumelt der Kopf hin und her. Eine Viola
fängt zu spielen an und ich lausche den Schwingungen ihrer Saiten
und schließlich fällt der Kopf runter zur Erde und rollt –
kantapper, kantapper – davon.
Ich fühle mich ganz wohl ohne Kopf;
aus meinem Hals wächst jetzt eine Fontäne von leuchtenden, gelben
Energiesträngen. Ich kann alles wahrnehmen. Mir fehlt nichts. Mein
Kopf geht mir gar nicht ab. Soll er ruhig – kantapper, kantapper –
in der Welt herumrollen. Ich brauche ihn nicht. Ach wie schön ist
es, kopflos zu sein!
Ah, ich höre, daß er gerade einen
Bären trifft! „Guten Tag, Bär!“, sagte der Kopf. „Guten Tag
lieber Kopf“, sagte der Bär, „wart ein Weilchen, ich will dich
auffressen!“ „Das möchtest du wohl“, rief der Kopf, „ich bin
schon dem Peter Rumpf davongelaufen, mich sollst du nicht kriegen!“
Und rollte – kantapper, kantapper – den Weg entlang. Hoffentlich
richtet er in der Welt draußen nicht zuviel Schaden an!
Jetzt sitze ich unter einem meiner
Lieblingsbäume, einer lieblichen Birke, die gerade ihre Blätter
austreibt. Links von mir die herrliche, riesige Platane, die Herrin
am Platz. Und weiter hinter der Platane, die Straße entlang, stehen
vier junge, kleinere Bäumchen, die auch meine
Freunde sind, größer als ich. Der letzte heißt Agent 007. 007 ist der erste den ich
grüße, wenn ich hierher komme.
Rechts von mir, weiter weg, drüben
über der Straßenkreuzung, steht noch eine kleinere Platane, groß
und schön, auch sie begrüße ich fast immer mit Handschlag.
Ah, ich höre, der Kopf trifft gerade
einen Wolf! „Guten Tag, Wolf!“, sagte der Kopf. „Du hast es
ganz schön eilig“, sagte der Wolf. „Wart ein wenig, daß ich
dich fressen kann!“ „Ein andermal“, sagte der Kopf. „Ich bin
schon dem Peter Rumpf und dem Bären davongelaufen, da sollst du mich
auch nicht kriegen!“ und rollte – kantapper, kantapper – in den
Wald hinein.
Der Wind weht von rechts und trägt
immer wieder Autoabgase her, diesen Geruch, von dem mir so leicht
schlecht wird. Vor mir die gelbe Macht. Paßt gut, daß ich heute ein
gelbes Leiberl angezogen habe.
Ah, ich höre, der Kopf begegnet gerade
einem Wildschwein! „Guten Tag, Frau Wildschwein!“ grüßte der
Kopf. „Halt!“ grunzte das Wildschwein. „Ich will von dir
kosten!“ „Ein andermal“, sagte der Kopf. „ich bin schon dem
Peter Rumpf, dem Bären und dem Wolf davongelaufen. Da sollst du mich
auch nicht kriegen!“ und rollte – kantapper, kantapper – die
Wiese hinunter.
Bald werde ich wieder sitzen.
Stundenlang, mit Headset am Kopf. Wenn ich aufstehe und aufs Klo
gehe, wird der Aufseher schauen. Letztens hat auch er ein gelbes
T-Shirt getragen.
Ah, ich höre, der Kopf trifft einen
Gockel! „Guten Tag, Gockel!“ ruft der Kopf. „Was läufst du so
schnell?“, fragte der Gockel. „Bleib stehen, damit ich einen
großen Happen picken kann!“ „Keine Zeit!“, schreit der Kopf
und rollt – kantapper, kantapper – weiter. „Ich bin schon dem
Peter Rumpf, dem Bären, dem Wolf und dem Wildschwein davon gerollt.
Du hast mich auch nicht gekriegt!“
Zwischen der Bank, auf der ich sitze,
und der gelben Macht führt der Fußweg ins Nirgendwo vorbei, auch
ich bin diesen Weg hergekommen. Jetzt sitze ich unter der lieben
Birke. Sie breitet ihre vielen Arme über mich und muß sich dabei
anstrengen, immer wieder fallen ihre Arme zurück nach rechts. Aber
der Wind hilft ihr. Liebevoll steckt sie ihre Zweige wieder und
wieder über mich. Danke!
Ich segne eine junge Frau im Minirock.
Aufs Segnen hatte ich ganz vergessen. Ich habe noch Zeit zum Sitzen
und Segnen.
Eine Arbeitskollegin kommt vorbei. Wir
plaudern ein bißchen. Sie geht dann weiter und ich segne ihr
hinterher.
Den kenn ich auch! Den kenn ich!
Flüchtig, vor Jahrzehnten. Aus Selzthal. Er ist alt geworden.
Schade, daß ich mich nicht offen
segnen traue, sondern nur heimlich. Aber es ist besser so. Nur laß
ich mich dann leicht ablenken.
Mein Freund Joseph T. fällt mir ein.
Mit ihm habe ich vor vielen Jahren die Plaza Mayor in Salamanca voll
ausgesegnet. Wir sind gleichzeitig jeder eine Diagonale abgegangen,
mit segnenden Händen – die beiden Diagonalen – ein einziges
segnendes Kreuzzeichen. Wir haben damals alles gesegnet. Alles, was
auf dem Tisch war, alles um uns herum, alles auf diesem großen
Platz, den Platz selber. Auch die Regentropfen. Aber da sind wir
nicht nachgekommen mit dem Segnen.
Auch jetzt komme ich nicht nach. Es
kommen so viele Leute vorbei, die Segen brauchen könnten. Manchmal
fällt es mir leichter, manchmal fällt es mir schwerer. Immer wieder
schaue ich auf die Uhr.
Ich werde jetzt zur kleineren Platane,
die aber auch groß ist, hinübergehen und sie mit Handschlag
begrüßen. Vorher verabschiede ich mich noch von der großen und von
der Birke.
(Für die Passagen vom rollenden Kopf
habe ich mir das Märchen „Der dicke fette Pfannkuchen“ aus
Constanze Schargan, „Märchen für die Kleinsten“, Coppenrath
Verlag 2003, als Vorlage genommen und teilweise wörtlich zitiert, vor allem das Wort "kantapper".)
ansonsten:
©Peter
Alois Rumpf April 2015 peteraloisrumpf@gmail.com